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[741] Über die neue Stellung, die sie an einem heißen Augusttag antrat, war sie von ihrem Bureau, wie sich bald zeigte, ziemlich falsch unterrichtet worden. Sie kam keineswegs in eine elegante Villa zu einem gutsituierten Fabrikanten, wie man ihr vorgespiegelt, es war vielmehr ein höchst vernachlässigtes, freilich als Landhaus gebautes weitläufiges Gebäude, in dem vier Familien zum Sommeraufenthalt wohnten, die sich nebst ihren Kindern in stetem Hader miteinander befanden, so daß man sich sogar im Garten um die Plätze, die Bänke, die Tische zu zanken pflegte und es immer wieder gegenseitige Beschwerden auszutragen gab. Die schlechtest erzogenen Kinder von allen waren die drei – im Bureau hatte man ihr nur von zweien gesagt –, die Theresens Obhut anvertraut waren, drei Buben zwischen neun und zwölf Jahren. Die Mutter war eine noch leidlich junge, zu früh fett gewordene, schon am frühen Morgen geschminkte Person, die zu Hause und im Garten in Hauskleidern von fragwürdiger Reinlichkeit umherzugehen, sich aber für die Promenade um so großartiger und auffallender herzurichten pflegte. Sie selbst, wie auch die Kinder, sprachen einen häßlichen jüdischen Jargon, gegen den,[741] wie gegen die Juden überhaupt, Therese seit jeher eine gewisse Abneigung verspürte, obzwar sie sich in manchen jüdischen Häusern keineswegs übler als in andern befunden hatte. Daß auch die Eppichs, wenn auch getauft, einer Rasse angehörten, der gegenüber sie von einem Vorurteil nun einmal nicht ganz frei war, hatte sie erst kurz vor ihrem Austritt mit einiger Verwunderung erfahren. Der Vater ihrer neuen Zöglinge, ein kleiner bedrückter Mensch mit melancholischen Hundeaugen, kam meistens nur an Feiertagen, gegen Mittag, aufs Land hinaus, bei welcher Gelegenheit es beinahe immer Auftritte zwischen ihm und seiner Gattin gab. Nachmittags verschwand er eiligst und begab sich, wie Therese aus hämischen Bemerkungen seiner Frau entnahm, ins Kaffeehaus, wo er bis zum späten Abend Karten spielte und sein Geld, ja nach den Behauptungen der Gattin, allmählich die ganze Mitgift verlor. Therese begriff nicht recht, warum die Frau sich immer darüber beklagte, daß er sie vernachlässige, da sie selbst keineswegs für ihn Zeit hatte. Nachmittags lag sie stundenlang auf dem Diwan, dann kleidete sie sich für die Promenade an und kam meist später zurück, als man sie erwartet hatte. Theresen gegenüber war sie bald freundlich, geradezu um ihre Gunst beflissen, bald heftig und ungeduldig und in jeder Beziehung von einer Ungeniertheit, die Therese oft peinlich berührte. Unter anderen Pflichten hatte der Gatte auch die, seiner Frau Bücher aus der Leihbibliothek mitzubringen, die aber meist ungelesen auf den Gartenbänken oder auf den Zimmermöbeln herumlagen. Es war Theresens Absicht, gleich nach der Rückkehr aus der Sommerfrische das Haus zu verlassen. So kümmerte sie sich um die drei Judenbengels, wie sie sie bei sich zu nennen pflegte, nicht mehr als unumgänglich notwendig war, überließ sie ihren Spielen, ihren Ungezogenheiten; und da sie mit ihrer Zeit nichts Rechtes anzufangen wußte, nahm sie manchmal mechanisch einen Leihbibliotheksband zur Hand, las da und dort ein Kapitel, ohne innerlich recht dabei zu sein. Da fiel ihr einmal ein Buch ihrer Mutter in die Hände. Sie griff kaum mit größerem Interesse darnach als nach irgendeinem der andern, da ihr, was sie bisher von den Leistungen der Schriftstellerin Fabiani kennengelernt, nicht nur langweilig, sondern überdies lächerlich erschienen war. Sie las nachmittags im Garten zu einer verhältnismäßig ruhigen Stunde in einer Ferienstille, die nur durch das Klavierspiel irgendeiner Hausbewohnerin gestört war, las ohne Anteilnahme eine Geschichte, die sie glaubte schon hundertmal gelesen zu haben,[742] bis sie einmal an eine Stelle geriet, von der sie sich bewegt fühlte, ohne recht zu wissen warum. Es war der Brief eines betrogenen und verzweifelten Liebhabers, der so unvermutet mit einem ergreifenden Ton von Wahrheit an Theresens Seele rührte. Ein paar Seiten darauf folgte ein zweiter, ein dritter Brief ähnlicher Art; und nun erkannte Therese, daß die Briefe, die sie hier gedruckt las, keine anderen waren, als die Alfred ihr vor vielen Jahren geschrieben und die die Mutter ihr damals aus der Lade gestohlen hatte. Sie waren wohl etwas verändert, wie es der Inhalt des Romanes verlangte, gewisse Sätze aber waren deutlich erhalten. Zuerst fühlte Therese nur die leise Wehmut, die sie immer überkam, wenn sie auf irgendeine Weise an Alfred erinnert wurde. Dann aber erfaßte sie eine heftige Erbitterung gegen die Mutter, doch hielt sie nicht lange an, – ja sie mußte bald lachen, und noch am selben Abend schrieb sie ihrer Mutter halb im Scherze, wie geschmeichelt sie sich fühle, an den Werken der berühmten Schriftstellerin, was sie bisher nicht geahnt, in bescheidener Weise mitarbeiten zu dürfen.

