1822

An einem der bis zur Erde hinabreichenden Balkonfenster, die eine Eigenthümlichkeit der Bauart des alten Berns sind, saß eine elegant gekleidete junge Frau und blickte gedankenschwer vor sich hin in die klare Gebirgsweite.

Die Alpengipfel begannen aufzuleuchten, im Thal war die Sonne bereits verschwunden; das lichte Grün der vorliegenden Unterberge ward noch einen Augenblick von ihrem schwachen Widerschein erhellt, im Hintergrunde der Landschaft aber, da wo sich die Hügelkette weitete und hob, färbten sich die mattern Abendtinten zu tieferem Purpur, violett und blau;[115] – langsam rollte die Dämmerung ihr Dunkel darüber hin, und hell und heller durchflammten es die rosigen und goldgelben Spitzen der Gletscher.

Die beiden Eiger, die Breiten- und Blümelisalp, eine nach der anderen erglühte; nur das finstre Aarhorn streckte über seine Schneescheitel noch zwei schwarze Felsspitzen in den heitern Abendhimmel, deren gerad' ansteigende Flächen keine Schneedecke dulden.

Alle diese Herrlichkeit überflog das ernste Auge der schönen Frau, dann schaute es so fest in sie hinein, als ob es noch darüber hin in's Weite sähe. Sie hatte den einen Arm auf die eiserne Balustrade gestützt; der liebliche Kopf ruhte in der schmalen, von blonden Locken überflossenen Hand. Dieses Anlehnen hatte etwas Mattes, Müdes, das Auge aber, das so durchdringend die Ferne suchte, war dunkel und[116] frisch wie die Veilchen der Eisspalten am Rande der Gletscher.

Zu ihren Füßen, dicht vor ihr, lagen auf einem Teppiche zwei kleine fünf- bis sechsjährige Knaben, die sich zankten und den Beschwichtigungen einer englischen Kinderfrau Trotz boten. Die blonde Frau hörte nicht darauf.

Jetzt trat ein stattlicher schöner Mann von einigen dreißig Jahren in's Zimmer und zu ihr; eine Secunde lang hob sie die Augen, senkte sie aber sogleich wieder auf die Gegend hin.

Als sich jedoch der junge Mann in ihrer Nähe auf ein Sopha setzte, schien sie sich zu besinnen, wandte sich rasch zu ihm und begann ein heiteres Gespräch.

Nun ja, erwiderte er, mir ist es am Ende auch recht. Ich kann es hier so gut abwarten, wohin sie mich versetzen, als in B., nur sehe ich nicht ein, warum das nicht eben so leicht nach Rom, Florenz oder Neapel sein könnte,[117] als nach jeden andern Ort. Graf Fink ist zu alt, er kann dem Posten nicht länger vorstehen, Baron Stein will nach Deutschland zurück; wir aber haben drei volle Jahre in Italien zugebracht, kennen das Terrain, und –

Ich glaube nicht daran, sagte Anna, ich fürchte, wir müssen uns an den Gedanken eines nördlichen Aufenthalts gewöhnen. Wär'st du, lieber Roderich, nur erst völlig hergestellt.

Thorheit! versicherte ihr Gemahl, meine Brust ist wieder kräftig; ja, ich denke, sobald ich nur diese mich beengenden Berge und ihre verdammten weichlichen Molken hinter mir habe, werde ich reiten können wie sonst.

Laß dir noch die wenigen Wochen Ruhe, bat sie, sind wir doch jetzt aus dem eigentlichen Hochgebirg heraus und hier in der Stadt, wo du mehr Zerstreuung hast, der Umgang mit den Professoren und sonstigen Honoratioren ist ja so übel nicht, und dann – sie zog[118] ihn zu sich an's Fenster – sieh' doch diese Pracht nicht mit so unstätem Blick an, der Geschäfts- und Gesellschaftswirbel wird dich bald genug wieder erfassen!

In diesem Augenblick übertönte das Geschrei der beiden Kinder das Gespräch bis zu gänzlicher Unterbrechung. Der Wärterin Beruhigungsmittel reichten nicht mehr aus. Die Mutter eilte, den Jüngsten in die Arme zu nehmen und dadurch dem Streite ein Ende zu machen.

Die Buben werden unerträglich ungezogen, schalt Graf Kronfeld – so hieß der junge Mann – ich werde diese Interimszeit benutzen, ihnen einen tüchtigen Hofmeister zu suchen.

Den sechsjährigen Kindern! lachte Anna.

Egon ist im siebenten.

Seit gestern, und die heutige Unart stammt, glaube ich, noch direct vom Geburtstagskuchen her.[119]

Aber, liebe Anna, mit funfzehn Jahren kann der Eine Offizier sein, mit achtzehn der Andere eine diplomatische Carriere beginnen. Wir können doch unsre Söhne nicht wild aufwachsen lassen wie diese Alpenpflanzen.

Anna seufzte. Nach einer Weile ward sie heiterer und als sich die Wärterin mit den Kleinen entfernt hatte, fuhr sie fast neckend fort, während sie die Blumen ordnete, die Kronfeld im Eifer seines Vergleichs auf den Tisch geworfen:

Du scheinst einen ganz außerordentlichen Werth auf eine möglichst frühe und möglichst vielseitige Entwickelung zu legen. Müssen denn nun unsere Söhne durchaus in der Diplomatie Pferde zureiten und im Küraß ministerielle Noten dechiffriren?

Warum nicht? wenn sie es gescheiter machen als ihr Papa, nicht vom Gaule fallen, wenn er durchgeht, und sich nicht gerade in dem Augenblicke[120] verlieben, in dem sie einen Cabinetsbefehl studiren sollen. Er war aufgestanden und blickte ihr freundlich in die Augen; sie lächelte ihm zu: man sah, Beide belebte eine angenehme Erinnerung.

Sie standen, zwei vollkommen edle, wahrhaft schöne Gestalten, neben einander, der Graf war lichtbraun, groß, von aristokratischem, doch kräftigem Gliederbau; man sah ihm weder den frühen Lebensgenuß, noch die frühe Geistesarbeit an.

Warum, fragte er weiter, sollten sie nicht eben so lebhaft an ihrem Vaterlande hangen wie ich? Warum sollen die Jungen zu ihrer Zeit nicht auch für die Freiheit schwärmen und sie jubelnd begrüßen, ohne daß sie deshalb gerade Wartburgenser zu werden brauchen, oder gar ihr Ehrenwort brechen, wie leider, leider so Mancher unserer jetzigen Jugend? Ist es mir selbst doch schwer genug geworden, den[121] Glanz jener Tage in uns Allen nach und nach ermatten und verdumpfen zu sehen. Warum sollte ich nicht hoffen, daß meinen Kindern auf der nämlichen Bahn ein besseres Loos blühen werde?

Weil sie keinen Freiheitskrieg wirklich mit zu durchfechten haben werden, weil, eh' sie erwachsen, ganz andere Interessen die Welt bewegen müssen, und endlich, weil es eben dem Herrn Papa recht sehr schwer geworden, den kurzen Kriegestraum zu vergessen, die Uniform wieder an den Nagel zu hängen und in die alte abgemessene Laufbahn zurückzukehren.

Kronfeld seufzte. Sehr wahr, indessen habe ich mich doch darein gefunden.

O ja, bis auf das Zureiten wilder Pferde, was, soviel ich weiß, nicht zum Chargé d'affaires gehört.

Immer kommst du darauf zurück.

Weil es uns zurückbringt in's Vaterland,[122] lieber Freund, das du übrigens fürchte ich, sehr verändert finden wirst.

Wollen sehen, brummte Kronfeld. Ich bin aber genesen, und es kann auch anders kommen, und wäre überhaupt gar nicht dahin gekommen, wenn die italienischen Ärzte besser wären, und wenn die dumme alte Wunde nicht gerade dem Armbruch so nah' – ich hätte bleiben können, sollen.

Roderich! Du hast Mutter und Schwester am Brustleiden verloren.

Aber Josephine? ist sie nicht gesund und kräftig? bin ich's nicht auch? Haben mich die vielen Reisen angegriffen? Hast du mich vor dem unglücklichen Sturze klagen hören?

Anna wollte etwas erwidern, als sie durch den Eintritt einer alternden, trotz den ergrauenden Haaren noch immer hübschen Frau unterbrochen ward, deren äußere Erscheinung zwischen der einer Dienerin und einer bürgerlichen[123] Hausfrau in sehr glücklich gewählter Mitte stand. Sie war ein wenig altmodisch gekleidet, mit kurzen Ärmeln, ein klares etwas gesteiftes über einander gefaltenes Battisttuch umschloß ihren Hals, die schwarze seidene Schärpe mit den Seitentaschen fehlte auch nicht, die Französin war vom Scheitel bis zum zierlichen Fuß unverkennbar. Auch sprach sie Französisch und nur zuweilen ein übelbehandeltes Deutsch. Ihr erster Blick suchte die Knaben, dann übergab sie der Frau Gräfin eine Visitenkarte.

Kann weder der Jäger, noch der Bediente sie bringen, Sophie? fragte der Graf, etwas gereizt. Sie wissen, ich liebe dergleichen Unordnungen im Dienst nicht.

Verzeihung, Herr Graf! aber –«

Mein Gott! rief Anna, welche die Karte angesehen, mein Vetter Otto!

Was? der kleine Bergstudent, der deinetwegen in die weite Welt lief?[124]

Ist nun groß und stattlich geworden, beinahe so stattlich wie der gnädige Herr, versicherte Sophie. In einer Stunde will er wieder anfragen. Er ist ein gelehrter Professor, in Basel geworden, und der Wirth erzählte mir, er sei ein entsetzlich berühmter Mann und habe irgend was entdeckt; auch zogen eine ganze Menge Schüler hinter ihm drein.

Das ist ja kaum möglich, sagte Anna, die Karte wieder und wieder überlesend, der ganze Mensch ist ja doch erst fünfundzwanzig Jahre alt.

Wird auch nicht so arg sein, meinte Kronfeld. Ma bonne ist immer freigebig gegen ihre Lieblinge gewesen und hat auch mich vom Secondlieutenant zum Hauptmann avanciren lassen.

Aber der Herr Graf sind es ja doch auch nachher geworden, sagte seufzend Sophie, eine weit zurückliegende Erinnerung umflorte ihr Auge.

Leider ja, durch das Abschiedspatent. Ach,[125] liebe Sophie, das waren schöne Tage, obschon du während derselben meine Freundin und Feindin zu gleicher Zeit gewesen bist. Aber wir wollen nicht davon reden, ich bin nun ein ergrauender Diplomat und muß meine Jungen versorgen.

Die Kinder waren längst wieder hereingeschlichen, sie hingen an Sophie wie Kletten.

Jungens, wollt ihr einen Hofmeister haben?

Von Pfefferkuchen, Papa? fragte der kleinste.

Nein, nein! schrie der älteste, ich mag keinen Hofmeister.

Anna stand immer noch da, wie eine Träumende; es war dunkel geworden, die Bedienten hatten den Thee servirt und Licht gebracht. Sie schaute gedankenvoll in die kleinen Flammen derselben, wie früher in die leuchtenden Alpen hinein; endlich sagte sie gepreßt: Ich wollte, ich hätte ihn wiedergesehen.

Fürchtest du die Erinnerung? fragte Kronfeld.[126]

Ja, erwiderte Anna, an seinem Bilde hängt das meiner ganzen Kindheit.

Ich bitte dich, liebe Anna! sprach Kronfeld, plötzlich wie durch Zauber ein Andrer geworden, indem er so edel und ruhig vor sie hintrat, daß sie unwillkürlich zusammenschrak, als habe sie etwas Ungerechtes gedacht, ich bitte dich, bedenke, wie sehr dieser junge Mann dich geliebt hat und was er gelitten haben mag; sei besonnen! Ich will noch einen Augenblick zu Lady Frederic hinübergehen, fuhr er französisch, mit einer leichten Wendung zu Sophien fort, bringen Sie die Knaben zu Bette oder übergeben Sie sie der Betty; ich kehre bald zurück. Wenn der Herr Professor Schulze kommt, wird Madame wol die Güte haben, ihn anzunehmen und zu unterhalten, bis ich wieder hier bin.

Anna blieb allein. Sie hatte längst ihre heitere Fassung wieder errungen, als nach etwa[127] einer halben Stunde ein Bedienter den Professor anmeldete. Otto hatte sich vortheilhaft entwickelt; er war sehr groß geworden und seine ehemals zu kleinen, zusammengedrückten Züge hatten sich ausgearbeitet und erweitert, sein Gesicht war bleich, aber auffallend schön. Rasch trat er auf Annen zu, als wollte er sie in die Arme schließen, dann wich er um ein Paar Schritte zurück und stand fast ungeschickt verlegen vor ihr, ohne das begrüßende Wort sogleich finden zu können.

Lieber, lieber Otto! rief Anna, ihm die Hand reichend, wie freue ich mich, daß du da bist.

Wirklich, Anna! wirklich? es freut dich? Er zog ihre Hand einen Augenblick an sein Herz, ließ sie aber sogleich wieder los. Nun, so freut es mich auch.

Ohne ihre Aufforderung abzuwarten, setzte er sich, gepreßt nach Athem ringend, auf einen[128] Stuhl ihr gegenüber; sie nahm ihren Fauteuil am Fenster wieder ein. Nun betrachteten sich Beide einige Minuten lang schweigend; in Beider Züge strahlte die Freude an des Andern Erscheinung.

Und du bist schon Professor, Otto? nahm endlich Anna das Wort, und wo?

Vorläufig nur in Basel. Ich bin nach der Schweiz gekommen, um einige Localbeobachtungen zu machen. Eine Entdeckung, die mir in die Hand gefallen, hat mir hier überall die Leute gewonnen. Sie haben mir die in Basel erledigte Professur angeboten, die manche Vorzüge hat; meine Zeugnisse waren gut. Ich habe die Stelle angenommen. Ein paar Jahre werde ich bleiben. Ich studire Schwedisch, ich will später zu Berzelius, er ist der Einzige, der mich anzieht. Davy ist noch in Italien.

Du bist gerade so geworden, wie ich mir[129] dich dachte, sagte Anna, nur noch geschwinder, als ich es erwartete.

Ja, siehst du, erwiderte Otto und wurde feuerroth, ich sagte dir's im Voraus. Du aber bist sehr vornehm geworden, eine Gräfin, eine große Dame, du hast Lakaien und Jäger, Kammerdiener und Zofen, und du hast auch noch deine prächtige alte Madame Sophie, von der du mir so oft erzähltest; ich habe sie den Augenblick nach deinen Worten wieder erkannt.

Ach, die Arme, fuhr Anna fort, froh, das gefahrlose Thema erfassen zu können, sie hat vor einigen Jahren ihren durch so viele Gefahren hindurch geretteten Sohn nun doch verloren. Der arme junge Mann ist an den Folgen einer Wunde gestorben, die er an den Ufern der Beresina erhalten hatte.

Wir waren nach Italien gegangen; Kronfeld konnte nach mehrjährigem Kriegsleben sich nicht sogleich an die diplomatische Laufbahn gewöhnen,[130] die ihm frühere Studien und Vorbereitungen anwiesen. Dort angelangt, übernahm er indessen doch einzelne geschäftliche Sendungen und diplomatische Reisen und ward endlich als Attaché der preußischen Gesandtschaft in Mailand angestellt. Etwa zwei Jahre nach meiner Vermählung gingen wir dahin ab. Da trat eines Abends auf der Straße eine todtbleiche und, wie es schien, todtmüde Frau auf mich zu und fragte mich nach mir selbst; sie hatte mich nicht erkannt.

O! sagte Otto, das ist natürlich, du bist unglaublich schön geworden; aber ich – hätte unter Tausenden dennoch dich erkannt.

Als ich den Klang der lieben, wohlbekannten Stimme hörte, rief ich laut ihren Namen; sie fiel ohnmächtig auf das Steinpflaster, noch ehe ich sie in meinen Armen aufzuhalten vermochte. Wir ließen sie sogleich nach unserer Wohnung bringen, von da an hat sie bei uns[131] gelebt. Auch an der Beresina hatte sie ihren Marc trotz seiner Wunden glücklich am Leben erhalten, in der Schlacht bei Leipzig, die der kaum Geheilte wieder mitfocht, erhielt er eine nicht gefährliche Quetschung am Bein von dem Druck einer Kanonenkugel, die ihn aber dienstunfähig machte. Sie flüchtete mit ihm nach Frankreich, wohin eine fast fanatische Verehrung seines Kaisers ihn zog; dort blieben sie. Die gute Sophie mußte zuletzt zu so mancher äußeren Noth einen gewaltigen inneren Kampf bestehen, als die Bourbons wieder auf den Thron kamen und sie ihrem Herzen nach sich über die erneute goldne Zeit zu freuen hatte, während sie mit Marc die untergegangene Sonne des Kaiserthums beweinte. Marcs Enthusiasmus für den Gefallenen fristete ihm eine Weile das Leben, im beglückenden Traume der hundert Tage endete er. Duguet war bei Geierspergs geblieben, indessen wollte es mit dem[132] neuen Herrn nicht recht gehen; er folgte seiner Frau nach Paris. Als aber die redlichen Menschen ihren Sohn begraben hatten, war es ihnen am natürlichsten, mich aufzusuchen und sich meinem Schicksal anzuschließen. Sophie nimmt sich jetzt meines Hauswesens an, wie einst des Waldau'schen, und pflegt meine Kinder.

Kinder! Du hast Kinder? Eine nicht zu bewältigende Rührung überhauchte die aufblitzende Empörung in Otto's Zügen. Er schwieg. Auch Anna fand kein Wort; es war gut, daß eben jetzt Kronfeld eintrat. Nach einer Stunde schon standen Anna und Otto einander ohne Verlegenheit gegenüber. Beim Abendessen hatten die Männer bereits eine Menge gemeinschaftlicher Gesprächs-Interessen und jede Spur von Verlegenheit war verschwunden.

Anna ging früh auf ihr Zimmer. Sie fühlte sich todtmüde. Denken mochte sie nicht. Kronfeld fand sie schlafend, als er durch ihre Stube[133] in die seine ging, er beleuchtete sie scharf mit dem Lichte, das er in der Hand hielt. Sie schlief wirklich. Bin ich nicht ein Thor! lachte er vor sich hin und schlich leise vorüber.

Am nächsten Morgen war Anna ihrer vollen Kraft sich wieder bewußt. Nein, sagte sie, ich wäre doch nicht glücklicher mit ihm. Was er forderte, hatte ich damals nicht, hätte es wol auch jetzt nicht für ihn. Er wird mich vergessen; er hat es wol schon tausend Mal gethan in dieser langen Zeit. Aber ihr Herz strafte sie Lügen.

