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[862] Wenige Abende darauf zu später Stunde tönte die Klingel. Therese blieb das Herz stehen. Ganz leise schlich sie zur Türe hin und sah durchs Guckloch. Es war nicht ihr Sohn. Eine noch junge Frauensperson stand vor der Türe, die Therese nicht gleich erkannte. »Wer ist da?« fragte sie zögernd. Eine helle, aber etwas heisere Stimme antwortete: »Eine gute, alte Bekannte. Machen S' nur auf, Fräul'n Therese. Die Agnes bin ich, die Agnes Leutner.«

Agnes? Was wollte die? Was mochte die ihr bringen? Wohl irgendeine Nachricht von Franz. Und sie öffnete.

Ganz beschneit trat Agnes ein und schüttelte im Vorraum die Flocken von sich ab. »Guten Abend, Fräulein Theres'.« – »Wollen Sie nicht weiter spazieren?« – »Aber sagen S' mir doch Du, Fräul'n Therese, wie früher.«

Sie folgte Theresen ins Zimmer, ihr irrender Blick fiel vor allem auf den Tisch mit den blau eingeschlagenen Heften und Büchern. Therese betrachtete sie. Oh, man konnte keinen Augenblick in Zweifel sein, was für eine Art von Frauenzimmer man da vor sich hatte. Das Gesicht geschminkt, geradezu angestrichen, unter dem violetten Filzhut mit der billigen Straußenfeder, die blond gefärbten, gebrannten Locken in die Stirn fallend, große falsche Brillanten im Ohr, eine imitierte, ausgefranste Astrachanjacke mit gleichem Muff – so stand sie da, frech und befangen zugleich.

»Nehmen Sie Platz, Fräulein Agnes.« Agnes hatte den musternden, aburteilenden Blick Theresens wohl bemerkt, und in etwas höhnischem Ton, sich entschuldigend, sagte sie: »Also, ich hätte mir natürlich nicht erlaubt – wenn ich nicht mit einer Post zu Ihnen käme.«

»Vom – Franz?«

»Bin so frei.« Und sie setzte sich. »Nämlich, er liegt im Inquisitenspital.«

»Um Gottes Willen«, rief Therese, und sie wußte plötzlich, daß es ihr Sohn war, der im Spital lag, vielleicht krank auf den Tod.

Agnes beruhigte sie. »Na, es is nicht g'fährlich, Fräul'n Therese, er wird schon wieder g'sund werden, noch vor der Verhandlung. Er is nämlich noch in Untersuchung. Übrigens werden s' ihm diesmal nix nachweisen können, grad bei der G'schicht war er nicht dabei. Die Polizei erwischt ja meistens die Unrichtigen.«

»Was fehlt ihm?«[863]

»Aber nix Besonders, eine Kleinigkeit.« Sie trällerte: »Das ist die Liebe ja ganz allein ...«, und mit einem frechen Lachen. »Na, es dauert halt eine Weil'. Und später muß man noch achtgeben. Schon wegen der andern. Als wenn die andern achtgeben täten! Na, ich bin auch wieder g'sund worden. Und mich hat's ordentlich g'habt! Sechs Wochen bin ich im Spital gelegen.«

Therese wurde abwechselnd blaß und rot. Diesem Frauenzimmer gegenüber erschien sie sich wie ein junges Mädchen. Sie hatte nur den einen Wunsch, die Person möglichst bald wieder draußen zu haben. Und weit von ihr abrückend, fragte sie: »Was haben Sie mir von Franz zu bestellen?«

Agnes, sichtlich gereizt, in einem äffenden Hochdeutsch: »Was ich von ihm zu bestellen habe?! Wird wohl nicht so schwer zu erraten sein. Oder meinen S' vielleicht, Fräul'n Theres', sie geben denen Inkulpaten genug zu essen im Spital? Da muß einer bereits tuberkulös sein oder so was, daß sie ihm was Ordentliches geben. A Geld brauch' er halt zur Aufbesserung der Kost. Das muß doch eine Mutter einsehn.«

»Warum hat er mir nicht geschrieben? Wenn er krank ist ... Ich hätt's mir schon irgendwie verschafft.«

»Er wird schon wissen, warum er nicht geschrieben hat.«

»Ich hab' ihm immer noch ausgeholfen, wenn ich nur selber ...« Sie hielt inne. War es nicht beschämend, daß sie sich vor dieser Person gewissermaßen zu rechtfertigen suchte?

