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[764] Es war nun doch kein Witwer, sondern ein Ehepaar mit einem Kind, bei dem sie ihre neue Stellung antrat. Der Knabe, den sie zu unterrichten hatte, stand im gleichen Alter mit Franz. Der Vater war Zeitungsredakteur, ein noch ziemlich junger, aber grauhaariger, schmächtiger Mensch, freundlich, zerstreut und meistens etwas aufgeregt, der gegen Mittag aufzustehen und nachts um drei nach Hause zu kommen pflegte. Seine Frau, zierlich und klein wie er, war Direktrice eines Modesalons und verließ das Haus stets zu sehr früher Stunde. Die Mahlzeiten wurden getrennt und zu den verschiedensten Zeiten genommen; trotzdem erinnerte sich Therese nicht, jemals einen so wohlgeordneten Haushalt und eine so gute Ehe gesehen zu haben. Dem Rate Alfreds getreu, hatte sich Therese im Monat zwei freie Tage nacheinander ausbedungen, um ihren Buben auf dem Land besuchen und ein wenig bei ihm verweilen zu können. Frau Knauer hatte nichts einzuwenden, ja, sie schien, als sollte sich Alfreds Voraussage gleich erfüllen, gerade um dieses Umstandes willen eine besondere Sympathie für Therese zu gewinnen und ließ sich gleich nach der ersten Rückkehr Theresens aus Enzbach und von nun an oft und gern mit ihr in Gespräche über das Kind ein.

Ihr eigenes, der neunjährige Robert, war ein blondlockiger, besonders wohlgestalteter Knabe, so bildhübsch, daß Therese kaum begreifen konnte, wie diese Eltern eigentlich zu diesem Kind gekommen wären. Vom ersten Augenblick an schloß sie es mit einer Zärtlichkeit in ihr Herz, wie sie sie noch keinem ihrer Zöglinge gegenüber empfunden hatte. Da Robert keine öffentliche Schule besuchte, hatte Therese den ganzen Unterricht zu leiten und widmete sich dieser Beschäftigung mit einer Inbrunst wie nie zuvor. Nicht selten war ihr, als hätte sie ihrem eigenen Kind etwas abzubitten; sie war dann liebevoller zu ihm als sonst, und sie freute sich, daß er, wenn auch nicht gerade hübscher und vornehmer, doch jedenfalls kräftiger und rotbäckiger aussah als ihr Pflegebefohlener. Und wenn auch Franzls Redeweise vom bäuerischen Dialekt keineswegs frei und sein Gehaben manchmal ein wenig zu ländlich schien, an Auffassungsgabe stand er hinter dem kleinen Robert gewiß nicht zurück. Doch immer von neuem gewann Robert den Vorrang in ihrem Herzen; sie begann darunter zu leiden, wie unter einer Schuld, und wußte, daß es nicht die erste war, deren sie sich ihrem Kind gegenüber anzuklagen hatte.[765]

Eines Tages, als sie mit dem kleinen Robert spazieren ging, begegnete ihr Alfred, den sie seit Salzburg nicht gesehen hatte, und sie nahm die Gelegenheit wahr, ihm zu sagen, daß sie ihn möglichst bald ausführlicher zu sprechen wünsche. In einer freien Abendstunde traf sie nach Verabredung in der Nähe des Krankenhauses mit ihm zusammen. Sie sprach von ihren Beziehungen zu ihrem eigenen Kind und zu dem andern und von dem Vorrang, den dieses in ihrem Herzen einzunehmen scheine. Alfred beschwichtigte ihre Gewissensskrupel: es sei ja nur selbstverständlich, daß sie ihrem Kind nicht die gleichen Gefühle entgegenbringen könne, wie es unter anderen glücklicheren Umständen gewiß der Fall gewesen wäre, jede Beziehung, auch die natürlichste, erfordere Gegenwart und stete Erneuerung, um sich in natürlicher Weise zu entwickeln, ja um überhaupt bestehen zu können. Übrigens würde er gern einmal ihren Buben von Angesicht zu Angesicht kennenlernen. Therese war von Alfreds Wunsch sehr erfreut, und nachdem bei Gelegenheit eines folgenden Abendspazierganges Näheres verabredet worden war, ließ sie sich am ersten Weihnachtsfeiertag von ihm nach Enzbach begleiten. Er hatte dem Buben ein Bilderbuch mitgebracht, blätterte es mit ihm durch, war freundlich, doch forschend zurückhaltend, doch gütig, und Therese war von Bewunderung für ihn erfüllt. Nicht nur Frau Leutner, auch ihrem dumpferen, unzugänglicheren Mann gegenüber traf er den richtigen Ton, und so vergingen die paar Stunden auf dem Lande in durchaus angenehmer und gemütlicher Weise. Doch auf der Rückfahrt nach Wien machte Alfred Theresen gegenüber kein Hehl daraus, daß er weder die Umgebung, in der das Kind aufwuchs, noch insbesondere das Wesen seiner Kosteltern als gedeihliche Vorbedingungen für dessen weitere Entwicklung zu betrachten imstande sei, und gab ihr zu bedenken, ob sie es nicht anderswohin, vielleicht in eine Vorstadt Wiens, in Pflege geben sollte, um es doch mehr in der Nähe zu haben und öfters sehen zu können. Bevor sie in Wien ausstiegen, küßten sie einander. Es war der erste Kuß seit jenem Abend, an dem sie in Salzburg, ohne es zu ahnen, auf so lange Zeit voneinander Abschied genommen hatten.