Otto hatte sie nicht vergessen; er hatte nur nicht Zeit gehabt, den Schmerz zu hegen, der ihn so gewaltig ergriffen, denn er hatte zuerst sich in den Krieg gestürzt, und als dieser endete, tief in seinen Studien sich vergraben. Die Nachricht von Anna's Heirath hatte ihn, da sie gleich nach Beendung des ersten Feldzugs vollzogen worden, schon in Paris erreicht.[134] Ein paar leere Liebeleien, ein paar Momente des Sinnenrausches abgerechnet, hatte die Liebe sein Leben nicht eher wieder berührt, als eben jetzt in Bern, wohin er in den Ferien gekommen war. Anna's Wiedersehen verlöschte den leichten Eindruck und gab ihn der alten, nie ganz überwundenen Qual zurück.

Die ersten Tage vermied er sie, dann führte ein Zufall ihn ihr wieder zu. Sie hatte sich auf eine so verwandtschaftlich sichere Weise zu ihm gestellt, daß ihm sehr bald bei ihr am ruhigsten zu Muthe ward.

Männer wie Otto, die ihre Kindheit und Jugend in den Mittelständen verlebt haben, sind dem Einfluß des aristokratischen Benehmens vornehmer Frauen in hohem Grade ausgesetzt. Ohne eben verlegen zu sein, fühlen sie dennoch in höheren Gesellschaftskreisen sich etwas unsicher; um Alles in der Welt möchten sie keinen Verstoß begehen, besonders plagt sie eine[135] geheime Scheu, lächerlich oder gar ungehobelt zu erscheinen; so geben sie unbewußt der Einwirkung einer anmuthigen, nicht schwer sie niederdrückenden Ueberlegenheit sich hin. Schlägt doch diese Ueberlegenheit über all solche Abgründe leicht fliegende Brücken, erscheint sie doch so unbedeutend, der Gewalt und Kraft des männlichen Charakters gegenüber – nur bestimmt sie in all ihrer Unbedeutenheit erst diesen, dann den nächsten Augenblick, reiht Schritt an Schritt und Stunde an Stunde. Und auf diese Weise ist manche vornehme und sogar manche dabei recht häßliche und nicht sonderlich geistreiche Frau zur Circe gescheiter und ausgezeichneter Männer geworden.

Und nun Anna, Anna, die mit dem sichersten Weltanstande das einfache, wohlwollende Gefühl eines Kindes vereinte, Anna, die nichts für sich suchte, keine Art heimlichen Strebens hinter angenommenen Formen barg, in der Alles[136] lauter Wahrheit geblieben war, wie hätte Otto sich ihr zu entziehen vermocht! Bald sah er sie täglich; sie war wieder eben so freundlich und herzlich zu ihm als in den Zeiten ihres früheren Beisammenlebens. Wie hatte sie jede Erinnerung derselben sich zu bewahren gewußt! und dennoch mischte sich auch nicht die leiseste Andeutung eines Gedankens seiner damaligen Liebe in diese Bilder, die sie im magischen Glanze seinem Blicke täglich aufs Neue entfaltete; ja, oft vermochte er, ihr gegenüber, selbst kaum mehr daran zu glauben, daß sich damals sein leidenschaftliches Gefühl gegen sie ausgesprochen, daß er in jener unvergeßlich schönen, traurigen Stunde ein Glück geträumt, vor dem ihm jetzt schwindelte, daß er seine heißen Wünsche ihr gestanden, seine Hand ihr geboten.

Und doch war Otto keiner von den Männern, die sich die Vergangenheit absprechen, sie[137] annulliren wollen, weil sie nicht mehr in ihre Gegenwart paßt. Der helle Strom des Lebens floß ihm voll und tief durch die Seele und er scheute den Rückblick auf dessen veränderte Ufer nicht. Es ist unbegreiflich, wie wenig Menschen den Muth haben, wirklich glücklich oder elend zu sein, wie die meisten aus purer Feigheit mit einem Mittelzustande sich begnügen. Otto traute sich zu beiden die Kraft zu, darum schloß er die Augen nicht vor dem, was abgegrenzt, schmerzlich weit hinter ihm lag; er vergaß es nur momentan, weil sie es so wollte.

Anna dagegen berührte das Verlassen ihres väterlichen Hauses ungern. Es war der Wendepunkt ihres Daseins gewesen, es hatte ihrer Existenz eine andere fremdartige Färbung gegeben, die sie nicht mit Bewußtsein sich gewählt, die nicht ihr ganzes Wesen durchdrungen; in einzelnen Stunden war sie sich dessen bewußt.

Wenn sie von ihrer Mutter sprach, war es[138] von deren Leben, ihren Tod erwähnte sie nie. Sie sprach überhaupt ungern vom Tode – er ist so räthselhaft, sagte sie, und darum schaudert mir vor ihm; es geht mir wie den Kindern, die sich vor allem fürchten, was sie nicht kennen. Könnte ich ergründen, was der Tod ist, mir würde nicht mehr bangen.

Anna ehrte die christlichen Dogmen aus innigster Ueberzeugung, nur, äußerte sie oft, hat Christus selbst zu wenig über den Tod gesagt, denn die Auferstehung erklärt den Tod nicht; sie springt über das Grab hinaus in einen neuen Zustand mitten hinein.

Auch die Fabel der Alten, das schöne Bild geistiger Verklärung, der Psyche-Schmetterling, genügte ihr nicht. Die Raupe ist geflügelt worden, hat ihre Farben gesteigert, ihre Formen entwickelt und hinterläßt die Larve, wie eine Blume ihre Knospenkapsel, aber des Menschen Leib verwelkt und bricht endlich ganz und gar[139] zusammen, ihm entsteigt keine sichtbar veredelte und doch seiner Urform verwandte Gestalt. Ich glaube an die Fortdauer, eben darum graust mir vor den unlösbaren Räthseln des Todes.

Als du ein Kind warst, erwiderte Otto lächelnd, hast du mich oft mit dergleichen Fragen und Äußerungen geplagt, die ich, der Sprache nie sonderlich mächtig, dir nicht zu beantworten vermochte. Weißt du noch, wie ich mir damals half? Ich zeigte dir auf einem der Blätter im großen Bilderbuche der Natur die Antwort. Ich will's heute wieder so machen und aus unscheinbaren Substanzen, aus Gas und formenlosen Stoffen eine Gestalt dir erwecken, die wir zu den Urformen der unorganischen Natur zählen. Er ließ nach bekannten chemischen Proceduren einige Stoffe sich krystallisiren und fragte ganz trocken: Auf die Größe kommt es dir doch nicht an? Nun, könnte denn die flüchtige Substanz der Seele im Uebergange[140] mit uns noch unbekannten Stoffen sich nicht wie dieser Krystall zur eigenen Urgestalt erwecken? Da hättest du die Auferstehung des Geistes, die Verklärung seiner früheren, verborgenen Wesenheit. Laß den Körper als bloße Schale der Erde.

Du bist, sagte Anna, trotz all deiner Gelehrsamkeit immer noch der alte philosophirende Phantast, und glaube mir, ich bin immer noch das gläubige, aus allen Kräften der Seele aufhorchende Kind.

Ja, ja, sagte Kronberg ein wenig schläfrig, Sie beide harmoniren als unbewußte Poeten im Märchenfache, das merke ich; gedenken Sie aber einmal der Realität eines unpoetischen, ungelehrten, krüppelhaften –

Und krystallisiren Sie ihn in seine Urform als Whistspieler, setzte Anna scherzend hinzu.

Allerdings spielte ich gern, wenn wir einen vierten Mann hätten.[141]

Vor dem todten Whistmann fürchte ich mich gar nicht, versicherte Anna.

Und alle Drei setzten sich lachend an den Spieltisch und Kronberg fand seine Frau allerliebst.

Kronberg war ein wirklich gebildeter, unterrichteter Weltmann; die Naturwissenschaften aber waren damals keineswegs ein Gemeingut der Gesellschaft. Nur wenn durch seine Anwesenheit ein hochberühmter Reisender sie zum belehrenden Gesprächsstoff umschuf, erweckten sie ein durchgehendes Interesse, das demnach in den meisten Fällen entschieden der Persönlichkeit des Erzählers viel zu danken hatte.

Es war daher Kronberg durchaus nicht zu verargen, daß ihn Otto's Gespräche mitunter langweilten und er sich ärgerte, daß, wie er oft Annen versicherte, ein so grundgescheiter Mensch nicht im Stande sei, eine ordentliche Conversation[142] zu machen – und nicht einmal dir gegenüber! setzte er kopfschüttelnd hinzu.

Eigentlich hatte Otto überhaupt noch nie ordentlich mit einer Dame gesprochen; die jungen Mädchen, mit denen er auf selten besuchten Bällen verkehrt hatte, verstanden es eben so wenig als er, ein fortgesetztes Gespräch zu führen. In so jungen Jahren ist es meistens der Liebe allein vorbehalten, die Brücke des Verstehens zwischen den Geschlechtern zu schlagen.

In Bern erst war er einem Mädchen begegnet, mit der zu reden ihm gelungen war, er wußte kaum selbst, wie es zugegangen. Es war die Tochter eines armen Schreiblehrers. Der Vater, gelähmt und altersschwach, wünschte sie in einem Institute, in welchem er selbst bisher den Dienst versehen, an seiner Statt als Lehrerin unterzubringen. Die dem Plane sich entgegenstellenden Schwierigkeiten hatten Otto in dem Hause, in welchem er bei einem älteren[143] Collegen wohnte, mit dem hübschen Vrenely zusammengeführt. Die Professorin interessirte ihn für das arme Kind und suchte seine Fürsprache bei dem ihm befreundeten Institutsdirector für dasselbe zu gewinnen.

Trotz ihrer niederen gesellschaftlichen Stellung war das Vrenely ungemein beliebt in Bern. Der Vater mochte auch wol bessere Tage gekannt haben, wenigstens hatte er seinem Töchterchen eine sorgfältige Erziehung gegeben. In einigen höheren Kreisen freundlich aufgenommen, hatte das schöne junge Mädchen durch die Lieblichkeit seiner äußeren Erscheinung, durch die Anspruchlosigkeit seines ganzen Wesens die regste Theilnahme sich erworben.

Vrenely war durchaus von Anna verschieden; sie hatte wenig Muth, aber viel Pflichtgefühl, das den Mangel an jenem übertrug, und so unternahm sie in fast gleicher Lage mit der, aus welcher Anna zu ihrer jetzigen Stellung[144] durch die Generalin von Geiersperg gelangte, ihren eigenen Weg zu gehen, weil sie für ihren Vater es als nöthig erkannte. Mit vierzehn Jahren schon hatte sie kleine Kinder im Lesen, Rechnen und Schreiben unterrichtet und den Alten fast ganz und gar erhalten. Jetzt war sie siebenzehn. Es war die Rede davon, sie bei einem Doppelinstitute für Knaben und Mädchen, statt besoldeten Lehrers, die Stunden geben zu lassen; der Fall war noch nicht vorgekommen und der größte Theil der Gesellschaft interessirte sich für sie und ihr Anliegen.

Vrenely war, wie sonst wol eigentlich echte Katholiken zu sein pflegen, fromm und still die lange Arbeitswoche, ja den ganzen Sonntagsmorgen hindurch, dann aber nach vollendetem Geschäft fröhlich und guter Dinge, als breite das Leben einen Reichthum von Festtagen um sie her. Sie hatte den vollen kräftigen Wunsch, das Dasein zu genießen, aber auch den Genuß[145] zu verdienen. Sie hoffte unendlich viel von der Zukunft und stellte in ihrem Herzen jedem Worte, das sie ihren kleinen Zöglingen vorschrieb, eine mit allen Farben einer regen Phantasie ausgeführte Initiale voran, aus Engeln und Blumen zusammengesetzt; aber alle flossen in einen einzigen Wunderrahmen zusammen, der sich um ein schönes ritterliches Heiligenbild hinzog, als sie Otto gesehen. Er fand sie fast jeden Abend bei der alten Professorin; ihr gefälliges Äußere und ihre Herzensgüte gewannen ihn. Das Mädchen schien ihn zu lieben, aber sie dachte weder an Liebe noch an Heirath dabei, sie dachte nur – an Ihn. Sie hatte auch gar keine Zeit, ihr Gefühl zu betrachten oder zu analysiren; sie ließ es in sich walten, wie man die Sonne sich bescheinen läßt.

Da sah Otto unvermuthet Annen wieder. Es war vorbei, er dachte nicht mehr an das Vrenely; er kam gar nicht mehr herunter zur[146] alten Frau Professorin und hatte des selbst kein Arg. Ihn hatte eine höhere Gewalt ergriffen, seine Seele war wie von einem Blitzstrahl durchleuchtet, er konnte sich auf nichts Anderes besinnen.

Anna war wirklich unbefangen geworden; sie hatte die kurze Störung einer ihr unsäglich lieben Vergangenheit vergessen wollen, um den Jugendfreund sich zu bewahren, und es war ihr gelungen. In solchen Fällen ist das Gemüth der Frauen beweglicher, ja wechselnder, als das der Männer.

Mit jedem Tage fühlte sich Kronberg mehr und mehr gesunden; er betrachtete sich als völlig hergestellt und stand in eifriger Correspondenz mit dem Fürsten H., dem allgewaltigen Minister, der ihm gewogen war und durch dessen Gunst er eine wirkliche Gesandtenstelle in Rom, Florenz oder Neapel zu erlangen hoffte. Die nächsten Wochen, oder wenigstens die nächsten[147] Monate mußten hierüber eine Entscheidung bringen. Kronberg schwankte, ob er dieselbe in der Schweiz abwarten solle oder nicht.

Die Verhältnisse in Deutschland waren ihm unangenehm, sie drückten ihn. Mit einer rein legitimen, fast ritterlich poetischen Anhänglichkeit an König und Vaterland, die ihm sein kurzer Kriegerstand zurückgelassen, verband er den schon damals erwachenden, in unsern Tagen so allgemein und allgewaltig heranwachsenden Drang nach persönlicher Freiheit; die amtlichen Verhältnisse, wie günstig sie sich ihm auch gestalten mochten, ekelten ihn an; die für ihn zu hoffende Carrière, welche ihn unter unmittelbare Leitung des Ministeriums stellen mußte, genügte ihm durchaus nicht; nur ein Gesandtenposten, wo möglich der eines Ministerresidenten, gewährte, selbst wo er ihm die größten Rücksichten aufzubürden schien, seiner Ansicht nach, die Garantie einer persönlichen Unabhängigkeit,[148] die ihn, trotz allen mit ihr verbundenen Lasten der Gesellschaft, lockte und alle ihm sonst gebotenen Vortheile abweisen ließ.

Aber, sagte ihm Otto in einer langen Unterredung über diesen Gegenstand, fühlen Sie denn nicht, Herr Graf, daß im Verhehlen einer Gesinnung, in Darstellung irgend einer Thatsache, deren Färbung ein bestimmter Zweck bedingt, auch ein Zwang liegt? Und sollte dieser nicht größer sein als der eines Amtes, das seine feststehenden Formen und seinen festsitzenden Schlendrian mit sich führt?

Lieber Freund! erwiderte Kronfeld, man wird identisch mit seinem Staate und verhehlt, beschönigt, verschweigt gerade so, wie etwa der Einzelne in der guten Gesellschaft sich gern von der besten Seite zeigt. Glauben Sie mir, der Triumph eines feinen Diplomaten ist der süßeste auf Erden, – ausgenommen der einer schönen Frau, schloß er lachend, zu seiner Gemahlin[149] gewendet. Pardon! Er küßte ihr schmeichelnd die rosigen Fingerspitzen.

Otto fühlte sich unangenehm berührt, ja wunderlich geärgert und verletzt. Diese Galanterie, mochte sie noch so zart und ritterlich sein, verwundete ihn jedesmal, wenn Anna der Gegenstand derselben war. Sie war ihm so heilig und er noch ein recht gläubig Liebender. Er ließ das Gespräch fallen.

Kronfeld glaubte, er habe ihn nicht verstanden. Diese Gelehrten, sagte er verdrießlich zu sich selbst, vermögen mit ihrer mathematischen Weisheit die Sonnenstäubchen zu berechnen, aber im gemeinen Leben können sie nicht drei zählen. Wenn's Glück gut ist, meint der, ich wolle den p.....schen Staat auf meine Schultern nehmen und durchs Weltmeer tragen, wie St. Christophorus den Herrn!

Anna sah Beide an und lächelte, sie verstand Beide, nur hielt sie Otto's Liebe für[150] minder ernst; sie hatte gerade genug über das hübsche Vrenely gehört, um nicht an die Unvergänglichkeit dieser Liebe für sich selbst glauben zu müssen – so glaubte sie nicht daran. An die Möglichkeit einer heftigen Leidenschaft dachte sie gar nicht, theils traute sie dem Jugendfreunde sie nicht zu, theils fehlte ihr der Maßstab für dieselbe, und überhaupt träumte Anna nicht und wiegte sich nicht in Emotionen. Ihr ernster Charakter gehörte nicht zu den romantischen; sie bebte zurück vor der eigenen Kraft und Tiefe ihres Wesens, wenn irgend ein Umstand den Schatten derselben an ihr vorübergleiten ließ, ohne ihn zu erkennen, wie zuweilen ein unverstandenes Geisterleben durch einen Mark und Bein erschütternden Schauder uns schreckt, den wir nicht zu erklären vermögen. So vergingen mehre Wochen.

Otto fing indessen doch allmälig an, sehr zu leiden; er sah täglich mehr ein, daß Anna[151] weder ihn, noch seine Liebe begriff – und die Leidenschaft will verstanden sein, um jeden Preis verstanden! Er verlangte, daß sie wisse, was er um sie erduldet, wie damals ihr Verlust sein ganzes Dasein umgestaltet, welchen unermeßlichen Schmerz sie ihm gegeben. Mehr forderte er nicht; er suchte nichts zu erreichen, nicht einmal ihre Liebe. Was konnte diese Liebe ihm gewähren! Otto war ein frommer, ganz einfacher Mensch; ihm war die Ehe eine chinesische Mauer, die unwiderruflich von jeder Hoffnung auf die Geliebte ihn schied.

Auch Vrenely ward des eigenen Herzens sich mehr und mehr bewußt; es war so finster in ihrer Seele geworden. Der frohe Muth, mit dem sie sonst allmorgendlich erwachte, war plötzlich wie versunken in ihrer Brust. Wie ward ihr Alles so bitter schwer. Sie hatte nun die lange gewünschte Stelle erhalten; sie konnte ihren alten Vater ernähren und pflegen – aber,[152] ach! ihre Stunden gab sie nicht mehr gern. Wie erbärmlich kam es ihr jetzt vor, nur kleine Kinder schreiben und buchstabiren zu lehren; wie gar gering, wie mangelhaft war nicht eine solche Kenntniß! Was mußte nicht die wunderschöne Frau, die sie so oft mit Otto am Schulhause vorübergehen sah, alles wissen und Ihm sagen können.

Sie besann sich jetzt auf jedes Wort, das er früher mit ihr gewechselt, – das hatte sie sonst auch wol Nachts oder in einzelnen freien Stunden, und, ach! wie gern gethan, aber damals war es ihr immer vorgekommen, als enthalte die ganze Welt nichts Schönes oder Edles, das sie nicht mit ihm besprochen – nun sie es sich so recht innig-grausam überlegte, hatte er ja nur ganz oberflächlich von dem Nächstliegenden zu ihr geredet. Er hatte ihr Vieles erzählt, aber vielleicht hatte er damals schon bei dem Allen gar nicht an sie gedacht, sondern immer[153] nur an die schöne Fremde mit den langen blonden Locken.