»Na, nix für ungut, ich kann mir ja denken, daß Sie's auch nicht grad sehr dick haben, Fräul'n Therese. Es geht einem halt bald besser, bald schlechter. Aber Sie schau'n ja noch ganz gut aus. Es kommt schon wieder einmal wer, der was auslaßt.«

Wieder stieg Theresen das Blut in die Stirn. Diese Frauensperson – sprach sie zu ihr nicht gerade so, als wäre sie ihresgleichen? Oh, wie mußte Franz über sie zu Agnes und zu andern Leuten auch geredet haben, der Sohn über die Mutter! Wie mußte er sie sehen! Sie suchte nach einer Erwiderung und fand keine. Endlich, hilflos, stockend beinahe, sagte sie: »Ich – – ich gebe Stunden.«

»Aber freilich«, erwiderte Agnes. Und mit einem verächtlichen Blick auf die Bücher und Hefte: »Man sieht's ja. Das ist halt ein Glück, wenn man eine Bildung genossen hat. Ich möcht' mir auch lieber meine Herren immer aussuchen können.«

Therese erhob sich. »Gehen Sie. Ich werde dem Franz selber bringen, was er braucht.«[864]

Auch Agnes stand auf, langsam, wie schmollend. Aber sie schien nun selbst zu spüren, daß sie einen unrichtigen Ton angeschlagen, vielleicht auch lag ihr daran, nicht mit leeren Händen zu Franz zurückzukehren. Und so sagte sie: »No ja, wenn S' einmal selber zu ihm ins Spital wollen – aber darauf hat er wahrscheinlich nicht gerechnet. Und Sie haben doch auch selber gar nicht dran gedacht.«

»Ich hab' nicht gewußt, daß er im Spital liegt.«

»Ich ja auch nicht. Es war der reine Zufall. Ich hab' einen alten Freund von mir dort besucht, hab' ihm was zu essen mitgebracht. Ja, unsereiner muß sich auch allerlei absparen und verdient sich's schwerer, das können S' mir glauben, Fräulein Theres', als mit Stundengeben. Na, und Sie können sich denken, Fräul'n Theres', es war eine Überraschung, wie ich da den Franz liegen seh', vis-à-vis von meinem Freund. Und er hat sich auch g'freut. Alte Liebe rostet nicht. Na, und wie dann ein Wort das andre gegeben hat, hab' ich ihn gefragt, ob er nicht was braucht von draußen, und da hat er gesagt: Wenn du vielleicht zu meiner Mutter hinschauen möcht'st und sie mir vielleicht ein paar Gulden schicken tat zur Aufbesserung meiner Kost. Warum nicht, hab' ich ihm g'sagt, deine Mutter wird sich doch auch noch an mich erinnern. Und es is ihr vielleicht lieber, sie gibt mir was mit, als daß sie da herkommt ins Inquisitenspital. Das ist ja schenant für Leute, die's nicht gewohnt sind.«

Therese hatte zufällig noch ein paar Gulden in ihrer Geldbörse.

»Da, nehmen Sie. Leider hab' ich nicht mehr.« Sie merkte, daß Agnes einen Blick zum Schrank hinwarf, auch darüber also war sie durch Franz unterrichtet. – Und mit zuckenden Mundwinkeln fügte sie hinzu: »Da drin hab' ich auch nichts mehr, vielleicht, daß ich zu Weihnachten – aber da komm' ich schon selber.«

»Zu Weihnachten, da is er vielleicht schon heraußen. Ich sag' Ihnen ja, Fräulein Therese, sie werden ihm diesmal nichts beweisen können. Also, ich dank' vielmals in seinem Namen. Und – wir sind ja wieder gut, nicht wahr? Hätten S' nicht vielleicht ein paar Zigaretten für ihn?«

Ich hab' keine, wollte sie sagen, aber da fiel ihr ein, daß noch eine angebrochene Schachtel da war von Wohlscheins Zeiten her. Sie verschwand im Nebenraum für ein paar Sekunden und brachte Agnes eine Handvoll Zigaretten mit.

»Das wird den Franz besonders freuen«, sagte Agnes und schob sie in den Muff. »Und eine darf ich selber rauchen, was?« –[865] Therese erwiderte nichts, aber sie reichte ihr die Hand zum Abschied. Sie spürte plötzlich keinen Groll mehr gegen sie und auch keine Überheblichkeit, Es war ja wirklich kein so ungeheurer Unterschied zwischen Agnes und ihr. Hatte sie sich Herrn Wohlschein am Ende nicht auch verkauft?

»Grüßen Sie ihn von mir, Agnes«, sagte sie milde.