Bald darauf fügte es sich einmal, daß Therese von Frau Knauer gebeten wurde, auf ihren nächsten zweitägigen Urlaub zu verzichten, doch stellte man es ihr frei, zum Ersatz ihren Buben einmal nach Wien zu Knauers zu bringen. Therese hatte zuerst eine gewisse Scheu, diesen Vorschlag anzunehmen, sie fürchtete halb[766] unbewußt, die beiden Kinder nebeneinander zu sehen. Alfred, den sie um Rat fragte, verscheuchte ihre Bedenken, und so ließ sie sich an einem der nächsten Tage von Frau Leutner Franzl ins Haus bringen. Der Tag verlief besser, als Therese gefürchtet. Die beiden Buben freundeten sich rasch miteinander an, plauderten und spielten; und als Franzl gegen Abend von Frau Leutner wieder abgeholt wurde, bestand Robert darauf, daß jener bald wiederkommen müsse. Frau Knauer nickte Theresen ermunternd zu, fand ihren Buben lieb und wohlerzogen und sagte auch nachher allerlei Gutes über ihn, was Therese unverhältnismäßig stolz machte. Es wurde nun bestimmt, daß Frau Leutner den Buben zwei- bis dreimal im Monat nach Wien bringen solle, und immer wurde er von Robert mit gleicher Freude, von Frau Knauer mit echter Herzlichkeit aufgenommen, und auch Herr Knauer, der sich manchmal auf ein halbes Stündchen im Kinderzimmer sehen ließ, schien Gefallen an ihm zu finden. Dies hatte allerdings wenig zu bedeuten, da Herr Knauer, immer vergnügt und immer zerstreut, mit allen Menschen und allen Dingen durchaus einverstanden schien und stets die gleiche oberflächliche Liebenswürdigkeit nach allen Seiten hin zur Schau trug. Für Therese aber behielt der kleine, grauhaarige, zerraufte Journalist trotzdem, ja er gewann immer mehr etwas Fremdes und Undurchdringliches für sie, und es war ihr manchmal, als hätte seine stete Spaßmacherei eine Maske zu bedeuten, unter der er sein wahres Wesen verbarg.

Über ihre sämtlichen Beobachtungen und Ansichten pflegte sie sich Alfred gegenüber auszusprechen, der zu ihrer Neigung, überall Eigentümlichkeiten und Sonderbarkeiten zu entdecken, wo wahrscheinlich gar keine vorhanden wären, nachsichtig lächelte. Bei ihren meist sehr flüchtigen, aber doch immer häufiger werdenden Zusammenkünften, auch bei Gelegenheit gemeinsamer Theaterbesuche mit darauffolgendem Abendessen in bescheidenen Gasthäusern wurden sie immer vertrauter, und es erging Theresen ähnlich mit dem Freunde, wie so viele Jahre vorher: sie wünschte ihn verwegener, draufgängerischer, als er war. Und doch, sobald er etwas kühner wurde, fühlte sie sich verängstigt, beinahe abgestoßen, als sei das Schönste, was sie bisher erlebt, gerade dadurch, daß es noch schöner würde, zu allzu frühem Ende bestimmt.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 764-767.
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