Otto ahnte von dem Allen nichts. Gibt es etwas Traurigeres, als dieses Nebeneinanderleben und Leiden, wo keiner auf den Andern sieht, ja nicht einmal die Qual eines nahen und liebenden Herzens beachtet? Und jeder meint dennoch, eine Unermeßlichkeit der Empfindung in sich zu tragen, und sie reicht nicht einmal für den dicht neben ihm Stehenden, neben ihm Weinenden aus!

Das Ende der Herbstferien nahte, mit Entsetzen dachte Otto des Augenblicks, der ihn von Annen trennen mußte. War er schon nicht glücklich in ihrer Nähe, empfand er dennoch einen Todesschauer bei dem Gedanken, die Abende, die er jetzt großentheils bei Kronfelds zubrachte, künftig ohne sie in Basel durchleben zu müssen. Unwillkürlich ging er jeden Tag etwas[154] früher hinüber, mit jeder Stunde, ach, mit jeder Minute hätte er geizen mögen!

Eines Abends, als er dem Hause zueilte, gewahrte er den Reisewagen des Grafen, der eben, schwer bepackt, aus dem Hofthor und die Straße entlang rollte; Duguet, mürrisch, in seinen dicken Pelz gehüllt, saß auf dem Bock – das mußte nach Norden, die Nacht hindurch, weit, weit gehen, großer Gott! war sie ihm denn schon wieder verloren?

Das nämliche Gefühl, mit dem er einst den Brief aus der Hand legte, der ihm Anna's Reise nach Berlin verkündigt hatte, überfiel ihn jetzt mit plötzlicher Gewalt und wälzte sich erstickend auf sein Herz; ihm vergingen die Sinne. Ohne zu bedenken, daß er auf offener Straße sei, lief er dem Wagen eine weite Strecke nach; als die Unmöglichkeit, ihn zu erreichen, endlich seine Schritte hemmte, stürzte er eben so mechanisch in wilder Hast zurück und dem Hause zu, das[155] die Familie bewohnte. Unten im Hofraum stand Philipp, des Grafen Reitknecht, und wusch den zweiten Wagen, in welchem Anna häufig auszufahren pflegte. Sie ist noch da! schlug es an Otto's Herz! Er trat in das Haus, die Mägde waren emsig mit der täglichen Arbeit beschäftigt, nirgend gewahrte er eine Spur von Reiseanstalten oder Unruhe. O guter Gott, sie ist noch da! Er lehnte sich erschöpft an die Treppenbalustrade und vermochte nichts weiter zu denken, kaum sich auf den Füßen zu erhalten. Ein Strom von Glück und Dank flutete auf in seinen Adern, in seiner Seele. Sie mußte noch da sein, da lagen ihre Handschuhe, ihr Hut. Sie war im Nebenzimmer; sechs Schritte, so stand er ja vor ihr.

Der starke Mann zitterte wie ein Kind und hatte lange nicht den Muth, die sechs Schritte zu thun. Endlich öffnete er die Thür des Salons; am Tische saß das Vrenely zwischen den[156] beiden kleinen Knaben und gab ihnen Schreibstunde. Otto rang nach Athem und blieb an der Schwelle stehen, da trat Anna hinzu; sie war im Hintergrunde des Zimmers gewesen. Das Vrenely war aufgesprungen von seinem Stuhl, die beiden Frauen standen neben einander.

Zum ersten Mal durchzuckte ihn eine Erinnerung an sein früheres Benehmen gegen das Mädchen, welches schon wieder zwischen den Kindern saß. Seit den acht Tagen, da die Stunden begonnen, hatte sie ja Zeit gehabt, auf diesen innerlich schon hundertmal durchlebten Augenblick sich vorzubereiten, sie beugte sich unter dessen Gewalt, wie eine Lilie unter dem aufstürmenden Nachthauch, aber sie blieb gefaßt. Anna war ruhig, wie immer; sie blickte sinnend bald Otto, bald das Vrenely an. Ob er sie liebt? fragte sie sich leise und eine helle Röthe überflog ihre Wangen; sie wußte ja, er liebe sie selbst.[157]

Otto blickte mit tiefer Glut auf Anna's schöne Züge, die der rosige Hauch verklärte; er hatte das arme Vrenely bereits wieder vergessen. Ich glaubte dich fort, Anna! ich hatte den Wagen gesehen, entrang sich fast tonlos seiner Brust.

Du! er nennt sie Du! widerklang es in Vrenely's Herzen.

Fort, ohne dir Lebewohl gesagt zu haben? wie wäre das möglich, Otto!

Hast du es nicht bereits einmal gethan? fragte Otto sehr bitter. Zum ersten Mal war er empört über Anna's Unbefangenheit.

Die Röthe auf ihren Wangen wich, sie ward blaß, sehr blaß. Du solltest jetzt und überhaupt niemals mich daran erinnert haben, Otto! es wäre großmüthiger gewesen, edler. Du hast Kronfeld's Reisewagen gesehen, er ist nach Karlsruhe. Der Minister H. kommt auf der Rückreise dort durch. Roderich will ihn sprechen. Es hat sich schnell, in wenig Stunden gemacht.[158] Nach beendigter Lection der Knaben wollte ich zu dir schicken, dir es sagen zu lassen. Kronfeld grüßt dich herzlich, er kommt in sechs bis acht Tagen zurück. Uebrigens, mein Freund! fuhr sie freundlicher und sehr weich fort, übrigens sollte man Todte ruhen lassen, und diese Vergangenheit mit all ihrer Lust und all ihrem Leide muß todt sein – sie ist an der Gegenwart gestorben. Otto, ist uns denn nicht noch unendlich viel an einander geblieben? Sie bot ihm mit tiefer Rührung die Hand.

Vrenely saß mit dem Rücken gegen die Sprechenden gewandt, aber sie hörte das halblaut geführte Gespräch. Sie hatte ihre Stärke überschätzt, das empfand sie jetzt erst. Hatte sie doch das ganze Anerbieten, den Kindern Stunde zu geben, nur angenommen, weil sie Ihn sehen wollte. Ihn neben ihr! Es war ihr gewesen, als müsse sie dann mit einem Male genesen von all der Qual, oder daran sterben,[159] und nun tödtete das Allerunerwartetste sie nicht, sondern die Qual wuchs und überwuchs in tausend Gestalten zugleich all ihre Vorsätze und Kräfte.

Anna und Otto standen in einer Fensterbrüstung vor einander und sahen sich wehmüthig an, das Vrenely hatten jetzt Beide vergessen.

Anna, flüsterte er endlich, die dargebotene Hand leidenschaftlich an sich ziehend, ich habe es lange schweigend ertragen. Warum hattest du mir das gethan! War ich dir denn damals gar nichts? Ist dir denn in diesen vielen Jahren nie eingefallen, was du in mir zerstört, was ich um dich gelitten.

Otto, ich war ein Kind, funfzehn Jahre. Kannte ich denn das Leben, wußte ich, was ich that? Jetzt weiß ich es, ich hätte anders handeln sollen und müssen. Ach! glaube mir, es hat mir oft unsäglich leid gethan.

Wo wäre die Liebe, die bei solchen, wenn[160] auch absichtslos gesprochenen Worten nicht, von tausend zündenden Funken durchglüht, aufloderte zur verzehrenden, jedem Gesetze Trotz bietenden Leidenschaft? Anna, die er so kalt geglaubt, Anna fühlte also, daß sie unrecht an ihm gehandelt; sie hatte es bereut, sie hatte um ihn, mit ihm gelitten. Wie anders wäre vielleicht Alles gekommen, wenn Josephine sie nicht überredet, ja durch ihr Uebergewicht sie vielleicht gezwungen. Jeder Vorwurf, den er der Geliebten gemacht, war aus seinem Gedächtnisse entschwunden. O wie sophistisch ist die Neigung! Otto vergaß die ganze schmerzliche Vergangenheit, ja die ganze noch schmerzlichere Gegenwart, er zog schweigend Anna's zitternde Hände an seine Lippen und zum ersten Mal im Leben überströmten heiße Thränen das schöne männliche Gesicht.

Anna erschrak, sie wußte nicht, was zu thun; sie empfand ihre eigne Unvorsichtigkeit, ihrer[161] Kinder und Vrenely's Nähe. Sie vermochte nichts, als ihn bittend anzusehen und leise ihre Hände den seinen zu entziehen. Jetzt kehrte auch ihm die Besinnung und das Gefühl des unwiederbringlichen Verlustes zurück, schneidend kalt ließ er sie los und wandte sich von ihr ab.

Mußt du die Wege noch weiter von einander leiten, Otto? fragte sie mit einem unaussprechlich trüben ernsten Ausdruck. Aber der Schmerz hatte ihn überwältigt; er zitterte heftig und griff in der Aufregung nach einem in der Nähe stehenden Tischchen, um sich zu stützen; die auf demselben befindlichen Gläser klirrten gegeneinander und Vrenely wandte unwillkürlich den Kopf. Er weinte; nun wußte sie ja Alles! und so ganz war sie vergessen, daß er in einem solchen Augenblicke nicht einmal ihre Anwesenheit gewahrte. Auch das Mädchen weinte heiß und still, aber die arbeitgewohnte Hand führte dennoch die kleine Hand des Knaben,[162] der eifrig seine Grundstriche machte. Das arme Vrenely war nicht an heftige Äußerungen gewöhnt.

In Anna's Seele regte sich jetzt zum ersten Mal eine Ahnung der tiefen Leidenschaft, die Otto seit Jahren für sie empfunden und treu bewahrt hatte, und vor ihr richtete, einem Gorgonenhaupte gleich, die Verantwortlichkeit sich auf; der leiseste Hoffnungsschimmer mußte ihn verwirren, die entschiedene Zurückweisung konnte seine Thatkraft hemmen im Augenblicke ihrer Entwicklung. Ach, und die Seele hat auch ein Janushaupt mit doppeltem Antlitz! Mitten in diese wahrhaft edle Empfindung mischte sich der egoistische Schmerz: Beide nicht glücklich, beide liebelos den langen leeren Weg des Lebens! Noch nie hatte Anna so klar sich's einzugestehen gewagt, daß sie ihren Gemahl eigentlich nie geliebt; vor der ungeheuern Wahrheit in Otto's Gefühl brach plötzlich diese[163] Ueberzeugung herzzerreißend, fast vernichtend grell an das Licht, aber sie stand ruhig, den Blick zur Erde gesenkt und nur die blonden Locken zitterten über der heftig pulsirenden Ader an den Schläfen.

Gerade dies Schweigen vernichtete den letzten Rest der Kraft in Vrenely's Brust; sie hielt diese plötzliche Stille für den lautlosen Ausdruck des Glücks, weil sie selbst wortlos so unsäglich glücklich gewesen; ihr war, als stürbe sie in diesem Augenblick, ihr Köpfchen sank auf die Lehne des Stuhls, auf welchem ihr kleiner Zögling saß, und unaufhaltsam flossen ihre Thränen. Da trat Sophie zu ihr, die vor wenig Secunden durch die Alkoventhür hereingekommen war; die Stunde hatte geschlagen, ma bonne wollte die Knaben abholen. Der kleinste saß in seinem hohen Stühlchen fest eingeschlafen, Vrenely hatte es nicht bemerkt; der ältere schrieb noch, aber in immer krauseren[164] Schriftzügen. Sophiens Falkenauge überflog die beiden Gruppen, sie begriff alles.

Sie sind unwohl, liebe Mamsell, sagte sie leise, indem sie hinter des Mädchens Stuhl trat, um die Weinende mit ihrer Gestalt den im Fenster Stehenden zu verdecken. Fürchten Sie nichts, es hat's niemand gesehen. Kommen Sie, wir wollen auf mein Zimmer oder in den kleinen Hausgarten gehen; es ist beklommen hier, frische Luft wird Ihnen wohlthun.

Vrenely richtete das freundliche Auge dankend zu ihr auf, an den langen schwarzen Wimpern hingen die hellen Thränen, wie Thau an einer dunkeln Blume; sie war keines erwidernden Lautes mächtig.

Die Kinder – der Kleine war erwacht – sprangen fröhlich auf die Mutter zu, Anna beugte sich liebkosend zu ihnen nieder; ihr Herz ward stiller.

In Otto regte sich plötzlich bei diesem Anblicke[165] die entzügelte Furie der wildesten Eifersucht, mit einem unterdrückten Schmerzensschrei schlug er beide Hände vor das Gesicht.

Vrenely war aufgestanden und schwankte eben an Sophiens Arme der Thüre zu; der leise Aufschrei traf ihr Ohr. Unfähiger noch, seinen als den eigenen Schmerz zu ertragen, erlag das arme Kind so vielen zugleich es bestürmenden heftigen Gefühlen, es fiel ohnmächtig in ma bonne's Arme und mußte hinausgetragen werden in deren Stube.

In tiefster Seele erschüttert, blieben Otto und Anna zurück, des Mädchens Schmerz hatte zu unwiderlegbar laut gesprochen, er bedurfte wenigstens vor diesen Beiden keiner Erklärung. Lange fanden weder sie noch er ein Wort, Otto stand mit untergeschlagenen Armen, als trotze er der neuen Qual, die ihren Schatten über seine Tage legte; die Gräfin saß wie am ersten Abende im Fauteuil am Fenster, aber sie blickte[166] nicht mehr auf die erglühenden Gletscher und Alpen, sondern in die viel starrere und schroffere Natur des menschlichen Gemüths.

Was wirst du thun? fragte sie endlich.

Ich weiß es nicht, antwortete er wild, und es kümmert mich nicht; ich bin an dem allen nicht Schuld. Leide ich denn etwa nicht?

Otto, sagte sie sehr sanft, ich glaube, du mußt uns sobald wie möglich verlassen.

Du willst mir die einzige kurze Freude meines geknickten Jugendlebens misgönnen? Bleibt mir denn etwa außer diesen paar Augenblicken mit dir noch so gar viel, daß ich sie wegwerfen könnte, wie welke Blüten, oder sind sie dir eine Last? Hat dich meine Leidenschaft etwa überlaufen wie ein zudringlicher Gläubiger? Habe ich irgend etwas verlangt? dir eine Untreue, eine Erwiderung aufgebürdet? Ich will ja nichts von dir, als deine Gegenwart, die jeder Bettler hier mit mir theilt.[167]

Anna, Anna! fuhr er fort, immer heftiger im Zimmer auf- und niederschreitend, du kennst mich nicht; reize mich nicht durch Sophistereien, mache mich nicht zum wilden Thier, das in der Wuth des Schmerzes alles zerreißt und niedertritt. Was geht das Mädchen mich an? Habe ich ihr je ein Wort von Liebe gesagt? Was kümmert mich außer dir die ganze Welt!

Ich weiß es nicht; aber sie hat sich geliebt geglaubt. Ein Recht dazu konntest du auch ohne Worte ihr geben – – und mußt es irgendwie gethan haben; das Kind ist so bescheiden. O, glaube mir, es ist gut, ja nöthig, daß du gehst. Werde ich dich denn nicht vermissen? Ach, ich hatte mich ja so unbeschreiblich auf Basel und unser Wiedersehen dort gefreut!

Nun, Anna! nun?

Ich irre vielleicht, wir Frauen verstehen ein[168] Männerherz so schwer in all diesen Verhältnissen. Ich kann dich nur bitten, lade keine neue Schuld auf dein Haupt, keine auf mein gedrücktes Herz.

Du? rief er, auf sie losstürzend, als wolle er ihr zu Füßen sinken, du schuldig, und durch mich? Engel! und worin? Er preßte ihre zitternden Hände gegen seine glühende Stirn, dann eilte er fort.

Mehre Tage traf er sie nie allein. Er hatte anfangs wegbleiben wollen, doch es nicht vermocht. Jetzt fand er sie beständig von Sophien und ihren Kindern umgeben, sogar Frauen aus Bern als Besuchende bei ihr. Nie war ihm Anna reizender erschienen, als in diesem milden, besonnenen Versagen, in dieser Scheu vor allem Unrecht; aber ihre Absicht erreichte sie nicht, denn sie entflammte ihn nur zu immer heftigerer Leidenschaft. Sie bedachte nicht, daß sein ernster, einfacher Sinn sie ohnehin jetzt[169] vor neuem Aussprechen seines Gefühls schütze; nur das Ueberraschende des Moments hatte ihn zu Ausbrüchen fortgerissen, die er selbst strenger tadelte als sie.

Vrenely war krank geworden. Anna besuchte sie täglich; sie erzählte ihr, wie zufällig, von ihren Kinderjahren und der schönen mit ihrem Vetter verlebten Jugendzeit. So schien äußerlich alles beschwichtigt und in das alte Geleise zurückgekehrt; die Stunden mit den Kindern sollten nächstens wieder beginnen. Otto hätte wahnsinnig werden mögen, jede Regung seines Wesens fühlte er gezügelt und tief im Innern den gigantisch tobenden, blind wüthenden Schmerz.

Mit bewundernder Schwärmerei schloß sich das arme Mädchen der schönen gütigen Frau an, die ihr so viel Wohlwollen erzeigte; sie glaubte Sophien, die ihre Ohnmacht dem plötzlichen Eintritt der Krankheit zuzuschreiben schien,[170] obschon ihr klarer Sinn sich nicht zu bergen vermochte, daß des Geliebten Herz sich von ihr gewendet; sie fand nur eine Milderung ihres Geschickes in dem Gedanken, daß er Annen vor ihr gekannt und geliebt.

Dennoch müßte dieser künstliche Bau eines erträglichen Zusammenlebens zu einem sehr zweifelhaften Glück für alle geworden sein, hätte nicht ein ganz unerwarteter Brief Leontinens dem Augenblick plötzlich eine neue Färbung und neue Interessen aufgedrungen. Sie schrieb:


»Thue mir den Gefallen, herzliebe Anna, gleich bei Empfang dieser Zeilen so recht gründlich auf mich zu schelten; sage: ich sei von einem Leichtsinn, den man bei meinen einundzwanzig Jahren nicht zu entschuldigen vermöge. Meine Unüberlegtheit und Koketterie müßten und würden mich gewiß noch in unabsehbare Abgründe stürzen; auf diese Weise müsse ich geistig und körperlich zu Grunde gehen. Letzteres,[171] Gott sei's geklagt! fängt bereits an, nämlich beim Teint, den ich in diesen Tagen gar sehr vernachlässigt.

