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[823] Eine Woche und mehr vergingen, während deren sich Thilda Theresen gegenüber kaum vertrauter benahm als die anderen Schülerinnen und es nach den Kursen sogar immer recht eilig hatte, bis sie ihr, wieder ganz unerwartet, eines Tages eine Einladung des Vaters in die Oper überbrachte. Für Therese bedeutete es ein Fest, nach vielen Jahren wieder einmal in dem[823] prächtigen weiten Raum, noch dazu an Thildas Seite, wie eine ältere Schwester beinahe, einer Aufführung des Lohengrin beizuwohnen, und es hätte kaum der außerordentlichen Orchester- und Gesangsleistungen bedurft, um sie glücklich zu stimmen. Auch Herr Verkade war in die Loge geladen, und nachher soupierte man gemeinsam in einem vornehmen Hotel-Restaurant, wo sich Therese freilich in ihrem für die Gelegenheit etwas ärmlichen Kleid nicht mehr recht als Thildas ältere Schwester zu fühlen vermochte, um so weniger, als der Holländer sich fast nur mit Thilda unterhielt und der sonst ziemlich gesprächige Wohlschein auffallend wortkarg schien. Therese, ohne recht zu wissen warum, vermutete geschäftliche Verdrießlichkeiten als Ursache, war aber von einer solchen Möglichkeit keineswegs unangenehm berührt. Ja, ganz im Gegenteil spann sie diesen Gedanken weiter bis zu der Vorstellung, daß die alte Fabrik zugrunde gegangen sei, Wohlschein sein Vermögen verloren habe und daß Thilda keine reiche junge Dame mehr wäre, sondern ein armes Mädel, das sich selber ihr Brot verdienen mußte und dadurch ihr, Theresen, unendliche Male näher sein würde als jetzt.

Aber die wirkliche Ursache von Wohlscheins Verstimmung oder von dem, was Therese dafür gehalten, wurde ihr wenige Tage später klar, als Thilda sie in ganz leichtem Ton mit der Mitteilung überraschte, daß sie sich mit Herrn Verkade verlobt habe. Die Heirat sollte im Spätherbst stattfinden, als künftiger Aufenthalt des Paares war Amsterdam vorgesehen, wohin übrigens Herr Verkade gestern für längere Zeit wieder abgereist sei. Während Thilda das erzählte, war nur ein starres Lächeln in Theresens Antlitz; es konnte zugleich als Gebärde eines Glückwunsches gelten, den mit Worten über die Lippen zu bringen Therese nicht vermochte.

Sie begriff Wohlschein nicht, der die Zustimmung zu dieser Heirat gegeben, schalt ihn bei sich schwach oder gefühllos, ja, sie schob ihm sogar niedrige Motive unter, wie etwa, daß die Firma sich in finanziellen Schwierigkeiten befände und Wohlschein selbst die Verlobung kupplerisch gefördert, um sich und die Fabrik zu retten. Sie konnte nicht glauben, daß Thilda, ein Kind beinahe, diesen um zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre älteren, nicht sonderlich interessanten, kaum hübschen Mann wirklich liebte. Sie war geneigt, das holde junge Geschöpf als ein unschuldiges Opfer anzusehen, das sich ihres Schicksals nicht recht bewußt sei, und flüchtig kam ihr sogar der Einfall, Herrn Wohlschein[824] selbst ins Gewissen zu reden; doch sie spürte gleich die Lächerlichkeit, ja Unausführbarkeit eines solchen Beginnens, um so untrüglicher, als sie bei sich sehr wohl wußte, daß Thilda keineswegs das Wesen war, sich zu irgend etwas überreden oder gar zwingen zu lassen, was ihr selbst nicht genehm war.

Der Gedanke der nahen Trennung erfüllte sie so sehr, daß die anderen mannigfachen kleineren und größeren Sorgen des Alltags kaum von ihr empfunden wurden. Da sie eine Anzahl von Schülerinnen verloren hatte, war sie genötigt, noch bescheidener zu leben als bisher. Sie spürte die Unannehmlichkeiten, ja die Entbehrungen kaum. Aber auch der Umstand, daß eines Abends Franz plötzlich wieder erschien mit einem kleinen Köfferchen und eine Schlafstelle sowie Teilnahme an den Mahlzeiten wie sein selbstverständliches gutes Recht wortlos in Anspruch nahm, bedeutete eben eine Widerwärtigkeit mehr, aber keine schlimmere als die anderen. Es fügte sich auch anfangs, daß er sie wenig störte; meist lag er bis gegen Mittag auf dem Diwan, dann verschwand er nach einer flüchtigen Mahlzeit, um erst in später Abenstunde, öfter in der Nacht oder erst gegen Morgen heimzukehren, so daß auch keine Begegnung mit ihren Schülerinnen erfolgte, wie ihr solche immer unerwünscht gewesen waren.

Manchmal wurde Franz, der sich stiller und höflicher betrug als früher, gleich nach Tisch von Freunden abgeholt. Einer von ihnen war ein langer, aufgeschossener, ganz hübscher Junge, der aussah wie ein Student aus ärmeren bürgerlichen Kreisen. In einem anderen aber erkannte sie den übel aussehenden Burschen wieder, den Franz ihr zuletzt mit einem Bettelbrief ins Haus geschickt hatte. Er schien als verdächtiges Subjekt gleichsam kostümiert zu sein, so daß er jedem Wachmann hätte auffallen müssen: karierte lichte Hose, kurzer brauner Janker, graue Kappe, im linken Ohrläppchen ein kleiner Ring, die Stimme heiser, der Blick schief und verschlagen. Therese schämte, ja ängstigte sich beinahe bei dem Gedanken, daß irgendeine Hauspartei ihn aus ihrer Türe könnte treten sehen, und sie vermochte nicht eine Bemerkung in diesem Sinn Franz gegenüber zu unterdrücken. Daraufhin stellte sich Franz plötzlich feindselig vor sie hin und verbat sich in gröbster Weise, daß sie seine Freunde beleidige. »Der ist aus einem besseren Haus als ich«, rief er, »der hat wenigstens einen Vater.« Therese zuckte die Achseln und verließ das Zimmer. Auch dies drang kaum an ihre Seele, die von Schmerzlicherem bedrückt war.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 823-825.
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