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[658] Der Winter war spät, doch gleich mit heftigen Schneefällen hereingebrochen; die Stadt, die ganze Landschaft hüllte sich in wohltuend mildes Weiß; und als infolge von Verwehungen Verkehrsstörungen auf der Eisenbahnstrecke eintraten, überkam Therese das beruhigende Gefühl eines umfriedeten und gesicherten Daseins, wodurch sie erst inne ward, daß unablässig auf dem Grund ihrer Seele die Angst vor einem plötzlichen Eintreffen Alfreds geschlummert hatte.

Die Schneefälle hörten auf, sonnige Wintertage kamen, und Therese unternahm mit Max an Sonntagen Schlittenpartien ins Gebirgsland, nach Berchtesgaden und zum Königssee; anfangs zu zweit, dann auch in Gesellschaft von anderen Offizieren und deren Freundinnen, die fast alle dem Theater angehörten; und Max ließ es ohne Eifersucht geschehen, wenn in rauchigen Wirtshausstuben bei dampfendem Punsch von den Kameraden auch Theresen gegenüber die Grenzen einer noch erlaubten Galanterie nicht eben streng eingehalten wurden.

Die Nacht vom ersten zum zweiten Weihnachtsfeiertag verbrachte Therese mit Max in einem Gasthof am Königssee. Und als am nächsten Mittag der Schlitten sie vor ihrem Wohnhaus abgesetzt hatte und sie doch in einiger Besorgnis vor dem Unwillen der Mutter die Treppe hinaufgegangen war, überreichte ihr jene wortlos mit vorwurfsvoller Miene einen eingeschriebenen Expreßbrief, der, wie sie strafend bemerkte, schon am Abend vorher[658] eingelangt sei. Therese erkannte Alfreds Schrift. Noch ohne zu öffnen, wußte sie, was der Brief enthielt, und so las sie ihn ohne sonderliche Verwunderung. Er schäme sich in tiefster Seele, schrieb Alfred, jemals seine Gefühle an sie verschwendet zu haben, und wünsche von Herzen, sie möge an der Seite des Herrn Leutnant das Glück finden, das er, Alfred, ihr zu geben leider nicht imstande gewesen sei. Der verhältnismäßig ruhige Ton des Schreibens beschämte Therese zuerst; – doch nach anfänglicher Niedergeschlagenheit atmete sie auf und war froh, sich weiterhin auch nicht den geringsten Zwang mehr auferlegen zu müssen. Sie war nun mit ihrem Liebhaber überall, auch im Theater und auf der Eisbahn, öffentlich zu sehen und ließ sich endlich sogar gefallen, was sie bisher mit Entschiedenheit, ja beinahe gekränkt zurückgewiesen, daß ihr Max kleine Geschenke machte, darunter ein kleines Kettchen mit einem Medaillon, das sie von nun an stets um den Hals tragen mußte, ein halbes Dutzend Taschentücher und ein Paar Hausschuhe, rotledern mit weißem Schwan besetzt, das Zwillingspaar zu einem andern, das die Freundin des Oberleutnants bei Gelegenheit auf der Bühne getragen hatte.

Kurz nach Neujahr war es, daß Therese vor dem Hause des Leutnants Klara begegnete, ihrer alten Freundin, die sich eben auf dem Heimweg von der Eisbahn befand. Sie begrüßten einander, und Klara, als hätte sie nur die Gelegenheit abgewartet, begann Theresen lebhafte Vorwürfe zu machen, nicht etwa wegen ihres Lebenswandels, sondern wegen ihrer Unbedachtsamkeit. »Was hast du davon,« sagte sie, »daß man soviel von dir spricht. Schau' mich an. Ich halt' schon beim Vierten, und kein Mensch hat eine Ahnung. Und wenn du's überall herum erzähltest, – kein Mensch möcht's dir glauben.« Und lachend versprach sie Theresen, sie in den nächsten Tagen zu besuchen und ausführlicher von ihren Abenteuern zu berichten, wonach sie eine wahre Sehnsucht verspüre. Therese sah der Davoneilenden mit vielfach gemischten Gefühlen nach; von allen das lebhafteste war dies: völlig allein zu sein. Immer kam diese Erkenntnis über sie, wenn irgendwer sich ihr gegenüber besonders aufgeschlossen und vertrauensvoll zu geben vermeint hatte.

Alfreds Brief – so sehr er ein Abschiedsbrief geschienen – blieb nicht der letzte. Ein paar Wochen hatte er geschwiegen, nun aber kamen plötzlich Briefe in einem ganz neuen Ton; mit Vorwürfen, mit Beschimpfungen; er gebrauchte Worte, von denen Therese nicht geahnt, daß ein Mensch wie Alfred sie jemals zu Papier[659] bringen könnte, und die ihr die Schamröte ins Gesicht trieben. Sie nahm sich vor, die nächsten Briefe ungelesen zu verbrennen, doch wenn ein paar Tage lang keiner kam, geriet sie in eine eigentümliche Unruhe und war erst wieder beruhigt, wenn ein neuer eintraf. Sie selbst erwiderte kein Wort. Nachdem sie ungefähr ein Dutzend solcher Briefe erhalten, setzten sie vollkommen aus. Hingegen stand in einem der sehr seltenen Berichte, die der Bruder nach Hause sandte, von einer Begegnung mit Alfred zu lesen, den er neulich wohlgelaunt, vortrefflich aussehend und sehr elegant gekleidet (was er ausdrücklich erwähnte) in der Stadt getroffen haben wollte. Daraufhin erschienen Theresen jene zornerfüllten Briefe Alfreds als komödiantisch und verlogen, sie steckte eine Anzahl in den Ofen und sah zu, wie sie langsam zu Asche verbrannten.

Klaras Besuch ließ ziemlich lange auf sich warten. Erst an einem späten Februartage, als der Schnee zu schmelzen begann und durch das mittags offenstehende Fenster die ersten Frühlingslüfte in Theresens Zimmer wehten, trat die Freundin bei Theresen ein; – aber statt, wie versprochen, einen Bericht ihrer Abenteuer zu liefern, teilte sie mit, daß sie mit einem Ingenieur verlobt sei, daß ihr Geplapper von neulich nur kindische Großsprecherei gewesen sei, aus Ärger über das zögernde Verhalten des Bräutigams, und daß sie darauf rechne, Therese werde niemals etwas davon verlauten lassen. Dann schwärmte sie von ihrem Verlobten und von dem stillen Glück, das ihr in dem Frieden des kleinen Gebirgsdorfs bevorstehe, wohin er als Leiter eines Eisenbahnbaues berufen sei. Sie blieb kaum eine Viertelstunde, umarmte Therese flüchtig zum Abschied und lud sie nicht zur Hochzeit ein.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 658-660.
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