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[817] Sie sprach zu niemandem ein Wort von diesem Besuch, und rascher, als sie gedacht, wurde er eine blasse Erinnerung. Auch der Umstand, daß etwa acht Tage nachher ein übel aussehendes, ältliches Frauenzimmer mit Kopftuch ihr einen Brief Franzens überbrachte, in dem nur dieses stand: »Hilf mir noch einmal, Mutter, ich brauche dringend zwanzig Gulden«, berührte sie nur wenig. Ohne ein Begleitschreiben schickte sie ihm die Hälfte des verlangten Betrags, was freilich auch schon ein Opfer für sie bedeutete.

Wieder kurz darauf, höchst unerwartet, erschien ihre Schwägerin. Sie war freundlich, doch befangen. Längst schon wäre sie da gewesen, aber das Hauswesen und die zwei Kinder nähmen ihre ganze Zeit in Anspruch, und wenn sie heute käme – sie stockte und reichte Theresen einen Brief hin. Es waren ein paar Zeilen von Franz in kindisch unbeholfener Schrift und mangelhafter[817] Orthographie: »Sehr geehrte Frau Faber. In einer augenblicklichen Verlegenheit gestatte mir, mich an Sie zu wenden. Wenn Euer Wohlgeboren nämlich die Güte haben wollten, da mir meine Mutter augenblicklich nicht aushelfen kann, zur dringenden Anschaffung von einem Paar Schuhen mit einem kleinen Betrag von elf Gulden beizustehen. Mit Hochachtung Franz Fabiani.«

»Du hast ihm hoffentlich nichts geschickt?« sagte Therese hart.

»Ich hätt' gar nicht können, ich muß ja so genau Rechnung legen. Ich hab' dich nur bitten wollen, daß du ihm sagst, er soll um Gottes Willen nicht noch einmal – wenn mein Mann so einen Brief erwischt – es ist auch deinetwegen, Theres'.«

Therese runzelte die Stirn. »Der Franz wohnt längst nicht bei mir, ich weiß überhaupt nichts mehr von ihm. Was mir möglich war, hab' ich getan, hab' ihm erst vor ein paar Tagen wieder was geschickt – was an mir liegt – du glaubst doch nicht, ich hab' ihn angeleitet? Ich weiß nicht einmal, wo er wohnt.« Und plötzlich brach sie in Tränen aus.

Die Schwägerin seufzte auf. »Es hat halt jeder sein Kreuz.« Und als hätte sie nur eine Gelegenheit gesucht, selbst ihr Herz zu erleichtern, sprach sie weiter. Ihr ging es auch nicht zum besten. Wenn sie die Kinder nicht hätte, – das dritte sei schon auf dem Weg. Eine Sorge mehr – hoffentlich auch ein Glück mehr, sie könnte es brauchen. »Du kannst dir ja denken, mit dem Karl ist es nicht so einfach.« Er habe nur mehr Sinn für seine Versammlungen und Vereine, keinen Abend beinahe sei er zu Hause, die Praxis leide natürlich darunter. Sie klagte bitter über seine Unfreundlichkeit, seine Härte, seinen Jähzorn.

Sie hatte noch Tränen im Auge, als sie ging, weil sie gehen mußte, denn eben kamen zwei Schülerinnen zum Kurs. Thilda war die eine. Ihr Blick ruhte fragend, nicht ohne Mitgefühl, auf Therese, so daß diese zu einer Erklärung sich gewissermaßen verpflichtet fühlte. Und sie bemerkte: »Es war die Frau meines Bruders.«

»My brother's wife«, übersetzte Thilda kühl, packte ihre Hefte und Bücher aus, und ihr Interesse an Theresens Familienangelegenheiten war damit erschöpft.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 817-818.
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