Wenn du nun im Zuge bist, kannst du gleich sagen, daß ich bei einem Haar zwei höchst achtbare, treffliche Kavaliere durch meine entsetzliche Frivolität auf zeitlebens elend gemacht haben würde, wenn sich diese lieben Kreaturen Gottes nicht glücklicherweise gleich mit einem zweiten Meisterstück der Schöpfung getröstet hätten. Wirf mir nun auch noch vor, daß ich bei der letzten an mich ergangenen, jedenfalls unverdienten Bewerbung, weil sie etwas sehr lange dauerte, am Ende nicht mehr recht Acht gab, aufsprang und beinahe – aber nur beinahe – in der Zerstreuung davongegangen wäre und den Freier stehen gelassen hätte, ohne alles abzuwarten, was er vorzutragen für nöthig fand. Ach, liebe traute Anna! zeichne mich schwarz, so recht kohl-pech-raben-sünden-schwarz, dann[172] aber ruhe aus und fasse dich, denn das Schlimmste kommt noch! ich habe einen viel ärgeren, viel tolleren Streich begangen, als diese alle – ich bin davongelaufen! Mit einem Liebhaber? O Gott, nein, Kind; vor einem Liebhaber, weil er sehr langweilig wurde.

Nun bin ich aber in Solothurn, zwei, drei Meilen von euch, und meine Babet sitzt neben mir, betrachtet verzweifelnd meine zerknitterte Haube und meinen entfärbten Kapot, und versichert: daß sie nicht weiß, wie das alles enden soll! – Nun gerade so weit bin ich auch.

Im Grunde war die Geschichte ganz einfach Als die Saison in Baden beendigt, wollten wir, wie du weißt, nach Straßburg, wo Geierspergs Nichte heirathen und wir – das heißt ich – dazu tanzen sollten. So weit war alles gut; nun aber denke dir meinen Todesschreck, macht uns am zweiten Tage unseres Aufenthaltes dort mein frühester, ehemaligster[173] Ver- und Entlobter, Vetter Albert, eine angenehme Ueberraschung, kommt von Koblenz aus angefahren und trifft, mir nichts, dir nichts, in Straßburg mit uns zusammen.

Und nun geht das Anhalten noch einmal los, und ich bin in dem letzten halben Jahre um ein ganzes älter geworden, denn Geiersperg erklärt mir peremptorisch, ich sei mündig und ganz mein eigner Herr, vermuthlich aber nicht meine eigne Frau, da ich, wie Babet sagt, absolument seinen Vetter Albert nehmen soll.

Ich höre das alles an, sage nicht ja, nicht nein. Nun wird der General zornig und fragt: Misfällt dir sein Äußeres? – Gar nicht, Papa. – Ist er nicht gebildet, wohlhabend, Graf? Was kann in seinen Verhältnissen dich abschrecken? – Rien au monde, papa. – Hast du irgend eine andere Neigung? – Für den Augenblick, nein, Papa. Nun ging ein entsetzliches[174] Donnerwetter über meinen Uebermuth los. Ach, Herzens-Anna! sie redeten alle so in mich hinein, Albert war so außerordentlich zärtlich, schön, glücklich, dazu war es himmlisches Wetter, man konnte an einem solchen Tage Niemand betrüben. –

Da habe ich vermuthlich ›ja‹ gesagt; denn gleich darauf ging's an ein Herzen, Küssen, Danken, Gratuliren daß es eine Lust war.

Nach der Hochzeit der Cousine machten wir alle eine kleine Reise nach Trier, Albert immer mit; wir sahen schöne Alterthümer und unverfängliche Leute; es ging prächtig. Gerade unter der Porta nigra überkömmt mich der alte Ennui. Ich fange an zu experimentiren, gerade wie in der Pension. Bald servire ich ihm heiß, bald kalt, bald glüht er, daß er fast besinnungslos zu meinen Füßen liegt, bald schilt er mich, wird bitter, heftig, scharf, schroff. Das war doch nun wirklich endlich eine Abwechselung,[175] und ich bitte ihn um Verzeihung. Aber mit einem Mal wird mir's fatal – aber ganz fatal – ich begegne einem jungen Manne; er grüßt her, ich grüße hin. Ach, lieber Engel! es war eine so unschuldige Liebesgeschichte, Mädchen von vierzehn Jahren könnten sie lesen. Wird mir mein Verlobter wild, aber wild wie ein Türke. Geiersperg hält lange wohlgesetzte Reden, Mama macht Vorstellungen, Babet sagt: Aber wenn nun das gnädige Fräulein durchaus nicht mögen, da thäte ich's absolument nicht!

Babet hat den Stein der Weisen gefunden, denke ich, und kurz, wie wir eben von St. Bern-Kastell aus das himmlische Moselthal entlang schauen, sage ich: Albert, wir wollen es doch lieber gut sein lassen, wir passen doch nicht für einander! Und wie nun so recht das Lamento und die ganze betrübte Geschichte im Gange sind, fängt mir der Mensch an zu weinen.[176] Großer Gott! – denke ich, das Weinen halte ich nicht einmal von der Babet aus, wenn sie ein Battisttuch versengt hat, sondern schenke es ihr immer lieber, damit sie nur gleich aufhört – was soll daraus werden? Ehe ich mich noch besinnen kann, heirathe ich einmal in solch einem Accès den Vetter Albert frischweg und muß mich hinterher wieder von ihm scheiden lassen. Das geht nicht!

Und da fiel mir wie ein Lichtstrahl meine Anna ein, mit ihrer festen, treuen, starken Seele, und mein verehrter schöner Onkel, dem ich nicht die Hand, aber die Stirn küsse – halt! denke ich, nach Bern fährt gewiß ein Eilwagen, oder du nimmst einen Char à banc, die Babet packt so etwas nothwendigstes Zeug zusammen, und du flüchtest zur Tante Anna. Gesagt, gethan; wir erreichen Abends Kehl, Straßburg gegenüber, wo wir übernachten sollen, wir trennen uns ziemlich spät ganz doloros[177] und schwärmerisch; Geiersperg geht glorreich davon, weil er mich wieder einmal durch die Kraft seiner gediegenen Gründe besiegt, gedemüthigt und so zu sagen total herumgekriegt hat; Mama denkt Alles geschlichtet zu haben und geht ihrerseits mit ihrem Compensations- und Nivellirungssystem zu Bette; Albert küßt mir die Hände; ich, ich lasse alles gut sein; wie sie aber sämmtlich in ihren Kammern sind, schreibe ich, wie's Maidli am Brünnli, meinem Schatz den allerletzten Abschiedsbrief, schleiche früh um vier Uhr, in der Morgendämmerung, ganz sachte mit der Babet und ihrem Päckchen zum Hause hinaus und sitze nun in Solothurn. Hier habe ich fürs Erste ausgeschlafen, dann mir die Gegend durch's Fenster beschaut, und von fern, aber nur ganz von fern, kann ich den Montblanc erblicken.

Die Solothurnerinnen tragen häßliche Mützen. Hier im Hause ist eine Dirne aus Schwyz, diese[178] hat eine schwarze Flügelhaube von Spitzen auf, die auf ihrem Kopfe wie ein dunkler Schmetterling aussieht, der auf einer Rosenknospe sitzt; das allerliebste Gesichtchen ist das einzige Lustige, was mir bis jetzt hier vorgekommen. Die Solothurnerinnen sehen alle entsetzlich fromm und ehrbar aus; die Stadt ist winklig und schmutzig: das hat mich zur Reflexion gebracht. Ich will doch lieber hier warten, bis ihr mich holt. Daß ich mit der Babet über Nacht allein im Wirthshause geblieben, mag wirklich unpassend genug sein, und nun ich aufgewacht bin, fürchte ich mich fast; die Leute sehen einen so besonders an. Wir haben gleich gefragt, ob der Onkel noch nicht da sei und gethan, als ob wir ihn erwarteten. Zögere nicht, lieber Engel, schicke schnell Duguet mit Pferden und Wagen – oder komme selbst zu

Deiner thörichten Leontine.«[179]


Otto war bei Annen, als sie den Brief empfing. Lies! sagte sie, ihm denselben reichend, ich muß doch sogleich hin. Ohne weitere Erklärung verließ sie das Zimmer, um die nöthigen Reiseanstalten zu treffen.

Duguet ist mit dem Grafen fort, und sie will allein in der Nacht fahren? schoß es ihm durch die Gedanken. Er eilte ihr nach; sie stand im Vorzimmer, von ihren Leuten umringt, denen sie ihre Befehle gab.

Anna! sagte Otto sehr sanft und ernst, es wird spät werden, laß deinen Jugendfreund dich begleiten.

Sie sah ihm fest in die Augen; eben in diesen immer ganz einfachen Worten lag Otto's Gewalt, tausend Eide hätten sie nicht sicherer gestellt. Sie fühlte das, und das Bewußtsein der edeln Zuverlässigkeit dieses Charakters leuchtete einen Moment auf in ihr, fast wie ein Glück. Schweigend bot sie ihm die Hand.[180] Um welche Stunde? fragte er. – Sogleich erwiderte sie; ich lasse nur anspannen.

In diesem Augenblicke übertönte das lustigste Charivari von Posthornklängen, Jauchzen und Schreien, Jubeln und Lachen ihre Worte; unwillkürlich eilten beide an's Fenster, unten hielt Kronberg's Wagen. Er selbst stieg eben heraus, ein junger Mann stand bereits am Schlag, den Rücken dem Fenster zugekehrt. Ehe noch Otto's fragender Blick dem ihren zu begegnen vermochte, legten sich zwei warme weiche Händchen auf Anna's Augen; sie wandte sich rasch, es war Leontine, Leontine in all ihrer Frische, in all ihrer glänzenden Heiterkeit.

Bist du mir bös? fragte unter tausend Liebkosungen der süßeste Schmeichellaut einer weiblichen Stimme. Bist du mir wirklich ganz bös? Aber es war schwer, ihr zu zürnen, wenn man sie ansah.

Leontine war blond, aber von jenem durchleuchtenden[181] Blond, das in den blauen Adern des schneeigen Teints, in den wie hingehauchten zarten Farben der Lippen, der Wangen, der blaßröthlichen Fingerspitzen überall sich ausspricht. Es war nicht möglich, etwas Dämonisch-Lieblicheres zu sehen als dies Amorsköpfchen, das wiederum zuweilen, aber selten, seine eigene Psyche schien, wenn Mitleid oder Neigung die reizenden Züge durchstrahlten. Und so war ihr ganzes Wesen: Dämon, Amor und Psyche, und der Muthwille der Hauptzug ihrer Erscheinung im täglichen Leben. Sie hatte sich ungewöhnlich spät entwickelt; jetzt war sie einundzwanzig Jahre alt und sah aus wie siebzehn.

Aber wie kamst du zum Onkel? fragte Anna nach den ersten Ausbrüchen der Freude; wie du, Kronberg, zu Leontinen?

Par compagnie, wie der Staar von Segringen ins Netz kam, würde Freund Hebel sagen, antwortete lachend Leontine.[182]

Ganz recht, sagte Kronberg, ich sah das Vöglein auf dem Zweige sitzen und fing mir es. Was sollte ich anders am Thor von Solothurn gewahren –

Als meine schönen Augen; nicht wahr, Onkel?

Er küßte ihr die Hand. Die meinen riß ich allerdings ein wenig groß auf. Das Uebrige könnt ihr euch ja leicht denken.

Nicht ganz, erwiderte Anna, denn noch immer begreife ich nicht, wie du so schnell wieder hier sein konntest.

Davon nachher, sagte Kronberg freundlich.

Otto war es, als führe ihm ein Messer in die Brust. Sie werden reisen, dachte er dumpf; dazwischen gaukelte Leontinens Bild vor seinen Sinnen.

Sophie war hereingeschlichen; sie vermochte es nicht, Leontinens Nähe zu entbehren. Leontine herzte und küßte sie und schmeichelte ihr[183] wie ein Kind. Komisch war es anzusehen, wie in der guten alten Bonne Respect und abgöttische Liebe für ihren Zögling miteinander kämpften; sie nannte Leontinen wol zehn Mal in einem Athem gnädiges Fräulein und Du, küßte ihre Hände und schalt sie zugleich wegen ihrer in Unordnung gerathenen Locken.

Auch Duguet hatte unaufhörlich im Zimmer zu thun, servirte zum ersten Mal in seinem Leben schlecht, präsentirte Pfeffer zum Thee und lachte endlich sogar mit über seine eigenen dummen Streiche, was bei seiner Dienstgewöhnung ganz unerhört war.

Erst jetzt fiel Annens Blick auf den Fremden. Es war ein junger Mann von vier bis fünfundzwanzig Jahren, nicht groß, nicht klein, kaum ausgezeichnet in der äußeren Erscheinung und dennoch blieb der erste Blick auf ihm haften; es war durchaus kein schönes, nur ein sehr edles Gesicht, nichts auffallend darin als die[184] gedankenklare, elfenbeinweiße und hohe Stirn, dann vielleicht noch der kleine etwas trotzig gewölbte Mund – in unserm Deutschland gehört ein schön geschnittener Mund zu den Seltenheiten – vielleicht also war es dieser künstlerisch geformte, fast ideale Mund, der so unbegreiflich das Auge fesselte, vielleicht war es auch nur das reine Ebenmaß der ganzen Gestalt und jedes einzelnen Zuges. Otto war unendlich schöner, aber jener sah vornehmer aus. Otto erinnerte an einen jungen Aar, von dem man jeden Augenblick erwartet, nun werde er die Flügel ausbreiten, jener schien keiner bestimmten Zeit, keinem bestimmten Lande anzugehören, und es fiel Niemand ein, ihn mit irgend etwas Anderem zu vergleichen.

Vergeben Sie, lieber Herr Gotthard, sagte der Graf, die Damen tragen die Schuld; wie Sie sehen, machen sie mich so verwirrt, daß ich vergessen habe, Sie meiner Gemahlin vorzustellen.[185] Liebes Kind, Herr Gotthard will so gut sein, unserer Knaben sich anzunehmen, was um so nöthiger ist, als – doch wo sind denn die Kinder?

Der ein Hofmeister? dachte Anna, das ist ja unmöglich. Sie verneigte sich verbindlich und sprach einige höfliche Worte; zum ersten Mal in ihrem Leben war sie verlegen, es überkam sie das Gefühl einer Mystification. Leontine hatte indessen mit angeborner Koketterie Otto in ein langes Gespräch gezogen, dessen Wogenspiel ihm über dem Kopfe zusammenschlug; ihm war es, als spräche er mit einer Fee oder Sylphide, so flatterten Wort und Gedanken hin und her. Als aber die Knaben kamen, die sie noch nicht gesehen, vergaß sie ihn mit einem Mal und ward mit diesen zum Kinde. Otto sah ihr verwundert nach.

Der junge Fremde schien überrascht, seine Zöglinge so klein zu finden, beugte sich aber[186] mit einer gewinnenden Herzlichkeit zu ihnen nieder und begann ein halblaut geführtes Gespräch, das ihn gleichsam mit den Kindern isolirte. Im Verlauf einer halben Stunde hatte er sie gewonnen; eigentlich hatte er sie nur befragt und sich von ihnen erzählen lassen, er hatte nicht mit ihnen gespielt, nicht einmal gescherzt, aber er hatte ihr Zutrauen erworben, denn als er sich beurlaubte, um auf seinem Zimmer Einiges zu ordnen, liefen beide ihm nach.

Anna! fragte jetzt Otto leise, was soll der junge Mann?

Gott weiß es, erwiderte sie, ich kann kaum umhin, die ganze Sache für einen Scherz zu halten.

Nicht im mindesten, versicherte Leontine, der Onkel hat ihn von Karlsruhe mitgebracht, um eure Kinder zu erziehen und mir ihn gleich in dieser Eigenschaft vorgestellt.

Ich habe den Minister gesprochen, sagte[187] Kronberg, als er endlich am späten Abend mit Anna allein war; ich erreichte Karlsruhe drei Stunden vor seiner Abreise und sah ihn bei sich und dann bei Sternheim, wo wir dinirten. Er hat mir goldene Berge versprochen, leider aber mit der unglücklichen Idee geendigt, mir den Vorschlag zu einer Sendung nach Petersburg zu machen; unterdessen hofft er mir die Stelle in Neapel verschaffen zu können; an Rom, meint er, sei vorläufig nicht zu denken. Ich bin nun genöthigt, nach Berlin zu gehen und dort zu verweilen, bis ich meine Instructionen erhalte, und bin jetzt nur zurückgekommen, um dir vorzuschlagen, hier oder am Rhein zu bleiben.

Otto geht ja zurück nach Basel, dachte Anna. Gut, sagte sie ruhig.

Ich meine, fuhr der Graf etwas verlegen fort, die Einrichtung für so kurze Zeit in Berlin mit den Kindern, dem indispensabeln Bediententroß,[188] den Ausgaben einer Hofpräsentation werden große Unkosten verursachen.

Ich bleibe gern, sagte Anna. Aber was soll der junge Mann hier –

Sonst, fuhr Kronberg fort, müßtest du in Berlin verweilen, bis ich von Petersburg zurückkehrte, und unserem Range nach ein brillanteres Haus machen als etwa Geierspergs. Freilich kann es einige Monate dauern und du bliebest allein dort.

Kronberg, sagte Anna fest, dann kann ich nicht hier bleiben. Frage mich nicht weitläufig, ich will hingehen, wohin du willst, aber nicht etwa Jahre lang ohne dich hier sein, glaube mir! – Indessen sage mir, was soll der junge Mann hier?

Die Kinder erziehen, liebe Anna! Es ist ein seltsames Ding mit diesem jungen Menschen, er ist mir sehr dringend vom Minister empfohlen; Näheres weiß ich selbst nicht. Indessen[189] scheint er das Seine gelernt, vorläufig aber keine Aussichten zu haben. Der Minister bat mich, ihn auf ein paar Jahre zu nehmen; er meint, späterhin werde man ihn als Privatsecretär bei einer Legation anwenden können. Der neueren Sprachen ist er vollkommen mächtig und ein sehr klarer Kopf – – Dir gefällt er nicht?

Gefallen, Roderich! Ich habe zehn Worte mit ihm gesprochen. Zum Glücke sind die Kinder zu jung, er kann ihnen nicht schaden. Mir sieht er zu vornehm aus, er macht einen ungewöhnlichen Eindruck; das meint auch Leontine.

Bah! die findet Alles ungewöhnlich, weil sie es selbst ist. Ihre kleine Escapade macht mir aber Kopfbrechen. Mein Schwager hat Unrecht; schon als Albert das erste Mal um sie anhielt, mochte sie ihn nicht. Schade, es wäre eine brillante Partie, der kleine Trotzkopf aber –[190]

Albert ist ein Schwächling.

Eh bien, ma chère! sie ist bedeutend genug, ihm nachzuhelfen. Das geben die besten Ehen. Aber du willst also nicht hier bleiben?

Einige Monate, ja – länger, nein!

Liebes Kind, du weißt, daß ich nicht eifersüchtig bin. Du hast wahrlich Verehrer genug gehabt, um diese Eigenschaft in mir zu wecken – und zu unterdrücken, schloß er fast galant. Aber die kleine Vrenely –

Anna erröthete; sie vermochte es nicht, Otto's Gefühl preiszugeben. Ich werde bleiben, sagte sie, bis Leontine mit ihrer Mutter ausgesöhnt ist, dann mußt du das Weitere bestimmen.