Wenige Tage später langte eine sehr sachlich und doch zugleich herzlich gehaltene Anfrage der Mutter ein, auf welches Honorar Therese für ihre Mitarbeiterschaft Anspruch erhebe, und schon zwei Tage darauf, unerbeten, traf zwar nicht eine Geldsumme, aber einige Wäschestücke und eine weiße Batistbluse ein, die Therese zwar anfangs zurückschicken wollte, aber dann doch lieber behielt, da sie ihr sehr gelegen kamen.

Wenige Tage, ehe man aus der Sommerfrische nach Wien übersiedeln sollte, erhielt Therese einen Brief, in dem sie um ein Rendezvous ersucht wurde. Mit vollem, ihr bis dahin unbekanntem Namen unterschrieben war ein Offizier, der kein anderer sein konnte als ein gewisser, sehr hagerer Oberleutnant mit schwarzem Schnurrbart, dem sie oft im Kurpark flüchtig zu begegnen und der sie mit besonders frechen Blicken zu mustern pflegte. In unverblümten Worten, die sie anfangs empörten, dann aber tief erregend in ihr nachwirkten, gestand ihr der Offizier seine Liebe, seine Leidenschaft, sein Verlangen. Nachdem sie den ganzen Tag über inneren Widerstand geleistet, fand sie sich in später Abendstunde, sobald sie die Kinder zu Bette gebracht hatte, im Kurpark ein, der Oberleutnant, der sie erwartet, trat auf sie zu, ergriff ihre Hand in wilder, fast gewalttätiger Weise; in einer dunklen Allee gingen sie eine Weile auf und ab; bald, fast ohne zu wissen, wie ihr geschah, erwiderte sie seine gierigen Küsse. Er wollte[743] sie in noch dunklere, abgelegene Partien des Parkes locken, da riß sie sich von ihm los und ging nach Hause. Jetzt erst kam ihr zu Bewußtsein, daß sie mit dem Oberleutnant während dieses leidenschaftlichen Zusammenseins kaum zehn Worte gewechselt hatte, und sie schämte sich sehr. Morgen wollte er sie wieder erwarten, und sie nahm sich fest vor, nicht an den Ort des Stelldicheins zu kommen. Sie hatte eine schlaflose Nacht, in der ihre Sehnsucht nach ihm zu fast körperlichem Schmerze anwuchs. Mittags bekam sie einen Brief von unbekannter Hand. Er enthielt von einer »wohlmeinenden Freundin«, die ihren Namen allerdings verschwieg, den guten Rat, sich die Leute doch besser anzusehen, mit denen sie sich nachts im Kurpark herumtreibe. Jemand, der es leider wisse, mache sie darauf aufmerksam, daß der Offizier sich in diesem Kurort zur Behandlung einer gewissen, ansteckenden Krankheit aufhalte und noch lange nicht geheilt sei. Hoffentlich treffe diese Warnung noch rechtzeitig ein. Therese erschrak tödlich. Sie rührte sich vom Hause nicht fort; dunkel war ihr bewußt, daß am Ende auch schon die Küsse des gestrigen Abends verhängnisvolle Folgen haben konnten. Aber sie hoffte zugleich, daß Gott sie nicht so hart strafen würde, wenn sie nur die Kraft hätte, den gefährlichen Menschen nicht wiederzusehen. Es gelang ihr tatsächlich, sich die nächsten Tage zu Hause zu halten; eine heftige Auseinandersetzung mit der Mutter ihrer Zöglinge ermöglichte es ihr, ihre Stellung vor Ablauf der Kündigungsfrist zu verlassen; auf dem Weg zum Bahnhof erblickte sie den Oberleutnant von ferne, und es glückte ihr, zu entkommen, ohne daß er sie bemerkt hätte.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 741-744.
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