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[704] Als sie einmal mit ihren Zöglingen durch die innere Stadt ging, trat sie mit ihnen halb zufällig, halb absichtlich in die Stefanskirche. Seit jenem Sommertag, an dem ihr die Kunde vom Tod ihres Vaters geworden war, hatte sie kein Gotteshaus betreten. Sie standen vor einem Seitenaltar fast im Dunkel. Das jüngere Mädchen, das zu Frömmigkeit neigte, ließ sich auf die Knie nieder und schien zu beten. Das ältere ließ ihre Blicke gleichgültig und etwas gelangweilt umherschweifen. Therese fühlte ihr Herz[704] in wachsendem Vertrauen der eigenen Zukunft entgegenschwellen. Sie war niemals im eigentlichen Sinne gläubig gewesen. Als Kind und junges Mädchen hatte sie an allen vorgeschriebenen Religionsübungen mit Beflissenheit, aber ohne tieferes Ergriffensein teilgenommen. Heute zum erstenmal beugte sie aus einem inneren Drang das Haupt, faltete die Hände in wortlosem Gebet und verließ die Kirche mit dem Vorsatz, bald und oft wiederzukehren. Und wirklich ergriff sie von nun an jede Gelegenheit, entweder allein oder mit den beiden Mädchen, wenn auch nur auf Minuten, in irgendeine Kirche zu treten, die eben auf dem Wege lag, um eine kurze Andacht zu verrichten. Bald genügte ihr das nicht mehr, und am ersten Dezembersonntag erbat sie sich von Frau Eppich, die nicht verwundert schien, Urlaub zur Frühmesse. Dort, ob es nun morgendliche Ermüdung war oder Mangel an wahrer Frömmigkeit, wie sie sich selbst vorwarf – unter den vielen Menschen, trotz Orgelklang und weihevoller Zeremonie, blieb sie unberührt, und als sie in den kalten Wintermorgen hinaustrat, war ihr öder ums Herz als sonst. Mit um so tieferer Inbrunst betete sie nun jeden Abend daheim, wie sie es in verflossenen Kinderzeiten getan. Und so, wie sie damals mit selbstgefundenen Worten für sich, die Eltern, die Lehrerinnen, die Freundinnen, ja sogar für ihre Puppen die Gnade des Himmels erfleht hatte, so erflehte sie jetzt göttliche Nachsicht und Verzeihung nicht nur für sich, sondern auch für ihre Mutter, die sie als eine verirrte und verwirrte Seele erkannte, für das Kind, dessen erste Lebensregungen sie nun in ihrem Schöße zu fühlen begann, ja sogar für Kasimir, der, was er nun immer sonst sein mochte, dieses Kind gezeugt hatte und vielleicht doch später einmal zu ihm und auch zu ihr zurückfinden würde. Und einmal geschah es ihr, daß sie auch für ihres Vaters ewige Seligkeit ein Gebet emporschickte und nachher inbrünstige befreiende Tränen in ihre Kissen weinte.

Wenige Tage vor Weihnachten bat Frau Eppich Therese zu sich ins Zimmer und eröffnete ihr, daß man sie nun leider nicht länger im Hause behalten könne. Eigentlich habe sie erwartet, daß Therese selbst rechtzeitig ihren Abschied nehmen werde; da diese sich aber offenbar einer in solchen Fällen nicht seltenen Täuschung hingebe, müsse sie schon mit Rücksicht auf die beiden Mädchen darauf bestehen, daß Therese heute, spätestens morgen das Haus verlasse. »Morgen«, wiederholte Therese tonlos. Frau Eppich nickte kurz. »Man ist im Hause schon vorbereitet. Ich[705] habe erzählt, daß Ihre Mutter in Salzburg erkrankt sei.« – Leise und wie mechanisch erwiderte Therese: »Jedenfalls danke ich Ihnen für Ihre Güte, gnädige Frau«, begab sich in ihr Zimmer und packte ihre Sachen.

Der Abschied ging rasch und ohne besondere Rührung vonstatten. Doktor Eppich äußerte die Hoffnung, daß ihre Mutter sich bald wieder erholen werde, die Mädchen glaubten oder taten so, als glaubten sie an eine baldige Rückkehr Theresens; in dem spöttischen Blick des jungen Herrn George aber las sie deutlich: Oh, wie bin ich klug gewesen!

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 704-706.
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