Ich danke dir und traue dir vollkommen, erwiderte er mit einem Anflug des edeln Ernstes, der ihn in einzelnen Momenten so liebenswerth erscheinen ließ; aber ich bin achtundvierzig Stunden gefahren und falle um vor Ermüdung. Er küßte sie auf die Stirn und ging.[191]

Beklommenen Herzens blieb Anna vor ihrer Toilette sitzen; sie kleidete sich gern allein aus, wie sie überhaupt ungern persönliche Bedienung brauchte. Madame Sophie erschien Abends nie, ohne daß ihr geklingelt worden. Es war eigen, welchen Unterschied ma bonne zwischen Annen und Leontinen machte. Die erste blieb immer ihre Gebieterin, die andere, trotz ihren tausend Launen, Bedürfnissen und Eigenheiten, das Kind, das sie erzogen.

Lange saß Anna so vor den tief heruntergebrannten Kerzen. Also nun wieder hingehalten mit leerem Versprechen! Wieder nach Petersburg und einem Phantom des Glanzes nachjagen, ohne Zweck und Ziel! Wieder ein momentanes Wirken nach außen hin, das der nächste Windstoß des Geschickes spurlos verweht! – Armer Kronberg! – – Und dann zu guterletzt die wiedergewonnene Last einer Geselligkeit, die sogar mich schon ermüdet! Mein[192] Gott, und ich bin so jung! – Wie viele, viele Jahre das so fortgehen kann: dies schön, geistreich, witzig, brillant sein müssen! Alles das nach gegebenen Gesetzen, wie einen Zehnten, den man abliefert!

Und dagegen Otto mit dieser stillen Unergründlichkeit seiner tiefen Seele! – Nein, ich liebe ihn nicht. Kronberg hat recht, so ruhig zu sein; aber ich will für ihn sorgen wie eine Schwester. O, wie bliebe ich so gern hier, diesen weißen Alpenhäuptern gegenüber, einsam und still wie sie! – –

Es war weit über Mitternacht, sie trat an's Fenster, die Alpen hatten ausgeglüht. Der Herbst hatte sein Schweigen über die Landschaft gebreitet, auf dem dunkeln Grunde der ungestörten Nachtstille leuchteten die Bilder ihrer Vergangenheit auf. Kronberg stand wieder vor ihrem inneren Auge, wie er sich nach dem ersten Feldzuge um sie beworben. Wie fern schien[193] jene Zeit zu liegen! Damals, wie edel, wie fest zeigte sich sein Streben! Welcher Aufopferung mußte sie ihn nicht fähig halten, wenn er seine künftigen Pläne und Wünsche ihr entfaltete! Mit ihr auf seinen Gütern leben, seine so lange gedrückten, zur Knechtschaft herabgewürdigten Bauern in ihren Rechten vertreten, sie beglücken – das war sein einziges Ziel. Er wollte dem Staat nicht dienen als Beamter, er wollte sich seine eigene Stellung in demselben suchen und erbauen, wie der Adler seinen Horst.

Gedachte sie dann ferner all der Versuche seiner Verwandten, diesen grillenhaften Eigensinn zu brechen, wie sie es nannten, wie that ihr das Herz so unsäglich wehe um ihn! – Dann kam die Reise nach Italien. Ach, daß gerade diese, die ihn so vielen störenden Einwirkungen entziehen sollte, daß gerade diese Reise, die anfangs einer genialen Flucht glich, ihn nach und nach allen seinen früheren Zwecken[194] entfremdete! Wie drängten einander die reichen Erinnerungsgarben der ersten Jahre, die sie und ihr Gemahl in Italien und Sicilien verlebt hatten! Rom, Florenz, Genua, Palermo und das schwimmende Venedig! – Nur daß zuletzt im goldenen Freudenbecher der schwere, bittere Bodensatz geblieben.

Eben diese immer wechselnden Scenen, besonders der in Nichts zerflatternde Freiheitstraum der Neapolitaner, waren es, die Kronberg's Ansichten und Vorsätze nach und nach umgeschmolzen und so gänzlich umgewandelt hatten. An die Stelle eines nationalen Ganzen war ihm die Kleinheit des eigenen Ichs getreten und ein gelungenes Miteingreifen in den momentanen Gang der Ereignisse hatte eine maßlose Eitelkeit in ihm erweckt, die wie ein feines Gift allmälig alle Lebensfasern seines intellectuellen Seins durchdrang. Seitdem war er ein Spielball in der Hand der Mächtigen[195] geworden, hatte viel gethan und im Ganzen wenig geleistet. Das ist die Macht des Lebens! seufzte Anna.

Wenige Tage später reiste Kronberg wirklich nach Berlin. Ueber ihren Winteraufenthalt wollte er von dort aus ihr schreiben, wenn das Geschäft, das ihn nach Petersburg berief, erst deutlicher in seinen Verzweigungen ausgesprochen. Anna ließ ihn gewähren, sie war ja entschlossen. – Otto schwieg, er hatte noch acht glückliche Tage vor sich.

Die Abende hatten sich belebt; einzelne Kunstfreunde, junge Maler, die schon früher erwähnte alte irländische Dame, Lady Frederic und vor Allen Leontine hatten einen poetisch regen Geist in der kleinen Gesellschaft geweckt. Sogar das Vrenely fand den Muth, zu kommen, wenn gleich nicht immer den, zu reden. Leontine nannte sie ihr Veilchen, sich selbst deren Schmetterling.[196]

Sehen Sie, Comtesse, sagte ein alter Professor zu Leontine, ich behaupte, unsre Gegend allein ist wirklich im Stande, dieser immer wieder heranwachsenden Künstlermenge stets neue, frische Motive zu gewähren. Der Wechsel der Beleuchtung und Färbung bringt phänomenartige Wandelungen hervor, die, in der Darstellung treu zurückgespiegelt, den Vorwurf des Gemäldes immer neu und originell erscheinen lassen und es unsern jungen Burschen leicht machen, ein Bild zum Ganzen abzurunden.

Charmant, sagte Leontine; aber, bester Professor, es ist doch viel Verwandtschaftliches in den Bildern, so etwas à la cousin germain Ähnliches. Die Herren ***** und ihre Schüler haben es der Mama Natur treulichst abgelauscht, wie sie es hier mit Himmel und Erde hält; sie gewährt liebenswürdige Charakterbilder, diese Schweiz, mit ihren frischen, grellen Tinten, aber mir träumt von größeren, edler gehaltenen[197] Landschaften. Lachen Sie mich nur aus, wenn ich's gestehe, daß mich diese Art Bilder alle, alle an Genregemälde im Riesenstyl erinnern.

Die Hintergründe, gnädiges Fräulein, entbehren der großartigen verschwimmenden Linien der Ferne in dem Theil der Schweiz, den Sie kennen, sagte mit einem Male Herr Gotthard. Die nächstliegenden Berge werden von höheren Gebirgsketten oder gar von den Alphörnern in ihren Thalweitungen unterbrochen, die sich nur schluchtenartig öffnen, um neue Höhenreihen zu zeigen. Das Berner Oberland ist ja durch und durch Gebirg. Sie müßten es von höheren und ferneren Standpunkten übersehen. Schaffhausen, wo die Künstler leben, die Sie nannten, liegt in diesem Sinne etwas günstiger; doch wird auch dort die Gegend Ihren Kunstanforderungen nicht genügen.

Kennen Sie die so genau? fragte das Fräulein.[198]

Vergebung, wenn ich ja sage. Aus Ihrem vorhergehenden Gespräch kann ich ziemlich bestimmt entnehmen, daß Sie die Landschaft wie ein historisches Bild behandelt wünschen, und daß, während Ihnen in der Wirklichkeit hier die Gegend einen frischen, kräftigen Eindruck gewährt, sie im Gemälde dennoch Ihnen beengt erscheint. Ihr Landschaftsideal würde schon nicht mit der treuen Portraitauffaffung unserer hiesigen Landschafter sich genügen lassen, selbst wenn die Gewohnheit ihnen nicht einen gewissen Rhythmus der Auffassung gegeben hätte.

Kann es denn etwas Höheres in der Landschaft geben, als das treue Spiegelbild der Natur zu sein? fragte Otto.

O ja, wie es etwas Edleres gibt, als die individuelle Ähnlichkeit der Menschen: die vergeistigte Natur in ihrer möglichsten Vollendung – das Ideal. Nur sind die einzelnen Züge des unorganischen Lebens weit schwieriger aufzufassen[199] und deren höhere Harmonie noch schwerer zu errathen und herzustellen, als die der menschlichen Erscheinung. Es gehört also ein viel feineres und ausgedehnteres Proportions- und Schönheitsgefühl dazu, um hier alles Störende und Disharmonische zu meiden und nicht der Farbe allein das Erreichen eines Effects anzuvertrauen, der nur durch Zusammenwirkung alles Genannten erreicht werden darf. Ach, man müßte, schloß er possirlich-wehmüthig, ein Poussin und ein Claude le Lorrain und noch einiges mehr sein als beide!

Alle lachten; der Professor aber fragte: Sind Sie denn ein Maler?

Nein, sagte Herr Gotthard, es ist mir schwer geworden, der Kunst ganz zu entsagen, aber ihre Ausübung würde mich auf meinem Lebenswege hemmen. Anna sah auf. Er stand so ruhig da, als habe er das Allergewöhnlichste gesagt.[200]

Ich wette, flüsterte Leontine ihr zu, dieser Rattenfänger von Hameln wird nächstens sein Zauberlied singen und uns Alle sich nach ziehen, wie jetzt deine Knaben, die den ganzen Tag an ihm hangen wie Kletten. Anna war sonderbar nachdenkend, sie nickte schweigend.

Die Andern hatten von Singen gehört und fingen an, Leontinen zu bestürmen. Lady Frederic quälte sie um ein irländisches Lied.

Bewahre! sagte Leontine, ich thue niemals, was man von mir will; ich mag heute nicht singen und werde Ihnen lieber eine Geschichte erzählen. Beiher können die gelehrten Herren dann von mir selbst erfahren, was ich eigentlich von der dargestellten Landschaft verlange; denn wenn ich sie reich und großartig will, bis über das Maß des Alltäglichen hinaus, so will ich sie doch auch wechselnd und treu, wie der Laddy und das irische Mädchen.

Alle rückten eifrig zusammen, Leontine setzte[201] sich auf einen niedrigen Sessel zu Anna's Füßen und begann, Vrenely saß ihr gegenüber. Es war schwer, etwas vollendet Schöneres zu sehen, als diese drei Frauenköpfe neben einander; aber wenn Leontine wie ein Amor, Vrenely wie eine Waldnymphe aussah, blieb Anna immer die schönste und eigenthümlichste Erscheinung unter ihnen; man mußte an Titians Frauenbilder denken, wenn man sie ansah, deren bestimmte Individualität auch keinen Vergleich duldet. Seltsam, daß sie diese Eigenschaft einer so streng abgeschlossenen Eigenthümlichkeit mit Gotthard gemein hatte.

Leontine sprach ihre Ballade, nur den Mittelsatz derselben sang sie, ohne alle Begleitung, in wiegend einförmiger Melodie, deren Weise, zwischen Intonation und Recitativ gehalten, einen wunderlichen, geisterhaften Eindruck hinterließ.[202]


Ballade. (Irländisch.)


Nach Limrick klar der Shanon wellt;

Am grünen Ufer sitzt die Maid,

In tiefster Liebe Herzeleid.

Sie weint um ihren trauten Knaben,

Den ihr entführt die Elfen haben,

Die Jemmy's Schöne nachgestellt.


Von Knockfiörn das »Kluge Weib,«

Das sie befragt in nächt'gem Rath,

Ein Mittel bald gefunden hat:

»Wol kann die Maid den Liebsten retten

Aus aller Geister Zauberketten,

Liebt sie die Seele, nicht den Leib.


Trifft voll den Fluß des Mondes Strahl,

So jagt vorbei auf weißem Roß

Er in der Elfen Wirbeltroß;

Sie muß hinauf zu ihm sich schwingen,

Mit ihren Armen ihn umschlingen

Und halten ihn, trotz Grau'n und Qual.«


Ueber den Rasen hin,

Ueber die Haide grün,

Flimmert und schwirrt es,[203]

Nebelt und wirrt es

Wie glänzende Seide.

Sie schweben und schimmern,

Sie schwinden und flimmern

Zu Lust und Leide.

Ueber die Haide grün

Jagt Er unhörbar hin

Im Elfenkreise.


Schnell auf das Roß das Mägdlein springt,

Faßt ihn mit starker Liebe Arm;

Ob ihr auch folgt der Elfen Schwarm

Sie denkt Maria's Gnad und Schmerzen.

Da fühlt sie, weh! am bangen Herzen

Den Schlangenleib, den sie umringt.


Das Scheusal fest sie an sich preßt;

Ob es ihr droht mit spitzem Zahn,

Lautlos durchfliegen sie die Bahn.

Jetzt wird er Uhu, Bär und Katze,

Er grins't sie an als Teufelsfratze –

Doch hält ihr Arm den Trauten fest.


Da grau't der Tag! Das Morgenlicht

Legt sich auf aller Berge Höh'n!

Sie wagt's, den Liebsten anzusehn.

Es liegt in ihrem Arm geborgen,[204]

Den sie erlöst in Angst und Sorgen,

Und blickt ihr selig in's Gesicht!


Gewähr' uns, Gott, in Glück und Noth

Ein treues Herz, das fest uns hält;

Und wie die Sünde uns entstellt,

Es wagt in muth'ger Liebe Walten,

Trotz allem Wandel uns zu halten,

Bis wir erwacht in sel'gem Tod!


Sie schwieg. Otto starrte sie tief erschüttert an. Liebende finden überall etwas ihrer Empfindung Analoges.

Vrenely war im Zuhören der Sprechenden immer näher gerückt; sie horchte noch immer auf wie ein Kind, nachdem jene geendet. Endlich strich sie mit der kleinen schön geformten Hand die dunkeln Haare aus der Stirn und flüsterte für sich hin: Was für ein Glück das sein muß!

Leontine lachte. Das hab ich schön gemacht! sagte sie; ich dachte eine rechte Qual und Angst, sonst habe ich wahrhaftig schlecht geschildert.[205]

Es ist ein großes Talent, was Sie da haben, mein gnädiges Fräulein, meinte der alte Professor. Haben Sie denn das alles erdacht?

O dear no! seufzte die Lady, das liebe Herz! Ich habe die Sage schon gehört, da ich noch in my green years und in green Erin war. Bei uns sind die Elfen den Familien durch zahllose Bande verknüpft und die Geschichten wachsen mit uns auf. Sie war ganz aufgeregt von ihren Erinnerungen. Aber, schloß sie, Kind! die Anwendung ist weder nationell, noch katholisch.

Gotthard hatte bisher stumm dagesessen, nach einer Weile wandte er sich zu Anna. Es wäre ein Unermeßliches, ein solches Erkennen durch alle Lebensverwandlungen der Zeit hindurch, wenn es gegenseitig wäre und zwei kräftige Naturen vereinte.

Und glauben Sie wirklich, ein Mann wäre[206] eines solchen festhaltenden Glaubens fähig? fragte Anna.

Er sah sie durchdringend an. Ja, sagte er endlich, ich glaube es. Beide schwiegen.

Aber, meine Herrschaften, wo ist denn die Landschaft geblieben? rief Leontine, der das Recensiren langweilig war. Sie hatte das Loben in ihrer Familie stets wie eine Art Landplage, Pestilenz oder Heuschreckenschwarm betrachtet und ertragen. Das ist das eine Auge, meinte sie, was zu haben schrecklich, und gar zu verlieren noch schrecklicher wäre. Ach! seufzte sie höchst drollig, in der Mark sitzt mir ein ganzes Nest Waldaus, die zwitschern alle die nämliche Weise; drucken lassen sie mich nicht, ich könnte ja in Recensentenhände fallen! Sie geben mir aber mein Theil Bewunderung rein umsonst. Du bist nicht mit gemeint, Anna! schloß sie, ihr liebes Gesichtchen an deren Schulter legend und sie so von unten auf ansehend.[207] Weißt du wol noch die Zeit, da wir gar nicht zu singen wagten, um nicht etwa Ausdruck in die Gesangsweise zu legen; ich spielte damals in Gesellschaft blos Klavier, aus lauter Gefühl meiner Würde und der ihr anklebenden Anstandspflichten.

Wildes, irisches Mädchen! sagte die Lady.

Aber die Landschaft, die Landschaft! fuhr Leontine fort. Sehen Sie, bester Professor, ich gestatte es recht gern, daß man durch Licht, Schatten und allerlei Zufälligkeiten der Landschaft einen sogenannten Charakter aufbürde, man kann sie meinetwegen düster, schaurig oder so lieblich verlockend machen wie den Kuß einer Geliebten; man mag dabei, wie die Indier lehren, alle fünf Liebespfeile der fünf Sinne losschnellen, aber sie muß am Ende doch immer wieder in den Grundzügen ihrer Eigenthümlichkeiten erkennbar bleiben, die Steine müssen nicht wie Wollenballen, Gletscher nicht wie gefrorne[208] Wasserfälle aussehen, und Granitfelsen nicht wie behauener Sandstein; sie muß sich in eingeborner alter Treue uns an's Herz schmiegen, wie der Laddy an des Mädchens Brust, im Vollgefühl des ihr Heimatlichen, daß wir sie zu erkennen vermögen.

O Jerum! Jerum! sagte der Professor, so wie der grimme Leu ein fleischfressend Thier ist, also sollen auch wir in einem gottesfürchtigen und christlichen Wandel leben? Sind mir das Kunsturtheile!

Es war mit der Aufmerksamkeit vorüber, Alle lachten und der Abend schloß auf heitre Weise mit Musik und allerlei Scherzen. Von Poesie und Kunst war nicht weiter die Rede.

Das Scheiden und der Tod kommen gleich unvermeidlich, darum sucht man so gern den Gedanken an beide zu bannen. Die Ferien gingen zu Ende; Otto mußte nach Basel, seine Vorlesungen zu eröffnen. Die letzten Tage waren[209] leidlich vorübergegangen, er hatte viel gearbeitet, chemische Versuche und andere wissenschaftliche Beobachtungen angestellt, auch eine Untersuchung der nächstliegenden Gletscher mit andern Gelehrten unternommen. Anna hatte ihm versprechen müssen, daß er Abschied von ihr nehmen dürfe; zu ihrer Verwunderung trat er völlig heiter und ruhig in ihr Cabinet.

Er brachte eine große Menge getrockneter Alpenpflanzen, die er auf den Gletscherrändern und den höchsten Gebirgen für sie gesammelt, und erklärte ihr wol eine Stunde lang deren eigenthümliche Beschaffenheit. Endlich kam der gefürchtete Augenblick. Er reichte ihr die Hand. Ich danke dir, Anna, für die unsäglich schönen Stunden, die du mir gegeben, sagte er mild; du hast mir das Leben wieder lieb gemacht, gleichviel um welchen Preis. Eh' sie ihm zu antworten vermochte, war er ihr entschwunden.[210]

Anna war schmerzlich bewegt. War das eine Ueberanstrengung der Kraft? es sah nicht so aus. Ihre Gedanken jagten einander in peinlicher Hast, sie gedachte Leontinens und Vrenely's O, sagte sie wehmüthig, ich werde nie das Leben ertragen lernen! Also auch in ihm haftet kein Gefühl! Und doch ist es gut so, ich habe es ja selbst gewollt, gewünscht. Da flog die Thür auf, Vrenely trat ein. Das arme Mädchen war Otto auf der Treppe begegnet, er hatte ihr freundlich und hastig Lebewohl gesagt; unten hielt bereits sein Reisewagen – er war fort.

