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[808] Der angekündigte Besuch Alfreds fand nicht statt, denn am nächsten Morgen war Franz aus der Wohnung der Mutter verschwunden, ohne auch nur ein Wort der Erklärung zu hinterlassen. Theresens erste Regung war, die Polizei zu verständigen, aber sie unterließ es in der Besorgnis, daß die Behörde Grund haben möchte, Franzls Verschwinden als eine Art von Flucht aufzufassen, und gerade durch eine Anzeige vorzeitig auf eine Spur gelenkt werden könnte. Sie setzte sich in Verbindung mit Alfred, der zuerst ungehalten schien, daß sie ihn anrief, dann aber ihr zu verstehen gab, daß er diese neueste Wendung keineswegs schlimm[808] finden könne, daß sie ganz gut daran tue, keinerlei Schritte zu unternehmen, und lieber den Dingen ihren Lauf lassen solle. Seine Gleichgültigkeit tat Theresen weh, ja, sie konnte sich kaum verhehlen, daß Alfreds Verhalten ihr weher tat als Franzens Flucht. Bald freilich kamen Stunden des Schmerzes, ja, der Verzweiflung; in schlaflosen Nächten fühlte sie eine ungeahnte Sehnsucht nach dem Verschwundenen, und sie dachte daran, eine Anzeige in die Zeitung einzurücken von der Art, wie sie sie schon manchmal gelesen hatte: »Kehre zurück, alles verziehen!« Wenn der Morgen kam, sah sie die Unsinnigkeit eines solchen Beginnens ein, sie tat nichts dergleichen, und nach wenigen Wochen merkte sie, daß sie zwar nicht froher, aber ruhiger dahinlebte als zur Zeit, da sie ihren Sohn noch bei sich gehabt hatte.

In der Nachbarschaft erzählte sie, daß Franz eine Stellung in einem österreichischen Provinzstädtchen gefunden habe. Ob man es nun glaubte oder nicht – es kümmerte sich niemand besonders um die Familienverhältnisse des Fräuleins Fabiani.

Ihre Berufstätigkeit, die sie geraume Zeit hindurch ohne innere Anteilnahme, mechanisch gleichsam, ausgeübt hatte, begann ihr wieder eine gewisse Befriedigung zu gewähren. Sie erteilte nicht nur Einzelunterricht, sie kam auch in die Lage, aus einigen auf ungefähr gleicher Stufe stehenden jungen Mädchen Kurse zusammenzustellen.

Im übrigen lebte sie wieder völlig eingezogen, weder Mutter noch Bruder und Schwägerin kümmerten sich um sie, und auch Alfred ließ nichts von sich hören. Sie ging so wenig wie möglich aus dem Hause und wußte es so einzurichten, daß sie nur selten mehr außerhalb ihrer vier Wände Unterricht zu erteilen hatte. Kaum jemals geschah es, daß sie an einer ihrer Schülerinnen ein persönliches Interesse nahm, das über die Dauer der Unterrichtsstunden hinausgegangen wäre, und manchmal erinnerte sie sich fast wehmütig früherer Zeiten, da sie als Erzieherin, freilich ihren Zöglingen schon durch gemeinsame Häuslichkeit näher, als es heute der Fall war, an manchen mit ihrem ganzen Herzen gehangen, ja, fast wie eine Mutter für sie empfunden hatte.