Im Stiegenhaus war es schon dunkel, Therese begleitete Agnes hinab; diese, ehe der Hausbesorger aufzuschließen kam, stellte den Kragen ihrer Astrachanjacke hoch, und Therese fühlte, daß es aus Rücksicht für sie geschah.

Lange noch an diesem Abend saß sie wach. Dies hatte sie nun auch erlebt. War es am Ende etwas so Merkwürdiges? Sie hatte nun einmal einen Sohn, der ein Nichtsnutz war, sich mit Strolchen und Dirnen herumtrieb, öfters von der Polizei gesucht, manchmal auch gefunden wurde und der nun mit einem unsauberen Leiden im Inquisitenspital lag. Sie hätte sich wohl endlich darein finden können – und doch, er war ihr Sohn. Immer wieder, sie mochte sich dagegen wehren, wie sie wollte, – in ihrem eigenen Herzen schwang Mitleid, schwang Mitschuld mit, wenn er Übles litt und Übles tat. Mitschuld, ja, das war es. Seltsam freilich, daß sie in solchen Augenblicken immer nur ihrer Schuld dachte, als wäre nur sie, die ihn geboren, mitverantwortlich für alles, was er tat, und als hätte der Mann, der ihn gezeugt und sich dann ins Dunkel seines Daseins davongeschlichen, überhaupt nichts mit ihm zu tun. Nun ja, für Kasimir Tobisch war die Umarmung, in der das Kind zum irdischen Sein erweckt worden war, unter vielen eine – nicht beglückender und nicht folgenschwerer als jene andern. Er wußte ja nicht, daß der Mensch, den er in die Welt gesetzt, ein Lump war, wußte ja überhaupt nicht, daß er ein Kind hatte. Und hätte er es zufällig erfahren, was wäre ihm daran gelegen – was hätte er davon verstanden? Was hatte der verlorene Junge, der nun im Inquisitenspital lag, mit ihm, dem alternden Mann, zu tun, der nach dunklen, törichten, schwindelhaften zwanzig Jahren draußen in einem Tingeltangel die Baßgeige spielte und dem Klavierspieler das Bier wegtrank? Wie sollte er Zusammenhang und Schicksal spüren, da es doch sogar ihr Mühe verursachte, sich als Wirklichkeit vorzustellen, daß aus einem flüchtigen Moment der Lust ein Mensch hervorgegangen war, der ihr Sohn war. Jene Gemeinsamkeit eines längst vergangenen Augenblicks und diese Gemeinsamkeit von heute – wie war es möglich, sie überhaupt mit dem gleichen Wort zu benennen?[866] Und doch, was ihr durch Jahre hindurch völlig gleichgültig gewesen, nun nahm es plötzlich eine ungeahnte Bedeutung und Wichtigkeit an; als müsse von dem Augenblick an, da auch Kasimir von der Existenz seines Sohnes wüßte, ihr eigenes Leben eine neue Form, einen neuen Inhalt, einen neuen Sinn erhalten. Es war ihr zumute wie einer, die am Bette eines Schlafenden stünde, ungewiß, ob sie ihm nur leise zum Abschied über die Stirne streichen sollte, ohne seinen Schlaf zu stören, oder ihn aufrütteln zu Wachsein und Verantwortung. Und es war ihr bewußt, daß Kasimir Tobisch in Wahrheit ein Träumender war, der gerade vom Wesentlichsten seiner eigenen Existenz nichts wußte. Weiber hatte es gewiß noch manche in seinem Dasein gegeben. Er hatte vielleicht auch noch andere Kinder, wußte wohl auch von dem einen oder dem andern, denn nicht immer mochte es ihm geglückt sein, sich so rechtzeitig davonzustehlen; – aber daß eine plötzlich vor ihm stand, die er vergessen, bis auf Gesicht und Blick, vor ihm stand, zwanzig Jahre nachdem er sie verlassen, und ihm sagte: Kasimir, es ist ein Kind da von dir und mir – das wäre gewiß etwas, was ihm noch niemals begegnet war. Und bildhaft beinahe sah sie es vor sich, wie sie ihn aus dem Schlaf weckte, seine Hand faßte, durch zahllose Straßen geleitete, die zugleich die verwirrten Wege seines Lebens vorstellten, wie sei mit ihm an ein Tor klopfte, das Tor des Inquisitenspitals, und ihn weiterführte ans Bett eines kranken Jungen, der sein Sohn war; wie er die Augen auftat, staunend und weit, gleichsam zu verstehen begann, am Bett seines unglücklichen Sohnes hinsank, sich nach ihr zurückwandte, ihre Hand ergriff und flüsterte: Verzeih mir, Therese.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 862-867.
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