Seit den letzten Wochen war eine große Veränderung mit Vrenely vorgegangen, sie hatte sich plötzlich in sich selbst kräftig entwickelt, ihre Gedanken waren scharf geordnet, ihr Urtheil war klar geworden; sie las und lernte in jeder freien Stunde, und gab ihren Unterricht gut und besonnen. Auch jetzt trat sie zwar mit[211] hochgerötheten Wangen und fliegender Brust ein, aber so vernichtet und aufgelöst in Lieb und Leid, wie sie bei jenem Gespräch zwischen Otto und Annen gewesen, war sie jetzt keineswegs.

Er ist abgereist! sagte sie fast tonlos. Schon? erwiderte Anna. Armes Herz! sie reichte Vrenely die Hand.

O, er wird wiederkommen! versicherte die Kleine; es ist nicht anders möglich. Bei den Worten flossen ihr die Thränen aus den Augen.

Leontine sah sie traurig an. Ach, Vrenely! Sie sind viel, viel zu gut. Wenn wir die Männer lieb haben, mishandeln sie uns. Kommen Sie, Kind, wir wollen Musik machen; lernen Sie von mir eine leichtfertige Seele sein, ich tauge gar zu nichts Anderem, als euch arme, weiche Gemüther zu rächen. Wir wollen die neuen Walzer einüben.

Liebes Fräulein, meine Augen sind trübe,[212] ich habe die halbe Nacht hindurch geschrieben, seufzte Vrenely.

An Ihn? fragte unbesonnen Leontine.

Vrenely erglühte wie eine Rose. An wen? hauchte sie bebend hervor. An wen könnte ich wol zu schreiben haben! Ich habe aus dem Englischen übersetzt; der Professor lernt es auch eben, und da hatte ich Lust bekommen und fing es vor Kurzem an.

Aus welchen Fäden die Liebe ihr Glück spinnt! flüsterte Leontine Annen zu. Aber ihre Lockungen zogen das Mädchen am Ende doch hinüber in den Saal, und ihre Gutmüthigkeit gaukelte ihr so lange vor, bis sie heiterer gestimmt schien.

Gotthard brachte einige von Annen gewünschte Bücher und Noten; er sah sehr ernst, fast trübe aus und erwähnte ebenfalls Otto's Abreise. Wir werden ihn alle vermissen, erwiderte Anna. Gotthard antwortete nicht sogleich.[213] Anna war dieses Schweigen gewohnt an ihm, er war einer von den still und besonnen immer nach der einmal innerlich angeschlagenen Richtung fortdenkenden Menschen; auch jetzt glaubte sie ihn mit irgend einem Vorschlag für der Kinder Unterricht beschäftigt. Basel ist sehr nahe, sagte er nach einer Weile. Sie sah erschreckt auf; daß Otto im Laufe des Semesters kommen könne, war ihr nicht eingefallen. Jetzt schien ihr seine Heiterkeit erklärlich. Leontine und Vrenely waren unterdessen in den Salon gegangen, Gotthard war zum ersten Mal mit der Gräfin allein.

Es regte sich ein Gefühl des Unmuths und der Unzufriedenheit mit Otto in ihrer Brust, als habe er absichtlich sie getäuscht; sie arbeitete emsig an ihrer Tapisserie, ohne ein anderes Gespräch zu beginnen. Als folge Gotthards Blick wortlos dem Zuge ihrer Gedanken, fuhr er nach einer Pause fort: Und Sie, gnädige Gräfin, Sie[214] finden es nicht natürlich, daß in unserer so streng und viel fordernden Zeit wir Männer einzelne glückliche Stunden fester zu ergreifen und zu halten streben, als die zarteren, vom Außenleben minder hart behandelten Frauen? Wie lange Jahre hindurch bleiben wir nicht gezwungen, mit einem eilends errafften Genuß des Glücks Verlangen zu beschwichtigen, das die Natur in jede Menschenbrust gelegt. Anna zählte ihre Stiche. Und gewiß, einem solchen Kreise nahen zu dürfen, in ihm vermißt zu werden, ist ein so großes, seltenes Glück, daß ein Nachtritt es nicht zu theuer erkauft. Darum zweifle ich auch nicht, daß wir den Professor recht bald wieder hier begrüßen.

Ich habe geglaubt, der Weg sei weiter, sagte Anna etwas verlegen.

Gotthard hatte bis dahin mit gesenkten Augen gesprochen, jetzt schlug er sie auf; sie fühlte sich mit diesem einen Blick bis in ihr tiefstes[215] Seelenleben durchschaut; rasch entschlossen, heftete sie den ihren fest auf ihn, er hatte ja kein Recht, in das von ihr Verschwiegene sich zu drängen; aber ihr Auge traf auf ein todtenbleiches Antlitz, dessen zitternde Lippen eine tiefe Gemüthsbewegung verriethen.

Nach wenigen Secunden empfahl sich Gotthard, um nach den Knaben zu sehen.

Anna blieb nachdenkend auf ihrem Stuhl sitzen. Worüber sann sie denn so seltsam ernst und tief? Sie fühlte sich gereizt, und doch war ihr, als müsse sie Gotthard eine Art Aufklärung schuldig sein.

Ihm? dem Hofmeister meiner Kinder? fragte sie sich mit plötzlich erwachendem Stolz. Wie kann dieser Mensch es wagen, mich zu beurtheilen, mich zu richten? Warum argwohnt er zwischen mir und Otto eine Leidenschaft – ein Verhältniß? – Aber thut er es denn wirklich?[216]

Verstimmt schritt sie im Zimmer auf und nieder und entwarf allerlei Pläne, Gotthard sich fern zu halten.

Weißt du, sagte jetzt Leontine, die unterdessen zurückgekommen, daß die Kleine trotz ihrem Liebesunglück glücklicher ist, als wir beide?

Wie so? fragte Anna zerstreut.

Du, mein Herz! fuhr Leontine fort, indem sie sich in eine Sophaecke warf, bist an einen vortrefflichen Mann verheirathet, dem du die unendliche Ehre erzeigst, seine Gemahlin zu sein. O still! still! Du wirst mir doch nicht von dem Glück sagen, daß wir dich in die reichsgräfliche Krone unsers Hauses gefaßt, als deren besten Edelstein? Halte mich doch um Gottes willen nicht für miserabel, Anna! Dein Glück kenne ich innen und außen, wie meine alten Handschuhe. Mein Oheim ist wirklich ein guter Mensch und ein echter Cavalier, er hat sogar eine Menge vorzüglicher Eigenschaften;[217] unglücklich bleibt es indessen doch, daß gerade Er in eurer Ehe der Mann ist.

Leontine, du quälst mich!

Und ich möchte dich doch nur veranlassen, deine Stellung genauer zu überblicken, um sie etwas leichter zu nehmen.

Laß mich den einmal scharf bestimmten Weg so fortgehen, bat Anna.

Wahrhaftig, du hättest irgend einen meiner Cousins in Pommern, oder, wenn man dort nicht katholisch wäre, nach Westphalen hin heirathen sollen, so einen der vielen blonden Johannes, Karls und Egons von Kronberg. Du wärst ihm eine züchtige, demüthige Hausfrau geblieben – wie ich deren dort eine Menge kenne und liebe – hättest ihm aus langer Weile eine Reihe blühender Kinder geschenkt; kurz, es wäre bei deinem Charakter immer alles gegangen, nur hättest du nicht vorher dem Zweige der phantastisch kühnen Waldaus aufgepfropft[218] werden müssen! In meinem Papa steckte noch die ganze französische Revolution – mir ist sie ins Blut übergegangen und siedet darin fort. Mama's Eltern waren respectable Philister, und Geiersperg ist ein tapfrer Ritter, den das Mittelalter aus Versehen zurückgelassen hat, als es über die Erde schritt.

Du aber, armes Kind! in unserm Hause, mitten unter allem erwachsen, was Deutschland an Geist, Anmuth, Verstand und Witz zusammenbringen konnte, du sollst nun unsern guten, prächtigen Roderich beständig leiten und schieben, und zwar so fein, daß er's selber nicht merkt! Du sollst dem in seiner Art ehrenwerthen, sehr aristokratischen Edelmanne eine elegante, ebenso aristokratische Gefährtin sein, pas plus! denn das Uebrige ist vom Uebel – du mit deinem Kothurnen-Charakter, du, die für ein geliebtes Herz zu sterben vermöchte![219]

Leontine, ich hoffe, ich kann auch für dasselbe leben.

Wahrhaftig ja, das kannst du! Du bist eine gute Frau, eine vortreffliche Mutter, du bist ein Stern der Gesellschaft, der oft ihre Existenz bedingt und beherrscht. Anna, weißt du, wenn du im weißen Atlaskleide durch unsre Hofsäle rauschest, so kann ich, weiß Gott! nie recht begreifen, daß man nicht »Ihre Majestät« zu dir sagt, und vergesse immer wieder, daß mein guter, dummer Onkel Gesandter geworden ist, um dich an den Hof zu bringen.

Ja, sagte Anna lachend, warum hat er auch eine Roturière geheirathet!

Siehst du, rief aufjauchzend Leontine, so himmlisch gut und gescheit hätte mir unter tausend Bürgerlichen nicht eine geantwortet! Das ist's ja eben, mein Kronjuwel, daß du ein geborner Prinz Regent, innerlich deiner eignen höchsten Vornehmheit dir bewußt bist. Darum[220] ist man auch immer à son aise mit dir und kann dir alles sagen. Ach, ich wollte nur, ich hätte die Courage, dir auch etwas recht Schlechtes, recht Fatales von mir selbst zu sagen! Sie barg das Gesicht in den Händen.

Von dir? Bist du ein Falschmünzer geworden und hast uns betrogen?

A-peu-près! gelogen habe ich wirklich, 'pon honnour! sagt Lady Frederic, und das Schlimmste, schloß sie, aus ihrer Sophaecke aufspringend und in einem höchst aufgeregten Zustande zu Annen hinlaufend, das ganz Erschreckliche ist: ich lüge noch!

Was wird da herauskommen, dachte Anna, die irgend eine Narrensposse erwartete. Aber Leontine warf ihr beide Arme um den Hals, küßte sie wiederholt und heftig, und zwei helle Thränen fielen auf Anna's Wange, die sie nicht selbst geweint. Thränen? Leontine, du? Mein Gott, was ist denn geschehen?[221]

Morgen! Morgen! flüsterte die Schluchzende und eilte in ihr Cabinet, das sie hinter sich abschloß.

Aber der nächste Tag brachte nicht die gewünschte Erklärung; es kam nicht dazu. War es Absicht, war es Zufall? Anna konnte sich keine Rechenschaft darüber geben. Leontine schien heiterer als je, phantasirte den ganzen Tag von Bergfahrten, vom Gletschermeer, vom Grindelwald, und wollte, trotz dem Spätherbst, noch überall hin, besonders lag ihr ein Ausflug nach Luzern zum Markt in Gedanken; sie hatte den Kopf voller Äußerlichkeiten und Muthwillen.

Annen war dieser plötzliche Wechsel der Stimmung ihrer Freundin nicht fremd; sie kannte an dem wunderlichen Mädchen einen sie seltsam und stoßweise überfallenden Hang zu philosophischem Grübeln, der zuweilen in fast skeptischen Unglauben ausartete. Leontine verdankte diese Richtung dem frühen, bei wiederholtem[222] Aufenthalt in Schlesien sich stets erneuenden Umgang mit einer sehr bigotten katholischen Familie, deren Hauskaplan ihrem kindischen Witze zum Stichblatt dienen mußte. Der Eifer des alten Domine, sein Mangel an Kenntnissen, die groben Widersprüche, zu welchen seine beschränkten Religionsansichten ihn hinrissen, alle diese sich in katholischen Ländern oft ganz gefahrlos wiederholenden Zufälligkeiten, die den wirklich Frommen kaum berühren, reizten die junge Protestantin erst zum Widerspruch, dann zur Analyse, endlich zu gänzlichem Misverstehen des nur mit einfachem Sinne auf wohlthuende Art zu Erfassenden.

In Berlin gewährte Geierspergs Bibliothek, die sie heimlich durchstöberte, dem noch an der Grenze der Kindheit stehenden Mädchen Gelegenheit zu einer Art Controverse mit ihrer jungen Freundin, die auf Annen einen vorübergehenden, auf Leontinen einen dauernden Eindruck[223] machte, der mit den Jahren tiefer ward, als ihr glänzender Scharfsinn sich entwickelte. Sie schrieb Annen lange, höchst geistreiche Briefe über solche Gegenstände, die diese sanft und völlig ruhig erwiderte.

Bei späterem Wiedersehen begann Anna durch den momentanen Unfrieden, in den sie die geliebte Zweiflerin verfallen sah, insgeheim zu leiden; ein längeres Beisammenleben hatte jedoch diesen ersten Eindruck längst gemildert. Wie oft hatte sie Leontinen tiefsinnig spottende, an Voltaire's Geist erinnernde Bemerkungen aussprechen gehört, wie oft aber auch in weicheren Augenblicken die heißen Reuethränen gesehen, die das liebenswürdige Wesen über die Unmöglichkeit vergoß, sich einen überzeugenden Glauben an die tröstlichen Verheißungen unserer Kirche anzueignen. Stunden lang konnte sie die Möglichkeit einer individuellen Fortdauer bestreiten und andere Male am Krankenlager[224] alter Diener und Nothleidender denselben durchdringenden Geist zur Erweckung des innigsten, reinsten Gottvertrauens anwenden. Daß dieser stete Wechsel eines unaufhörlich in sich bewegten Gemüths dem starken festen Sinn der jungen Frau widerstand, ist begreiflich, aber die Verschiedenheit ihrer Naturen wirkte nicht störend auf die Zärtlichkeit der so lange und eng Verbundenen. Allmälig war Annen die Ueberzeugung geworden, daß dieser flutenreiche, ewig auf- und niederwogende Charakter Gefühlstiefen in sich berge, die dem Senkblei willkürlichen Eindringens stets unerreichbar bleiben müßten. Sie hatte sich darein ergeben, wie man eben an das Ungewöhnlichste sich gewöhnt, wenn ein seltenes Geschick uns dasselbe aufdringt und das, was die Welt als Phänomen anstaunt, in die Bahn unserer Alltäglichkeit wirft. Natürlich machten aber jetzt weder Leontinens Thränen, noch ihr späteres[225] Schweigen über deren Ursache einen so tiefen Eindruck auf sie, als dies bei jeder Andern der Fall gewesen sein müßte. Sie schrieb Leontinens Aufwallung einer augenblicklichen Erregung zu und mochte sie nicht mit lästigen Fragen verletzen, als dieselbe vorüber schien.

Gotthard beschäftigte sich mit immer regerem Eifer mit den beiden Knaben. Ihre Entwicklung grenzte ans Staunenswerthe, doch quälte er sie wenig oder gar nicht mit Lectionen, er entfaltete die reichen Anlagen der Kinder, wie ein geschickter Gärtner eine frische Pflanze zur gesunden Blüte bringt. Halbe Tage streifte er mit ihnen umher über die minder hohen Berge, durch Thäler und Schluchten hin, er gab ihnen Unterricht in den einzelnen Zweigen der Naturkunde, er führte sie in Städte und Dörfer zu Handwerkern und Bauern, bildete ihr Auge und zeigte ihnen alles, was er sie lehrte; sie mußten es mit Händen greifen, dann begriffen[226] sie es auch geistig. Zum eigentlichen positiven Lernen hatte er den nächsten Winter bestimmt.

Sie machen meine Kinder zu Amerikanern, sagte lachend Anna, wenn die Knaben ein unbegreiflich klares Auffassen äußerer Eindrücke zeigten. Geht das so fort, so werden die Buben mit funfzehn Jahren heirathen wollen und ich mit dreißig eine alte Frau sein müssen.

Er blickte ihr mit einem fast jubelnden Ausdruck in das reizende Gesicht. Im Gegentheil, gnädige Gräfin, ich sichere Ihnen eine nie unterbrochene Jugend und immer frische Sinne zu.

Sie sah ihn dankbar an. Sie fühlte zwar dunkel, daß er die Kinder um ihretwegen liebe, aber sie gestand es sich nicht.

Von Otto war nicht wieder unter ihnen die Rede gewesen; Anna dachte nicht mehr ihrer Pläne, Gotthard sich fern zu halten. Es ist etwas Furchtbares um die Gewalt des sich alltäglich[227] Wiederholenden, wie es leise die Seele umspinnt!

Kronberg war immer noch in Berlin. Sie schrieb ihm lange Berichte über der Knaben Fortschritte, die er in wenigen Zeilen mit der Versicherung erwiderte: es freue ihn, durch die Erfahrung ihr beweisen zu können, daß er sich in Herrn Gotthard nicht geirrt. Uebrigens ließ er sich in keine Details ein; der Aufenthalt in den ehemals heimischen Kreisen, der rasche Diplomatenwechsel, der zu Verona eröffnete Congreß, an welchem der Minister so bedeutenden Antheil nahm, hatten seine ganze Seele mit so mannigfaltigen Eindrücken überfüllt, daß er Gott dankte, alle Familiensorgen seiner Gemahlin überlassen zu können.

So freundlich Kronbergs Schreiben war, lag dennoch unendlich viel Schmerzliches für sie in dem Briefe; das leise Gefühl, dem Gemahl lästig zu werden, überschlich sie mehr und mehr[228] mit kältender Qual. Daß er als Diplomat dem Reactionssysteme unbedingt anhangen, die monarchischen und conservativen Grundsätze zur Norm all seiner Urtheile machen und dabei mit wachsendem Egoismus eine immer rücksichtsloser ausgedehnte persönliche Unabhängigkeit behaupten könne, war ihr unbegreiflich. Diese Art Freiheitsliebe, die nur ihn selbst von jeder individuellen Pflicht lösen sollte, kam ihr unedel vor. Die Oberflächlichkeit, mit welcher er die griechische Freiheitssache behandelte, die ihr frisches Herz mit dem glühendsten Enthusiasmus erfüllte, that ihr wehe. Das Hinwegschlüpfen über Josephinens Stimmung gegen Leontine, vor allem aber die Gleichgültigkeit gegen die Fortschritte der Kinder, die nur im Triumph über die getroffene Wahl eines Hofmeisters eine Spur der Theilnahme zeigte – alles dies verletzte sie unaussprechlich. Ueber die Bestimmung eines Winteraufenthalts für[229] sie enthielt der Brief keine Zeile und doch ging der October bereits zu Ende. Kronberg mußte es ganz und gar vergessen haben.