Einmal aber, ein paar Monate nachdem Franz das Haus verlassen, ereignete es sich, daß eines der Mädchen, die den Kurs besuchten, ein paar Tage ausblieb und sie sich durch das Fehlen dieses kaum sechzehnjährigen Wesens stärker berührt fühlte, als es jemals bei solcher Gelegenheit der Fall gewesen war. Als ein Brief des Vaters das Ausbleiben der Tochter mit einer fieberhaften[809] Halsentzündung entschuldigte, geriet Therese in eine ihr selbst kaum begreifliche Unruhe, die nicht weichen wollte; und als endlich nach kaum einer Woche Thilda wieder erschien, fühlte Therese, wie ihr eigenes Antlitz vor Freude sich rötete und ihre Augen zu leuchten begannen. Das wäre ihr selbst kaum zu Bewußtsein gekommen, wenn nicht, wie zur Antwort darauf, um Thildas Lippen ein sonderbares, wohl liebenswürdiges, aber zugleich etwas überlegenes, ja spöttisches Lächeln gespielt hätte. In diesem Augenblick wußte Therese, daß sie die Kleine liebte und daß sie sie gewissermaßen unglücklich liebte. Sie wußte auch, daß diese Sechzehnjährige – und nicht nur dank den günstigeren äußeren Lebensumständen – zu einer anderen Art von Wesen gehörte als sie, zu den klugen, kühlen, in sich geschlossenen, denen nie mals etwas ganz Ernstes und Schweres begegnen kann, weil sie sich selbst immer zu bewahren und von jedem anderen, der in ihre Nähe, unter ihren Einfluß, in ihren Zauberkreis gerät, so viel zu nehmen verstehen, als ihnen eben nötig oder auch nur ergötzlich scheint. Und dieser Augenblick, da Thilda nach achttägiger Abwesenheit, um ein paar Minuten verspätet wie gewöhnlich, mit einem anmutigen Gruß ins Zimmer getreten war, ihren Stuhl gleich an den Tisch zu den fünf anderen Teilnehmerinnen des Kurses heranrückte und mit einer fast unmerklichen, weltdamenhaften Geste Therese davon abhielt, um ihretwillen die Stunde etwa zu unterbrechen – dieser Augenblick war einer von denjenigen, da in Theresens dämmernde Seele gleichsam ein Lichtschein fiel, in dem ihr das gefühlsmäßige Verhältnis zwischen ihr und Thilda ein für allemal mit unbedingter Klarheit bewußt wurde. Nach Beendigung des Unterrichts fugte es sich diesmal ganz natürlich, daß Thilda allein bei der Lehrerin zurückblieb und sich ein Gespräch entspann, das von der eben überstandenen Krankheit seinen Ausgang nahm. Im Anfang – so gestand Thilda zu – hatte die Sache etwas bedenklich ausgesehen, es war sogar eine Pflegerin aufgenommen worden. – »Wie? Eine Pflegerin?« – Nun ja, die Mutter lebte nicht in Wien. Wie? Fräulein Fabiani wußte das nicht? Freilich, die Eltern seien geschieden, die Mutter hielte sich schon seit Jahren in Italien auf, weil ihr das Wiener Klima nicht zuträglich sei. Den vorigen Sommer bis tief in den Herbst hinein habe sie mit der Mutter in einem italienischen Seebad verbracht. Thilda nannte den Namen nicht; sie liebte es, beiläufig zu sein, und Therese fühlte, daß eine Frage nach dem Namen des Seebades unerlaubt und zudringlich gewesen wäre. Die Pflegerin[810] habe sich sehr nett und freundlich benommen, aber am vierten Tag habe »man« sie Gott sei Dank weggeschickt. Und es sei ihr wie eine Erlösung gewesen, allein und ungestört im Bett zu liegen und ein schönes Buch zu lesen. – Was für ein Buch? hätte Therese beinahe gefragt, aber sie hütete sich. »So leben Sie also ganz allein mit Ihrem Herrn Papa?« fragte sie. – Thilda lächelte ein wenig, und in ihrer Antwort war sehr betont nicht von einem Papa, sondern von einem Vater die Rede. Und während sie von ihm erzählte, wurde sie etwas wärmer, als es sonst ihre Art war. Oh, es ließe sich sehr gut mit ihm allein leben. Nachdem die Mutter »abgereist« war, hatte Thilda eine Zeitlang ein Fräulein gehabt, aber es hatte sich gezeigt, daß es ohne ein Fräulein auch ganz gut und sogar viel besser gehe. Bis zum vorigen Jahr hatte sie ein Lyzeum besucht, jetzt nahm sie Lektionen zu Hause, Klavier- und sogar Harmoniestunden, mit der englischen Lehrerin ging sie zuweilen spazieren, und – ein Zug von Neid huschte über Theresens Züge – zweimal in der Woche höre sie kunstgeschichtliche Vorträge mit Freundinnen zusammen. Sie verbesserte sich gleich: mit guten Bekannten, denn »Freundinnen« besitze sie eigentlich nicht. Mit dem Vater unternehme sie Sonntags kleine Ausflüge, auch Konzerte besuche er mit ihr, eigentlich nur ihr zuliebe, denn persönlich sei er gar nicht besonders musikalisch. Und nun neigte sie ganz leicht den Kopf – Therese verstand nicht einmal gleich, daß es ein Abschiedsgruß sein sollte – und nach einem sehr leisen Händedruck war Thilda zur Türe hinaus.

In einer Art Benommenheit blieb Therese zurück. Etwas Neues war in ihr Leben getreten. Sie fühlte sich älter und jünger: mütterlich-älter und schwesterlich-jünger zugleich.

Sie hütete sich, sowohl vor den übrigen Mädchen als auch vor Thilda selbst merken zu lassen, daß sie zu ihr anders stand als zu den übrigen; und sie fühlte, daß Thilda ihr dafür Dank wußte. Die Belohnung ließ nicht lange auf sich warten: eines Tages nach Beendigung des Kurses lud Thilda im Namen des Vaters Therese für den nächsten Sonntag zum Mittagessen ein. Therese errötete vor Freude, und Thilda tat ihr den Gefallen, es nicht zu bemerken. Sie brachte mehr Zeit als sonst mit dem Zuklappen der Hefte und Bücher zu, dann, den Mantel nehmend, sprach sie von einem Bulwerschen Roman, den ihr Therese empfohlen und der sie ein wenig enttäuscht habe, und endlich mit einem fröhlichen Gesicht wandte sie sich nochmals an Therese: »Also morgen um eins, nicht wahr?« und war fort.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 808-811.
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