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[632] In diesen Tagen fiel es Theresen auf, daß ihre Mitschülerinnen ihr gegenüber ein verändertes Benehmen zur Schau trugen. Man zischelte, man brach plötzlich ein Gespräch ab, wenn sie in die Nähe kam, und die Lehrerin richtete überhaupt kein Wort und keine Frage mehr an sie. Auf dem Nachhausewege von der Schule schloß sich keines der Mädchen ihr an, und in den Augen von Klara Traunfurt, der einzigen, der sie ein wenig nähergekommen war, glaubte sie etwas wie Mitleid schimmern zu sehen. Durch sie erfuhr Therese auch endlich von dem Gerücht, daß die Abendgesellschaften bei der Mutter in der letzten Zeit nicht mehr ganz harmloser Natur wären, ja, es wurde sogar behauptet, daß Frau Fabiani neulich zur Polizei vorgeladen und dort verwarnt worden sei, und nun fiel es Theresen auch auf, daß in der Tat seit zwei oder drei Wochen jene Abendgesellschaften zu Hause ein Ende genommen hatten.[632]

Als sie heute nach Klaras Aufschlüssen mit Mutter und Bruder beim Essen saß, merkte sie, daß Karl sich kein einziges Mal mit einer Frage oder Antwort an die Mutter wandte; und nun ward ihr auch bewußt, daß es schon mindestens eine Woche her nicht anders war. Sie atmete erlöst auf, als Karl sich erhob und gleich darauf die Mutter sich in ihr Zimmer zurückzog, doch als sie nun plötzlich allein an dem noch nicht abgedeckten Tische saß, auf den durchs offene Fenster die Frühlingssonne fiel, saß sie eine Weile erstarrt wie in einem bösen Traum.

In derselben Nacht noch geschah es ihr, daß sie durch ein Geräusch im Vorzimmer plötzlich erwachte. Sie hörte, wie die Türe vorsichtig geöffnet und wieder verschlossen wurde; und nachher leise Schritte auf der Treppe. Sie erhob sich aus dem Bett, ging zum Fenster und sah hinab. Nach wenigen Minuten wurde das Haustor geöffnet, sie sah ein Paar heraustreten, einen Herrn in Uniform mit aufgestelltem Kragen und eine verhüllte Frauengestalt, die beide rasch um die Ecke verschwanden. Therese nahm sich vor, von ihrer Mutter Aufklärung zu verlangen. Aber als die Gelegenheit dazu erschien, fehlte ihr der Mut. Sie fühlte wieder, wie unzugänglich und fremd ihr die Mutter geworden war; ja, es schien in der letzten Zeit, als wenn die alternde Frau ihr schrullenhaftes Wesen wie mit Absicht ins Unheimliche steigerte; sie hatte sich einen sonderbar schlürfenden Gang angewöhnt, rumorte sinnlos in der Wohnung umher, murmelte unverständliche Worte und sperrte sich gleich nach dem Essen für Stunden in ihr Zimmer ein, wo sie auf große Bogen Papier mit kratzender Feder zu schreiben anfing. Therese nahm zuerst an, daß ihre Mutter mit dem Entwurf einer auf jene polizeiliche Vorladung bezüglichen Verteidigungs- oder Anklageschrift beschäftigt sei, dann dachte sie, ob die Mutter nicht vielleicht ihre Lebenserinnerungen aufzeichne, von welcher Absicht sie früher manchmal gesprochen hatte; doch bald stellte sich heraus – Frau Fabiani erwähnte es einmal bei Tische wie eine bekannte und eigentlich selbstverständliche Tatsache –, daß sie daran sei, einen Roman zu verfassen. Therese warf unwillkürlich einen verwunderten Blick zu ihrem Bruder hin; der sah an ihr vorbei auf die Sonnenkringel an der Wand.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 632-633.
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