Otto war noch nicht von Basel herübergekommen. Gotthard lebte nur den Kindern und seinen Studien. Seit ein paar Tagen hatte er sich fast ganz zurückgezogen; wenn die Kleinen ihn nicht beschäftigten, kam er gar nicht aus seinem Zimmer. Seine Lampe brannte immer noch, wenn Anna, an großstädtische Stunden gewöhnt, lange nach Mitternacht von Leontinen sich trennte; der bleiche Strahl erhellte die Hautelissetapete ihres Schlafzimmers, auf der die Schlacht bei Sempach dargestellt war; erwachte sie gegen Morgen, so lag der matte Schein immer noch auf irgend einem Theile des graulichen Bildes. Der junge Mann arbeitet sich todt! sagte sie leise zu sich selbst. Am Morgen erzählte sie es Leontinen.

Welch ein entsetzlicher Ernst in dieses Menschen[230] Willen! Er will Minister sein, und glaube mir, er wird es.

Minister? fragte Anna.

Ja, erwiderte Leontine, er will eine unerhörte Carrière machen, und wenn er sein Ziel erreicht hat, irgend etwas Großes, Ungewöhnliches durchsetzen. Vielleicht ist er verliebt und hofft auf diese Art die Hand seiner höher gestellten Geliebten zu erhalten.

Was für romantisch-thörichte Ideen du von allen Leuten dir machst! sagte Anna etwas gereizt. Nun soll der junge Mann verliebt sein, weil er des Nachts schreibt!

Ja so, meinte lachend die Gescholtene, ich vergaß, in unsern raisonnirenden und revolutionairen Zeiten muß man ein Weib oder ein sechszehnjähriger Jüngling sein, um zu lieben! O dolce amore, ragion cui non s'intende, e se ragion intende subito amore non è! Mit fünfundzwanzig[231] Jahren ist man viel zu alt zum Lieben, nicht wahr?

Sollte Gotthard lieben? Aber wen? Lange sann Anna schweigend nach, nicht die leiseste Äußerung hatte jemals Leontinens Vermuthung bestätigt. Aber warum arbeitete er denn so rastlos? Ihr fielen die Volksbewegungen der letzten Jahre in Spanien, Portugal und Brasilien ein; was konnte er mit ihnen allen zu schaffen haben? In Deutschland war ja alles ruhig. Und dennoch, sollte er irgend einer geheimen politischen Verbindung angehören – unmöglich, das glich ihm nicht. Zum ersten Male dachte sie daran, daß sie ihn nie nach seinem Vaterlande gefragt. Ein Deutscher war er, obschon er mehre Sprachen mit gleicher Fertigkeit sprach, das schien ihr gewiß. Kann man zugleich so ganz einfach und dennoch so räthselhaft sein? dachte sie. Sie sprach ihre Gedanken nicht wieder gegen Leontine aus.[232]


Duguet räumte den Salon auf, Leontine wollte tanzen heute Abend, auch ohne Ball, lieber nach dem Klavier als gar nicht. Eine kleine Gesellschaft war dazu eingeladen. Jetzt war er fertig, er sah sich ein paar Mal um, dann zog er ein gefaltetes Blatt aus der Tasche, das er, an's Fenster tretend, zwischen den Fingern hin und her schob und in den hellen Sonnenstrahl hielt.

Mais – c'est malhonnête ce que tu fais là! sagte mit einem Male Madame Sophie. Als er seine Frau gewahrte, steckte Duguet das Blättchen ein – es war ein versiegelter Brief – und begann ganz tapfer Marlborough s'en va-t-en guerre zu singen, was bei ihm das entschiedene Zeichen eines großen inneren Triumphs war. Zugleich rückte er Tische und Stühle zurecht und stäubte sie auf schon erwähnte Weise mit dem Tuch, den Takt schlagend, ab. Sophien[233] sah er gar nicht an, er war auf dem höchsten Gipfel seines Hochmuths.

Mais je dis que c'est malhonnête ce que tu fais là!

Hein? fragte er.

Was hattest du denn für ein Papier? fuhr sie fort.

Hein? qu'est-ce? fragte er, immer heftiger um sich schlagend. Aha, si! eine Rechnung vom Herrn.

Die man nur auf der Rückseite lesen kann, wenn man sie in die Sonne hält?

Er schwieg und ordnete mit wachsender Hast die Sessel.

Es ist eine Indiscretion! Gib mir das Papier! bat sie dringend.

Diable! sagte er, comme tu y vas! was geht dich's an!

Gib mir das Blatt, Duguet! ich weiß, was es ist.[234]

Hoho! Du weißt, was es ist? Ich will es nicht hoffen! Meine Frau, meine Frau will wissen, was ein Papier enthält, das unsre ganze Familie – das heißt, unsre Herrschaft, in Noth und Schande bringen kann! Sacre bleu! und wie sie mir das ganz ehrlich und unschuldig, mir nichts, dir nichts, so hinsagt! Wie kannst du so etwas von dir sagen? Und mir? mir von dir? hein? Begütigend fuhr er fort: Allons, allons, ne te fàche pas! Ich weiß schon, es ist dir nur so entfahren! Nichts auf der Welt weißt du von diesem Gott vermaledeiten Wisch, es geht dich nichts an, das verfluchte Papier!

Duguet, willst du mir das Papier geben?

Nein!

Ich bitte dich um Gottes willen, Duguet, gib mir das Papier! Du weißt nicht, was du thust.

Sophie zitterte an allen Gliedern.

[235] Diable! sagte nochmals Duguet, sie von Kopf zu Fuß mit den Augen messend, und woher weißt denn du den Inhalt eines versiegelten Blattes?

Weil ich – ich kann, ich darf es dir nicht sagen; aber bei allem, was dir heilig ist, beschwöre ich dich, schweige und gib es mir!

Schweigen? Ich? Schweigen, wenn es die Ehre, den Namen, das Blut meines Herrn gilt? Was geht mich der Narr an, der jetzt – Weib, mach mich nicht rasend! Ich darf gar nicht daran denken, es reißt mir das Herz aus dem Leibe. – Da, da ist dein verfluchtes Papier; ich will es nicht lesen, aber nicht du, nicht sie, Niemand soll's lesen. Und du sollst sehen, schloß er immer drohender und wilder, daß ich alles vereiteln werde. O, mein Herr! mein armer Herr! Mit Händen und Zähnen riß er das Papier in tausend kleine Stückchen und warf es in die Kohlen des Kamins.[236]

Nach Athem ringend, stand Sophie vor ihm und sah zu, wie das Feuer den Brief verzehrte, während Duguet, die geballten Hände vor den Augen, hinauseilte. Als die Thüre heftig dröhnend hinter ihm zugeworfen war, blieb sie noch eine Weile, gespannt horchend, regungslos stehen, seine Schritte verhallten endlich auf dem Corridor; ja, er war fort. Sie sammelte die letzten am Kaminrande herumliegenden Papierfetzen und warf sie den andern nach in die Kohlenglut. Gott sei Dank! er hat nichts gelesen! Tief aufathmend, als sei eine Riesenlast ihr entnommen, verließ Sophie den Salon.


Es war ein schöner, aber kalter Herbstabend; die Gesellschaft hatte sich entfernt, es war Niemand mehr im Saal, als die Hausgenossen und der alte kunstliebende Professor; das nämliche[237] Kaminfeuer, das zum stillen Träger des Geheimnisses geworden, das Madame Sophie so bedrückte, hielt den kleinen Kreis noch beisammen.

Aber warum, Herr Gotthard, wollten Sie nicht mit mir tanzen? fragte Leontine.

Ich habe es nie gelernt, Gnädigste, und fürchtete, sie mit einem schlechten Tänzer in Verlegenheit zu setzen.

Gott Lob und Dank! Die Achillesferse! rief, laut auflachend, das Fräulein. Anna, Anna! Herrn Gotthards verwundbarer Fleck! Wahrhaftig, lieber Herr Gotthard, Sie konnten mir gar keine größere Gefälligkeit erzeigen als durch diese kleine menschliche Unvollkommenheit; aber nun müssen Sie sich auch mir zur Liebe blamiren und auf der Stelle mit mir tanzen! Der Professor und Anna stimmten scherzend bei.

Wenn Sie mich unterrichten wollen, gnädiges Fräulein, werde ich wenigstens nie mehr[238] die Entschuldigung haben, nicht tanzen zu können, sagte Gotthard verbindlich; er war in Leontinens Zauberbann gerathen.

Sie war aufgesprungen und hatte bereits ihre Hand auf seinen Arm gelegt. Einen Walzer, lieber goldner Professor! Erst aber langsam, wenn ich bitten darf.

Sie schwebte mit Gotthard dahin; er tanzte, wie die meisten Deutschen, seinen Nationaltanz gut, sogar schön. Schneller, immer schneller! rief Leontine. Der alte Professor trommelte immer heftiger auf dem Klaviere herum, mit und neben dem Takt; Gotthard folgte mit größter Gewandheit und sicherem Taktgefühl jedem Wechsel des Rhythmus.

Herr Gotthard, sagte, plötzlich stillstehend, Leontine, das ist abscheulich! Sie tanzen vortrefflich! Ich bitte dich, Anna, walze nur ein einziges Mal um den Saal – Gotthard stand bereits schüchtern, aber doch bittend vor ihr.[239]

Zum ersten Male berührte ihn der Gräfin Hand, das Blut stieg ihm in's Gesicht, aber er tanzte sicher und besonnen fort. Das ungewöhnlich reine Ebenmaß seiner durchaus edeln Gestalt trat während des Ländlers auf das Vortheilhafteste an's Licht, seine Züge waren ruhig geworden, er machte einen sehr angenehmen Eindruck. Anna empfand zum ersten Mal in ihrem Leben eine wirkliche Freude am Tanz; sie fühlte keines ihrer Glieder, auch nicht den sie leicht stützenden Arm ihres Tänzers; jede Bewegung des schönen Paares paßte harmonisch an einander.

Aber, Anna! rief Leontine, die sich im Sopha recht bequem zurechtgesetzt hatte, um mit kritischem Blicke zuzusehen; aber, Anna! es ist ja wundervoll, wie ihr Beide zusammen tanzt!

Der Professor wollte es geschwind auch sehen, vergaß zu spielen und drehte sich um. Der improvisirte Ball hatte ein Ende.[240]

Und warum sagten Sie denn eigentlich, Sie könnten nicht tanzen? fragte der Professor.

Weil ich nur walzen kann. Einen Tanzlehrer mir zu halten, war meinen Eltern zu kostspielig. Von den ausländischen Tänzen, die ich heute hier sah, kann ich keinen.

Schade, daß ich's nicht gesehen habe, sagte der Professor.

Nun wollte Leontine durchaus dem Professor zu Ehren an dessen Stelle spielen, und Gotthard und Anna sollten und mußten ihm noch einmal vorländlern; sie hatten jedoch kaum die Hälfte des Zimmers erreicht, als die Saalthüre aufflog und Otto durch dieselbe eintrat.

Er blieb an der Schwelle stehen und schreckte sichtlich zusammen; überhaupt schien er von der ganzen Scene, obschon sie ihm augenblicklich laut lachend erklärt ward, so unangenehm berührt, daß weder Leontinens einschmeichelndes Entgegenkommen, noch Annens herzliche Freundlichkeit[241] den Eindruck sogleich zu verlöschen im Stande waren. An Kronbergs späte Stunden gewöhnt, hatte er es gewagt, zu fast nächtiger Zeit und in Reisekleidern zu kommen. Der folgende Morgen war zu einer nochmaligen Gletschermessung hinter Grindelwald bestimmt, von welcher er Abends nach Bern zurückzukehren und dann den folgenden Tag wieder nach Basel zu reisen gedachte.

Alles dies erzählte er mit so seltsam kalter Miene, daß Leontine aufmerksam wurde und ihn mit dem durchtriebensten Uebermuthe zu necken begann. Sie behauptete, er wolle sich selbst als Gletscher ausmessen lassen, anstatt, wie er vorgebe, das Vorrücken des Eismeeres zu beobachten, was auch in der That viel unbequemer sei. Anna blieb in ihrer Einfachheit ganz arglos, sie suchte Leontinens heftige Ausfälle gegen Otto zu mildern und ihr Wohlwollen[242] besiegte nach und nach den eifersüchtigen Unmuth des Freundes, er ward etwas heiterer.

Gotthard hatte sich an das Klavier gesetzt und phantasirte ungemein schön. Nur der alte Professor achtete darauf und nickte still entzückt gegen den Takt.

Otto fragte nach allem, nach den Kindern, nach Briefen und Nachrichten, nach Sophien; seine warme bürgerlich-häusliche Theilnahme legte sich balsamisch weich auf Anna's verwundetes Herz. Sie mied jedoch alle nähere Erörterung über ihres Gemahls Schreiben. Nach ihrem Winteraufenthalt zu fragen, fehlte Otto der Muth; so kam weder ihr Reisen noch Bleiben zur Sprache, und leise und allmälig entfaltete sich ihm die Wunderblüte des Glücks, die immer die Nähe eines geliebten Gegenstandes, selbst unter den traurigsten Beziehungen mit sich bringt. Saß er doch neben ihr! Die Zimmer, die sie bewohnte, all die kleinen Thee-[243] und Arbeitsgeräthschaften zu sehen, hatte er ja so unendlich lange entbehrt, und nun war alles noch da und wie sonst, es zog sich wie ein Zauber um seine Sinne. Daß Gotthard sich nicht in das Gespräch mischte, gewährte ihm ebenfalls eine Erleichterung. Allmälig wurde er immer fröhlicher und begann von seinen Vorlesungen, seinem Leben in Basel, den eben damals die Geologen und Naturforscher zuerst beschäftigenden Gletscheruntersuchungen und seiner morgenden Expedition zu erzählen. Aber, fragte er, plötzlich sich besinnend, wer ist denn der Fremde, der eben von euch ging? Ich bin ihm an der Hausthüre begegnet?

Du irrst, erwiderte Anna, wir haben keine neue Bekanntschaft gemacht.

Doch kam er aus euerm Hause, sogar aus eurer Etage, die Treppe herunter. Vielleicht ein Bekannter von Herrn Gotthard?

Dieser verneinte stumm.[244]

Leontine versicherte, es müsse ein guter oder böser Geist sein, der sich ihrer drohenden Winterlangeweile anzunehmen denke; sie hatte tausend Fragen, immer eine possirlicher als die andere, und baute zuletzt aus Otto's Antworten eine so grotesk-burleske Gestalt des Fremden zusammen, daß Alle in lautes Lachen ausbrachen und die lustigste Stimmung des kleinen Zirkels sich bemächtigte.

Nun, wenn es sich nicht so verhält, wie das gnädige Fräulein zu meinen belieben, sagte endlich, immer noch lachend, der alte Professor, so muß er eine Traumgestalt des Herrn Gotthard sein, der seit einer halben Stunde dasitzt, als brüte er, wie Doctor Faust's Famulus über einen Homunculus.

Gotthard hatte keinen Theil an dem Gange des Gesprächs genommen, auch jetzt war er zerstreut und hatte nicht recht hingehört. Ach! sagte er ernst und weich, welcher Mensch ist[245] am Ende individuell genug, um so ganz genau Dichtung und Wahrheit in sich zu scheiden und mit Gewißheit zu sagen, das habe ich erlebt – das habe ich geträumt!

Otto maß ihn von Kopf zu Füßen, ein furchtbarer Zorn loderte auf in seinen Augen. Ihm war Gotthards Zerstreuung sehr erklärlich; dieser bemerkte es nicht und blieb still in seinem Winkel sitzen.

Leontine war aufgestanden und hatte trotz der Novemberkälte ein Fenster geöffnet; sie sah eine Weile hinaus. Als sie auf Anna's wiederholtes Bitten zur Gesellschaft zurückkehrte, erschien sie den Andern bleich und angegriffen; sie zitterte sogar. Sie schob es auf die Nachtluft.

Der Professor, den die plötzliche, ihm ganz unerklärliche Verstimmung drückte, hatte sich wieder zu Gotthard an das Klavier gesetzt und bat ihn, eine seiner Lieblingscompositionen zu singen. Gotthard fragte die Gräfin, ob sie[246] es erlaube, und willfahrte dem alten freundlichen Mann gern; aber er sang andere, als die gewohnten Textworte.


Mitten in der Brandung auf den Felsentrümmern

Ruht der alte Schiffer, schauend in die Flut;

Unter blauen Wogen, wo die Muscheln schimmern,

Bergen sich Korallen vor des Blickes Glut.


Durch das Meergebrause ruft er den Erschreckten

Und den Bernsteinwäldern und den Perlen zu:

Schlaft in euern Tiefen! Die euch sonst erweckten,

Meine Taucherblicke, gönnen euch die Ruh'.


Glänzt mit euerm Schimmer, euern Purpurzweigen

Ruhig durch die klare, rasch-bewegte Nacht;

Bleibt in eurer Schöne der Najade eigen,

Zu des Wellenbettes hochzeitlicher Pracht.


Hören's die Najaden, unten in den Wogen,

All' die Nereiden steigen still herauf,

Und ein Netz von Klängen, die sein Herz durchzogen,

Schlagen unter Wellen sie dem Fischer auf.


Doch der alte Schiffer schüttelt seine Locken,

In des Auges Muschel schläft die Thräne fort.

Er sieht Netz und Schlingen – die Gesänge stocken,

Seinen Nachen treibt es aus dem Felsenport.[247]


Rasch in sicherm Sprunge steht er in der Barke,

Faßt das Steuerruder mit erfahrner Hand:

Ruhig, Klang und Welle! Euch bezwingt der Starke

Und ihr tragt den Nachen mir zum sichern Strand.


Mit jedem Vers war Gotthards Stimme voller und tönender, sein Ausdruck mächtiger geworden. Als er an die Worte kam: Ruhig, Klang und Welle! leuchtete eine fast blendende Kraft und Sicherheit aus seinen ganz vergeistigten Zügen, so daß Alle in dem kleinen Kreise davon ergriffen, ihn starr und bewegungslos anschauten, etwa wie einen plötzlich unter ihnen erstandenen Propheten oder einen von höherer Kraft Begeisterten. Leontine stand einen Moment, das schöne Köpfchen zu einer fast demüthigen Stellung herabgebeugt, neben ihm am Klavier. Ja, sagte sie leise, Sie werden ein glücklicher Schiffer sein, denn Sie vermögen die inneren, wie die äußeren Gewalten zu bändigen, Sie haben die Kraft dazu.[248]

Kraft ist nicht Glück, mein Fräulein! sagte Gotthard sehr ernst.

Er war aufgestanden und mit an den kleinen runden Tisch getreten, um den die Andern saßen. Wunderbar, der untergeordnete, der besoldete Hofmeister der Kinder stand unter ihnen wie ein Fürst. Sogar Sophie staunte ihn mit einer Art dumpfen Respect an, mit dem sie nicht leicht bei der Hand war. Gotthard bat, sich beurlauben zu dürfen, verbeugte sich tief vor Annen, leicht vor den Uebrigen und verließ den Saal.

