Zu der Zeit, da der Oberstleutnant Hubert Fabiani nach erfolgter Pensionierung aus seinem letzten Standort Wien – nicht wie die meisten seiner Berufs- und Schicksalsgenossen nach Graz, sondern – nach Salzburg übersiedelte, war Therese eben sechzehn Jahre alt geworden. Es war im Frühling, die Fenster des Hauses, in dem die Familie Wohnung nahm, sahen über die Dächer weg den bayrischen Bergen zu; und Tag für Tag, beim Frühstück schon, pries es der Oberstleutnant vor Frau und Kindern als einen besonderen Glücksfall, daß es ihm in noch rüstigen Jahren, mit kaum sechzig, gegönnt war, erlöst von Dienstespflichten, dem Dunst und der Dummheit der Großstadt entronnen, sich nach Herzenslust dem seit Jugendtagen ersehnten Genuß der Natur hingeben zu dürfen. Therese und manchmal auch ihren um drei Jahre älteren Bruder Karl nahm er gern auf kleine Fußwanderungen mit; die Mutter blieb daheim, mehr noch als früher ins Lesen von Romanen verloren, um das Hauswesen wenig bekümmert, was schon in Komorn, Lemberg und Wien Anlaß zu manchem Verdruß gegeben, und hatte bald wieder, man wußte nicht wie, zur Kaffeestunde zwei- oder dreimal die Woche einen Kreis von schwatzenden Weibern um sich versammelt, Frauen oder Witwen von Offizieren und Beamten, die ihr den Klatsch der kleinen Stadt über die Schwelle brachten. Der Oberstleutnant, wenn er zufällig daheim war, zog sich dann stets in sein Zimmer zurück, und beim Abendessen ließ er es an hämischen Bemerkungen über die Gesellschaften seiner Gattin nicht fehlen, die diese mit unklaren Anspielungen auf gewisse gesellige Vergnügungen des Gatten in früherer Zeit zu erwidern pflegte. Oft geschah es dann, daß der Oberstleutnant sich stumm erhob und die Wohnung verließ, um erst in später Nachtstunde mit dumpf über die Treppe hallenden Schritten zurückzukehren. Wenn er gegangen war, pflegte die Mutter zu den Kindern in dunkler Weise von den Enttäuschungen zu reden, die zwar keinem Menschen erspart blieben, insbesondere aber vom Dulderlos der[625] Frauen; erzählte wohl auch, beispielsweise, mancherlei aus den Büchern, die sie eben gelesen; doch all das in so verworrener Art, daß man glauben konnte, sie menge den Inhalt verschiedener Romane durcheinander, – und Therese stand nicht an, eine solche Vermutung gelegentlich scherzhaft auszusprechen. Dann schalt die Mutter sie vorlaut, wandte sich gekränkt dem Sohne zu und streichelte ihm wie zur Belohnung für sein geduldig-gläubiges Zuhören Haar und Wangen, ohne zu bemerken, wie er verschlagen zu der in Ungnade gefallenen Schwester hinüberblinzelte. Therese aber nahm ihre Handarbeit wieder vor oder setzte sich an das immer verstimmte Pianino, um die Studien weiter zu treiben, die sie in Lemberg begonnen und in der Großstadt unter der Leitung einer billigen Klavierlehrerin fortgeführt hatte.
Die Spaziergänge mit dem Vater nahmen noch vor Einbruch des Herbstes ein nicht ganz unerwartetes Ende. Schon geraume Zeit hindurch hatte Therese gemerkt, daß der Vater die Wanderungen eigentlich nur fortsetzte, um sich und seine Sehnsucht nicht Lügen zu strafen. Stumm beinahe, jedenfalls ohne die Ausrufe des Entzückens, in die die Kinder früher hatten einstimmen müssen, wurde der vorgesetzte Weg zurückgelegt, und erst zu Hause, im Angesicht der Gattin, versuchte der Oberstleutnant wie in einem Frage- und Antwortspiel den Kindern die einzelnen Momente des eben erledigten Spaziergangs mit verspäteter Begeisterung zurückzurufen. Aber auch das nahm bald ein Ende; der Touristenanzug, den der Oberstleutnant seit seiner Pensionierung alltäglich getragen, wurde in den Schrank gehängt, und ein dunkler Straßenanzug trat an seine Stelle.
Eines Morgens aber erschien Fabiani zum Frühstück plötzlich wieder in Uniform, mit so strengem und abweisendem Blick, daß sogar die Mutter jede Bemerkung über diese plötzliche Veränderung lieber unterließ. Wenige Tage darauf langte aus Wien eine Büchersendung an die Adresse des Oberstleutnants, eine andere aus Leipzig folgte, ein Salzburger Antiquar sandte gleichfalls ein Paket; und von nun an verbrachte der alte Militär viele Stunden an seinem Schreibtisch, vorerst ohne irgendwen in die Natur seiner Arbeit einzuweihen; – bis er eines Tages mit geheimnisvoller Miene Therese in sein Zimmer rief und ihr aus einem sorgfältig geschriebenen, geradezu kalligraphierten Manuskript mit eintöniger, heller Kommandostimme eine vergleichende strategische Abhandlung über die bedeutendsten Schlachten der Neuzeit vorzulesen begann. Therese hatte Mühe, dem trockenen und[626] ermüdenden Vortrag mit Aufmerksamkeit oder auch nur mit Verständnis zu folgen; doch da ihr der Vater seit einiger Zeit ein stetig wachsendes Mitleid erregte, versuchte sie, zuhörend, ihren schläfrigen Augen einen Schimmer der Teilnahme zu verleihen, und als der Vater endlich für heute unterbrach, küßte sie ihn wie mit gerührtem Dank auf die Stirn. Noch drei Abende in gleicher Art folgten, ehe der Oberstleutnant mit seiner Vorlesung zu Ende war; dann trug er persönlich das Manuskript auf die Post. Von nun an verbrachte er seine Zeit in verschiedenen Gast- und Kaffeehäusern. Er hatte in der Stadt mancherlei Bekanntschaften angeknüpft, meist mit Männern, die die Arbeit ihres Lebens hinter sich und ihren Beruf aufgegeben hatten: pensionierte Beamte, gewesene Advokaten, auch ein Schauspieler war darunter, der an dem Theater der Stadt alt geworden war und nun Deklamationsunterricht erteilte, wenn es ihm gelang, einen Schüler zu finden. Aus dem früher ziemlich verschlossenen Oberstleutnant Fabiani wurde in diesen Wochen ein gesprächiger, ja lärmender Tischgenosse, der über politische und soziale Zustände in einer Weise herzog, die man bei einem ehemaligen Offizier immerhin sonderbar finden durfte. Aber da er dann wieder einzulenken pflegte, als wäre eigentlich alles nur Spaß gewesen, und sogar ein höherer Polizeibeamter, der zuweilen an der Unterhaltung teilnahm, vergnügt mitlachte, ließ man ihn gewähren.
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