10

[638] Abend für Abend wandelten sie nun draußen vor der Stadt auf wenig begangenen Feldwegen und plauderten von einer Zukunft, an die Therese nicht glaubte. Tagsüber daheim stickte sie, bildete sich weiter im Französischen aus, übte Klavier, las in dem und jenem Buch, die meisten Stunden aber verbrachte sie trag, beinahe gedankenlos, und sah zum Fenster hinaus. So sehnsüchtig sie den Abend und Alfreds Erscheinen erwartete: – meist schon nach der ersten Viertelstunde ihres Beisammenseins verspürte sie Regungen der Langeweile. Und als er wieder einmal auf einem Spaziergang von seiner immer näher heranrückenden Abreise sprach, merkte sie mit leisem Schreck, daß sie diesen Tag eher herbeiwünschte. Er fühlte, daß der Gedanke einer baldigen Trennung sie nicht besonders schmerzlich berührte, gab ihr seine Empfindung zu verstehen, sie erwiderte ausweichend, ungeduldig; der erste kleine Streit hob zwischen ihnen an, stumm schritten sie auf dem Heimweg nebeneinander her und schieden ohne Kuß.

In ihrem Zimmer war ihr öd und schwer ums Herz. Sie saß im Dunkel auf ihrem Bett und sah durchs offene Fenster in die schwüle, schwarze Nacht hinaus. Dort drüben, nicht weit, unter dem gleichen Himmel, wußte sie das traurige Gebäude, wo ihr wahnsinniger Vater seinem vielleicht noch fernen Ende entgegensiechte. Im Nebenzimmer, ihr fremder von Tag zu Tag, mit ruheloser Feder, auch einem Wahn anheimgefallen, wachte die Mutter in den grauen Morgen. Keine Freundin suchte Therese auf, auch Klara längst nicht mehr; und Alfred war ihr nichts, weniger als nichts, denn er wußte nichts von ihr. Er war edel, er war rein, und sie spürte dunkel, daß sie es nicht war, nicht einmal sein wollte. Sie verspottete ihn innerlich, daß er sich ihr gegenüber[638] nicht gewandter und verwegener anstellte, und wußte doch, daß sie sich keinen Versuch solcher Art hätte gefallen lassen. Sie dachte anderer junger Leute, die ihr flüchtig oder gar nur vom Sehen bekannt waren, und gestand sich ein, daß ihr mancher von diesen besser gefiel als Alfred, ja, daß sie sich sonderbarerweise manchem sogar vertrauter, näher, verwandter fühlte als ihm; und so ward sie sich bewußt, daß zuweilen ein Blick, rasch auf der Straße gewechselt, zwei Menschen verschiedenen Geschlechts enger aneinander zu knüpfen vermochte als ein stundenlanges, inniges, von Zukunftsgedanken durchwebtes Zusammensein. Mit einem angenehmen Schauer erinnerte sie sich des jungen Offiziers, der an einem Sommerabend in den Anlagen des Mönchsbergs mit einem Kameraden, die Kappe in der Hand, an ihr vorbeigegangen war. Seine Augen waren den ihren begegnet und hatten aufgeglüht, er war weitergegangen und hatte sich nicht einmal nach ihr umgewandt; – und doch war ihr in diesem Augenblick, als wüßte der mehr, viel mehr von ihr, als Alfred wußte, der sich mit ihr verlobt glaubte, sie viele Male geküßt hatte und mit ganzer Seele an ihr hing. Hier war irgend etwas nicht in Ordnung, das fühlte sie. Aber ihre Schuld war es nicht.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 638-639.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Therese
Therese: Chronik eines Frauenlebens
Therese: Chronik eines Frauenlebens Roman
Therese: Chronik eines Frauenlebens Roman
Therese
Romane. Der Weg ins Freie / Therese / Frau Berta Garlan