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[873] Der kleine Betrag, den Therese nach dem Besuch der Agnes Leutner an Franz geschickt hatte, kam an sie zurück. Der Adressat war aus dem Inquisitenspital entlassen worden und für die[873] Post unauffindbar. So hatte man ihn also wirklich freigelassen? Es war Theresen nicht sehr behaglich, das zu denken. Und nicht zum erstenmal erwog sie, ob es nicht geraten wäre, die Wohnung zu wechseln. Aber was sollte das helfen? Er würde sie ja doch zu finden wissen. Nur leider, es fragte sich, ob sie überhaupt in der Lage war, die bisherige Wohnung weiter zu behalten. Der Zins war ihr allmählich zu hoch geworden, im Februar war er wieder fällig, und sie wußte kaum, wie sie ihn dann beisammen haben sollte. Der Kurs hatte sich aufgelöst, es mochte wohl daran liegen, daß die Eltern der Schülerinnen mit den Fortschritten nicht mehr ganz zufrieden waren. Nun, was sie leistete, sie gab sich darüber keiner Täuschung hin, war niemals sehr erheblich gewesen. Nur ihre Gewissenhaftigkeit, ihre freundliche Art, mit den Schülern umzugehen, hatten ihr geholfen, die Konkurrenz mit Lehrkräften besserer Art aufzunehmen. Wie sehr sie in den letzten Monaten nachgelassen, fühlte sie selbst.

Doch knapp vor dem Fälligkeitstermin erhielt sie durch den Notar die Verständigung, daß aus der mütterlichen Erbschaft ein kleiner Betrag, aus dem Erlös des Mobiliars gewonnen, für sie bereit liege. Bis zum Herbst durfte sie sich nun leidlich gesichert fühlen. Das hob ihre Stimmung so sehr, daß sie mit neuer Kraft ihre Bemühungen aufzunehmen vermochte, und so fanden sich im März zwei neue, wenn auch recht schlecht bezahlte Lektionen in der Vorstadt für sie.

Und wieder einmal kam eine Nachricht von Franz. Ein ältliches Frauenzimmer brachte den Brief: er habe eine Stelle in Aussicht, die Mutter solle ihm ein letztes Mal beistehen. Er nannte eine bestimmte Summe: hundertfünfzig Gulden. Die Forderung erschreckte sie. Er mußte offenbar wissen, daß sie etwas geerbt hatte. Wortlos sandte sie ihm den fünften Teil und beeilte sich tags darauf, was ihr noch blieb, etwa fünfhundert Gulden, in die Sparkasse zu tragen. Sie atmete auf, nachdem das geschehen war.

Der Frühling war da. Und mit den ersten schmeichlerisch lauen Tagen eine wohlbekannte Mattigkeit, zugleich eine Schwermut von tieferer Art, als sie sie jemals gekannt hatte. Alles, was ihr sonst eine gewisse Erleichterung zu bringen pflegte, machte sie diesmal nur noch trauriger, kleine Spaziergänge, auch ein Theaterbesuch, den sie sich einmal vergönnte. Am traurigsten aber machte sie ein Brief von Thilda, der als verspätete Antwort einlangte auf ihre eigene Mitteilung, daß sie für Thilda des Vaters Grab mit Blumen geschmückt, und der die Andeutung enthielt,[874] daß sie sich in anderen Umständen befände. Therese fühlte nur das eine: wie leer und hoffnungslos ihr eigenes Leben war. Und gerade in diesen Tagen war es, nach langen Monaten, daß sich unbestimmt, ohne eigentlichen Wunsch, doch seltsam quälend, wieder ihre Sinne regten. Sie hatte Träume von lüsterner Art, häßliche und schöne, aber es waren immer Unbekannte, ja Männer ohne ein bestimmtes Gesicht, in deren Umarmungen sie sich träumte. Ein einziges Mal nur war es ihr, als wandelte sie mit Richard durch die Donauauen, wo sie zuerst die Seine gewesen war. Gerade dieser Traum war völlig unsinnlich, doch sie fühlte sich wie eingehüllt von einer Zärtlichkeit, die sie gerade von ihm ersehnt hatte und die ihr niemals von ihm geworden war; eine schmerzlich-unstillbare Sehnsucht und die Erkenntnis unendlicher Einsamkeit blieben ihr zurück.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 873-875.
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