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[670] Die Witwe Kausik, die sich als Bedienerin ihr kärgliches Brot verdiente, übrigens eine gutmütige, wenn auch oft übellaunige Person, pflegte um fünf Uhr früh aufzustehen. Bald darauf erhoben sich auch die Kinder, und die öde Unruhe, die den Tag in der armseligen Stube einleitete, trieb auch Therese aus dem Bett. In einer weißen, an den Rändern gesprungenen, unförmigen Tasse bekam sie ihren Frühstückskaffee, später begleitete sie die Kinder der Frau Kausik, einen Buben und ein Mädchen von neun und acht Jahren, die ihr sehr anhänglich waren, zur Schule, und eine Stunde drauf, nach einem Spaziergang durch den Stadtpark, dessen frühsommerliches Blühen ihre Stimmung ein wenig aufheiterte, sprach sie in einem Stellungsbureau vor, wo sie als eine Person, die es nirgends lange aushielt, ohne Freundlichkeit behandelt wurde. Immerhin gab man ihr wieder einige Adressen an, und nach einigen mißglückten Versuchen stieg sie endlich um die Mittagsstunde mit recht herabgestimmten Hoffnungen die Treppe eines vornehmen Ringstraßenhauses hinan, wo für zwei Mädchen von dreizehn und elf Jahren eine Erzieherin gesucht wurde. Die Frau des Hauses, hübsch und ein wenig geschminkt, schickte sich eben zum Fortgehen an und schien zuerst ungeduldig, als sie sich aufgehalten sah. Doch ließ sie Therese eintreten und verlangte ihre Zeugnisse zu sehen. Einer plötzlichen Eingebung folgend erwiderte Therese, daß sie noch keine vorweisen könne, da sie zum erstenmal eine Stellung anzunehmen gedenke. Zuerst von ablehender Haltung, schien die Dame im[670] weiteren Verlauf des Gesprächs an Theresen Gefallen zu finden, insbesondere von dem Umstand angenehm berührt zu sein, daß die Bewerberin aus einer Offiziersfamilie zu stammen erklärte, und beschied sie schließlich für den nächsten Tag für eine Stunde her, zu welcher die beiden Mädchen aus der Schule schon zurück sein würden. Im Hausflur las Therese auf einer schwarzen Tafel unter Glas mit goldenen Buchstaben: Dr. Gustav Eppich, Hof- und Gerichtsadvokat, Verteidiger in Strafsachen.

Am nächsten Tag um ein Uhr trat Therese in den Salon, wo sie die Dame des Hauses in Gesellschaft ihrer Töchter fand, und Therese glaubte an dem freundlichen Benehmen der beiden wohlerzogenen Kinder zu merken, daß sie von der Mutter günstig gestimmt worden waren. Bald darauf trat auch der Herr des Hauses ein; im Ton eines leichten Vorwurfs bemerkte er, daß er die Kanzlei früher verlassen habe als sonst; auch er schien bereits für Therese voreingenommen, insbesondere ihre Abstammung aus einer Offiziersfamilie hatte auch auf ihn ihre Wirkung nicht verfehlt, und als Therese auf eine Frage erwiderte, daß ihr Vater vor ungefähr einem Jahre aus Kränkung über seine vorzeitige Pensionierung gestorben sei, lag es auf den Mienen sämtlicher Familienmitglieder wie persönliches Mitgefühl. Der ihr gebotene Monatsgehalt war zwar geringer, als sie erwartet, trotzdem konnte sie ihre Freude kaum verbergen, als sie mit dem Bedeuten entlassen wurde, am nächsten Tage ihre Stellung im Hause anzutreten.

Bei Frau Kausik fand sie einen Brief der Mutter vor mit der Mitteilung, daß der Vater gestorben sei. Sie hatte einen leisen Schauer, fast ein Schuldgefühl zu überwinden, dann erst kam sie zum Bewußtsein ihres Schmerzes. Ihrer ersten Eingebung folgend nahm sie ihren Weg zum Bruder, der von dem traurigen Ereignis noch nicht in Kenntnis gesetzt war. Er schien nicht sonderlich betroffen, ging schweigend im Zimmer hin und her, endlich blieb er vor Theresen stehen, die sich, da auf den beiden Stühlen Bücher lagen, auf den Bettrand gesetzt hatte, und küßte sie, wie einer Verpflichtung nachkommend, flüchtig auf die Stirn. »Hörst du sonst etwas von Hause?« fragte er dann. Therese berichtete das Wenige, was sie wußte, unter anderm, daß die Mutter die Wohnung verlassen, die Möbel verkauft und ein möbliertes Zimmer bezogen habe. »Die Möbel verkauft?!« wiederholte Karl mit einem sauern Lächeln. »Sie hätte uns eigentlich fragen müssen.« Und auf Theresens verwunderten Blick: »Du[671] und ich, wir sind doch gewissermaßen Mitbesitzer des Mobiliars.« – »Ja, richtig,« sagte Therese, »sie schreibt auch etwas davon, daß man uns in der nächsten Zeit einen gewissen Betrag ausbezahlen wird.« – »Einen gewissen – hm, da wird man sich wohl etwas genauer darum kümmern müssen.« Er begann wieder auf und ab zu gehen, schüttelte den Kopf, und mit einem raschen Blick auf Therese sagte er vor sich hin: »Ja, nun hat er es überstanden, unser armer Vater.« Therese wußte nichts darauf zu sagen, fühlte sich noch unbehaglicher, als sie es sich erklären konnte, und verabschiedete sich von ihrem Bruder, ohne ihm, wie sie es eigentlich gewollt, von ihrer neuen Stellung zu erzählen. Karl hielt sie nicht zurück.

Auf dem Heimweg trat sie in eine Kirche und verweilte dort längere Zeit, ohne zu beten, doch andächtig, ja inbrünstig des Verstorbenen gedenkend, der ihr nun in einer früheren Gestalt vor Augen stand, so, wie sie ihn als Kind gekannt und geliebt hatte. Sie erinnerte sich der fröhlichen, lauten Art, mit der er damals ins Zimmer zu treten, sie vom Boden, wo sie gespielt, emporzuheben, an sich zu drücken und zu herzen gepflegt hatte, und sofort gesellte sich dieser Erscheinung auch die damalige ihrer Mutter bei, hell und jugendlich, ja, so strahlend, wie sie sie in Wirklichkeit eigentlich niemals gesehen. Und wieder kam jener Schauer über sie, den sie heute schon einmal gefühlt hatte, wenn sie daran dachte, in welch kurzer Frist diese beiden Menschen sich so völlig hatten verändern können, daß sie ihr nun beide wie längst Dahingeschiedene, längst Begrabene erschienen, die mit dem eben verstorbenen, wahnsinnigen Oberstleutnant und mit der unordentlichen, boshaften und etwas unheimlichen alternden Romanschreiberin in Salzburg überhaupt nicht das geringste gemein hatten.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 670-672.
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