Das ist doch ein sehr ungewöhnlicher Mensch! sagte Otto düster. Anna schwieg. Ach! erwiderte Leontine, wie in Traumeswogen versunken, halb flüsternd vor sich hin redend, wenn sich diese Ueberlegenheit an die Spitze eines bedeutenden Unternehmens stellte, wenn in Oberitalien –

Sophie warf den Nähkorb des Fräuleins[249] um und brachte mit den unbedeutendsten Fragen und Suchen nach den herumrollenden Wollenknäueln das Gespräch aus dem Gange. Leontine erröthete heftig; Anna reichte Otto quer über den Tisch die Hand.

Als Anna in ihr Schlafzimmer trat, leuchtete die stille Arbeitslampe wie gewöhnlich herüber. Er schreibt noch! Sie trat ans Fenster und legte die heiße Stirn gegen die kühlenden Glasscheiben. Zum ersten Mal hatte Gotthard vergessen, seine Vorhänge zu schließen. Sie sah hinüber, sah ihn ein Paquet Schriften packen, siegeln und adressiren. Lange stand er dann, es betrachtend, am Schreibtische; er sah sehr ernst, fast trübe aus. Plötzlich wandte er sich und trat mit einer unerwartet raschen Bewegung ihr gegenüber an sein Fenster.

Das alterthümliche Haus, das die Familie bewohnte, umschloß, mit seinem Nebenbau und Seitenflügeln im Viereck, nach hinten zu einen[250] ziemlich engen Hof; Gotthard sah also durch die einander schräg gegenüber liegenden Zimmerfenster Annen unerwartet ganz nahe vor sich. Er hatte scharfe Augen und mußte bemerken, daß sie ihn beobachtet hatte. Ein unbeschreiblicher Ausdruck von Seligkeit und Schmerz überflog einen Augenblick seine Züge, dann senkte er die Augen. Als er sie wieder hob, war das Meteor seines Glückes verschwunden und tiefe Finsterniß umhüllte das ganze Gebäude. Für das ganze lange Leben einen Augenblick des Glücks! sagte er wehmüthig vor sich hin. Er löschte auch seine Lampe, dann sank er im Dunkeln auf einen Stuhl und blickte tiefsinnig in die Nacht hinaus.

Als er am nächsten Morgen nach dem Frühstück, seine Zöglinge abzuholen, bei Annen erschien, sah er unbefangen und heiter aus wie immer.

Muß dem armen Kinde, dem Vrenely, gerade[251] heute einfallen, sich einen guten Tag zu machen! sagte Leontine, Hut und Mantel abwerfend. Ich wollte keinen von euern Leuten hinschicken und lief selbst hin, sie einzuladen. Sie ist nach Brienz zu Verwandten.

Ich habe gar nicht gewußt, daß sie hier aus der Umgegend ist, antwortete Anna.

O, wie ist das möglich? fragte Leontine, indem sie ihren alten Lieblingsplatz, eine Art niedrigen Kinderstühlchens, zu der Freundin Füßen einnahm und ihren zierlichen Arm auf deren Knie legte. Hat sie dir nie vom Haslithal erzählt? Wenn dich die alten erfahrungsgrauen Granitgeister durch die Felsenpforte in das liebliche kleine Eden einlassen, so kannst du dort gewahren, woher ich all meine Elfen- und Nixenbekanntschaften habe. Das frische grüne Thal ist ihr Tanzboden und Sammelplatz; plätschernd, flüsternd und wiegend steigt es von allen Seiten zu ihm hinab; da wehen Wasserfälle[252] wie silberne Fahnen, sie stäuben so duftig geisterhaft hernieder in lauterem Glanz, sie schwingen ihre Regenbogenschleier über die grünen Felsenwände hin, oder schmeicheln in kleinen krausen Schaumwellen zwischen den Gräsern und Blumen sich ein, und Alle erzählen das nämliche Märchen, jedes trägt es ein Stückchen weiter in's bunte Leben. Haben sie aber die Tiefe des Thales erreicht und sind glücklich dem liebenden Drohen des Sonnenstrahls entgangen, der in tausend Küssen ihre Schönheit an sich ziehen will, dann eilen die Plauderinnen, die gar nicht auf ihn hören, weiter; sie eilen, eilen, überlaufen einander bis zum Ulschibach, dem größten und schönsten der Gebirgsbäche, der mit einer ganzen Kaskadenfamilie den Bergrücken hinunterstürzt, und nun geht es lustig fort in schäumendem Jubel. Ueber die grünen Berge schauen die ernsten Wetterhörner auf das plätschernde Kinderspiel nieder; sie[253] strecken ihre alten Schneehäupter dicht übereinander her; aber so alt und klug sie sind, hat's ihnen die Sonne dennoch angethan, sie erröthen noch immer, wenn sie so seitwärts über die Felswand weg nach den tanzenden Bächlein hinlugt. Und wenn die Nacht kommt, dann solltest du erst sehen, wie alle mit einem Mal leichenhaft bleich werden, ordentlich graulich; aber man muß tief in die Mitternacht wachen, um das zu erfahren. Die Bächlein haben deß nicht Acht, sie springen und tanzen lustig fort bei Mondenschein und Sternenlicht und bis zur Morgenröthe.

Gotthard hatte ihr mit steigendem Interesse zugehört. Welch ein Schatz innerer Poesie! sagte er leise. Leontine drehte languissant ihr Köpfchen ihm zu und erwiderte halb schläfrig: Ach, bester Herr Gotthard! ein einziger Regentag macht ihn zu Schanden.

Ich stehe recht ärgerlich arm zwischen Ihnen[254] Beiden, meinte Anna. Ihr ward diese bunte, alles überkleidende Phantasie, Ihnen Ihr rastloses wissenschaftliches Streben, mir aber treten Poesie und aller Ernst des Lebens immer nur in's Herz. Das ist recht unbequem, damit kann man eigentlich nichts anfangen.

Wie können Sie, gnädigste Gräfin! mein Streben beurtheilen – ich meine eigentlich, wie es bemerkt haben? Kaum waren die unglücklichen Worte über Gotthard's Lippen, so fiel ihm die Nachtscene ein und er verstummte, in sichtlicher Verwirrung.

Wo es das Herz zu bergen gilt, sind Frauen muthiger als Männer. Sie erzählte ganz unbefangen, wie sie von ihrem Zimmer aus sein Licht herüberschimmern sähe und oft gesorgt, er werde zu sehr auf seine Jugendkräfte bauen und sich überarbeiten. – Da lag die arme kleine Blüte eines geheimnißreichen Glückes vor ihm[255] – entblättert – zu seinen Füßen. Es mußte sein – dachten beide.

Nach einem Augenblicke erwiderte er: Ich habe eine alte gichtbrüchige Frau gekannt, die fast den ganzen Tag zu Bette lag, aber dennoch täglich um fünf Uhr in die Frühmesse ging und während derselben auf den kalten feuchten Steinen kniete; sie behauptete, es schade ihr nicht, während sie sonst sehr besorgt um sich war, und wirklich wurde sie nicht kränker dadurch und die Ärzte ließen sie gewähren. – Lassen Sie mir meine Kirche, Gräfin, und – ihren etwas strengen Dienst.

Und wie heißt diese Kirche? fragte Anna.

Der Staat, gnädige Frau – und allgemeines Wohl.

Ich fühle die Wesenheit, wenn ich auch nicht die Form des Gehalts erkenne, die Sie Ihrem Leben geben. Jedenfalls werden beide edel sein. – Sonderbar, fuhr sie nach einer[256] Weile fort, daß ich auch nicht einmal die Richtung derselben kenne, ja nicht einmal weiß, welcher Theil Deutschlands Ihr Vaterland ist?

Ich bin ein Rheinpreuße, mein Vater war ein Schlesier. Die Liebe zu meiner Mutter hatte ihn bewogen, sein Vaterland zu verlassen und in das ihre zu ziehen. Wir lebten in Mehlem, einem der kleinen weißen Rheinufer-Städtchen, die Sie kennen. Ich machte meine Studien zu Bonn, Berlin und Breslau; in den Ferien besuchte ich Frankreich, Belgien, Oberitalien. Ich bin sogar einmal auf kurze Zeit in England gewesen. Der bekannte und geehrte Präsident Hellemon, meines Vaters Freund und mein Pathe, leitete meine ersten Schritte in das öffentliche Leben. Ich verdanke ihm viel, doch wollte er mir eine meinem Wesen fremdartige Richtung geben. Meine Eltern hatte ich verloren, ich konnte mich nicht entschließen, in seiner Hand das Instrument seiner[257] Zwecke, sein Geschöpf zu werden. Ich riß mich los. – Im Jahre 1817 hatte mich ein günstiges Ungefähr in die Nähe des Fürsten gebracht, der damals die Rheinprovinzen durchreiste. Hellemon stellte mich ihm vor; später hatte er ihm Arbeiten von mir gezeigt, mich ihm empfohlen. Mir ward dessen Gunst auf eine noch unverdiente Weise. Das Uebrige, gnädige Gräfin, ist Ihnen bekannt.

Aber wie konnten Sie, wenn Ihrer Familie Mittel beschränkt waren, so bedeutende Reisen machen?

Klima, Boden und Jugendkraft begünstigten mich, ich arbeitete mich durch, ich gab sogar an kleinen Orten ein paar Mal Concerte, wo ich länger blieb, Musikstunden, ich schrieb ab, ich behalf mich. Kurz, ich habe die erwähnten Länder in interessanten und bedeutenden Momenten gesehen und wollte, da meine Studien vollendet, eben nach Spanien, als der[258] Krieg von Neuem das unglückselige Land überzog.

Auf dem Rückwege traf ich den Fürsten in Karlsruhe, er concentrirte für den Augenblick meine Kraft, er gab mir Beschäftigung – und öffnete mir Ihr Haus.

Ein jubelndes frisches Kindergelächter unterbrach, von der Treppe herauf schallend, das ernste Gespräch. Leontine, die wie halb schlummernd in ihre eigenen Gedanken und Träume versunken still gesessen, fuhr auf und lief den Kleinen entgegen, die mit großem Eifer ihr Zuspätkommen entschuldigten, ma bonne habe sie weit, weit auf die Bastei spazieren geführt, um die Alpen zu sehen.

Und, fuhr der Ältere fort, mit den tiefblauen Augen seiner Mutter an Gotthard hinauf sehend, wenn du nur mit oben gewesen wärest, die Leute sagen, daß Lawinen gefallen sind – eine ganze Menge. Denke nur, du[259] hättest sie uns gezeigt. Die Berge brauen, sagte der alte Senne unten am Thor, und das sei so rechtes Lawinenwetter, da fielen sie dutzendweise in's Thal. Wärst du nur mitgegangen, lieber Herr Gotthard!

Mein Gott! rief Leontine, plötzlich aufgeschreckt, und unsre Gletscher-Reisenden? – Reicht das Wetter wol so weit?

Das wäre entsetzlich!

Gotthard gestand, ihm fehle genaue Kenntniß der Wetterscheiden und der ganzen Wettergestaltung im Hochgebirg. Gleich nach der Stunde, die ohnehin heute im bloßen Erklären einiger naturgeschichtlichen Gegenstände bestehe, wolle er selbst zum Sennen gehen und ihn befragen. Die Kinder zogen ihn fort.

Gegen Mittag, noch ehe Gotthard wiederkehrte, kam Besuch aus der Stadt und sogleich war von Lawinen die Rede, die hier nahe[260] an Bern selbst gefahrlos und ganz unbedeutend wären, im Oberlande aber sehr gefährlich.

Es sei gar toll, meinten einige Herren, in solchem Wetter Excursionen in's Gebirg zu wagen, es heiße, Gott versuchen. Und wiederum ward die ganze Gletschermessung als unnütz, als thörichte Spielerei gescholten, denn die Unwissenheit reibt sich ja so gern an ihr unverständlichem wissenschaftlichen Streben.

Auf den Seen brause der Föhn, hieß es weiter, und die Luft hange weit und breit voll Schnee; so wie es windstill werde, würde sich's in Massen niedersenken.

Gnad' ihnen Gott und behüte sie! sagte eine junge freundliche Frau. So ein Herr aus der Fremde denkt sich einen sächsischen oder bairischen Winter zu finden; bei uns aber beginnt er zeitig, und ist gar hart und scharf. Und wir haben den zweiten November, es wäre kein[261] Wunder, hingen die Eiszäpfli schon am Dächli ümme.

Annen starrte das Herz in der Brust. Leontine fertigte leise Duguet ab, und dann noch einen zweiten Diener, sie sollten sich beide erkundigen, ob man von irgend einem Unfall oder Unwetter im Oberlande gehört. Es war nichts zu erfahren.

Der Tag verging, der Abend kam. Sie begannen zu warten, zu horchen auf jeden Laut, auf den Schritt in der Gasse, auf das Oeffnen der Hausthür; es kam Niemand. Die Kleinen hatten etwas von der Unruhe gemerkt, sie fragten alle Augenblicke, ob denn Onkel Otto nicht komme, den sie noch gar nicht gesehen und der ihnen immer etwas mitbrächte und sie auf seinem Fuße tanzen oder fliegen ließ.

Die Nacht brach ein. Die alte Thurmuhr schlug Stunde um Stunde so bleischwer langsam, es kam Niemand. Die unter den Häusern[262] hinlaufenden Arcaden, in denen Tags hindurch ein fast südlich reges Leben sich bewegte, wurden öde. Schon waren längst alle Läden und Werkstätten geschlossen, die Lichter erloschen nach und nach die ganze Gasse entlang, es ward so todeseinsam. Anna hörte ihr eigenes Herz schlagen mit peinlicher Gewalt, sonst nichts, gar nichts.

Vergebens suchte sie das Thörichte, Kindische ihrer Angst sich einzureden; es überwältigte sie wieder und wieder.

Gegen Morgen hörte sie ein Pferd aus dem Stalle ziehen. Sie flog an's Fenster; es war Duguet, er hatte sich vom Nachbar einen Char-a-banc geliehen, dem er jetzt heimlich ein Pferd einspannte. Er vermochte es nicht, die Angst seiner jungen Gebieterin so unthätig zu ertragen. Sophie stand mit einer Laterne im Hof und leuchtete ihm; dann packte sie ein und steckte eine Menge kleiner Paquete, auch eine[263] Flasche Wein in das Wägelchen – sie mußte doch wol auch an ein mögliches Unglück glauben. Endlich schleppte sie noch einen alten Pelz ihres Herrn herbei. Duguet nahm ihn nicht um, er legte ihn, sorgsam gefaltet auf den Sitz; augenscheinlich bestimmten ihn die wackern Leute für Otto. Kalte Thränen rollten über Anna's bleiche Wangen, als Sophie vorsichtig das Thor öffnete und der Char-a-banc aus dem Hofe fuhr, leise, leise, um sie nicht zu wecken. Sie trat zurück, als der alte treue Diener schon im Abfahren den Blick noch einmal ihrem Fenster zuwandte; sie wollte seinem so ergebenen Eifer kein Mislingen zeigen, und aus der weit entlegenen Zeit ihrer Kindheit flog zauberschnell ein Bild ihrer Seele vorüber, wie Duguet nach dem allerersten Abschiedsleid in seinen Armen sie nach Hause getragen, als wolle er mit ihr dem Schmerz entlaufen.

Beim Frühstück fand Anna Leontinen fast[264] noch besorgter, als sie selbst war. Gotthard ließ um Erlaubniß bitten, einen Augenblick zu den Damen herüberzukommen; sie ward ihm gern gewährt; man ist so ungern allein, wenn man sich fürchtet. Gotthard trat in seinem mit Pelz gefütterten Jagdrock ein; er näherte sich der Gräfin mit der Frage, ob sie ihm gestatten wolle, eines der im Stalle befindlichen Pferde zu benutzen, um nach Grindelwald zu reiten. Anna sagte ihm, Duguet sei bereits hin, sie nehme indessen sein Anerbieten an, da jener der Sprache nicht mächtig. Wenige Minuten später hörte sie das Pferd vorübertraben.

Und nun begann von Neuem und in immer sich steigerndem Grade die Seelenmarter des Wartens. Diese Qual der Frauen – Männer kennen sie nicht, sie werden zornig, sie laufen fort, sie handeln, sie zertrümmern sogar – Frauen müssen warten! Ach, wüßten Männer, was es ist, für so ein armes gequältes Frauenherz,[265] zu warten, sie würden diese trostlose Pein nicht so oft über uns verhängen! – Mich dünkt, ich würde dem Himmel entsagen, wenn ich ihn lange, lange erwarten sollte – wenigstens bedürfen unsere Seelen keines Fegfeuers. Das Warten der Liebenden auf den Geliebten, der Gattin auf den Gatten, der Mutter auf den nicht heimkehrenden Sohn – dies Uebermaß tausendgestaltiger Angst mag wol als unser Fegfeuer schon auf Erden gelten.

Gegen Abend zog der Lärm vieler Schritte auf dem Steinpflaster und das dumpfe Gemurmel leiser Menschenstimmen von der Gasse herauf – sie kommen! Langsam, Schritt vor Schritt, nahte der Char-a-banc, Gotthard ritt daneben, mit angestrengter Kraft hielt die eine Hand sein Pferd zurück, die andere wehte grüßend mit dem Tuch; augenscheinlich traute er sich des Geräusches wegen nicht, Trab zu reiten.

Im Wagen lag Otto, ob todt, ob verwundet,[266] ließ sich nicht unterscheiden. Vrenely und Duguet hielten ihn stützend in ihren Armen.

Gott sei Dank, er lebt! rief Leontine, ich sehe es Herrn Gotthard an.

Anna war bereits unten am Thore, Gotthard stand vor ihr. Ja, er lebt! aber er ist verwundet, doch hoffe ich, nicht gefährlich.

Ohne weitere Worte schlossen sich beide dem nach der Treppe hingewandten Zuge an. Vrenely hatte fortwährend des betäubten, wie es schien, bewußtlosen, Otto Haupt auf ihrer Schulter und trug mit, muthig und fest wie ein Mann. Das Tuch, das sie im Wagen über den Kopf genommen gehabt, war zurückgesunken, in reicher Fülle fielen ihre dunkeln Locken und Flechten über Hals und Achsel und umschleierten ihr und Otto's bleiches Gesicht; sie sah aus wie eine Mater dolorosa.

Otto ward auf ein Ruhebett in einem an den Salon stoßenden Zimmer gelegt; Anna hatte[267] schon einen Wundarzt rufen lassen. Mit unhörbar leisen Bewegungen trug Leontine alles herbei, was zu des Kranken Pflege dienen konnte. Sophie, früh an solche Scenen gewöhnt, bereitete still dem Wundarzt das Nöthige zum neuen Verbande; Duguet hatte ihr gesagt, daß Otto den Arm zwei Mal gebrochen.

So erwachte, nach einem leichten Aderlaß, der so lange Jahre Vereinsamte, rings von liebenden, sorgenden Blicken umgeben, fast wie zu einem schmerzlichen Glück; keiner hatte ihn aus den Augen verlieren wollen. Anna! war sein erster Laut; als er sie neben sich sah, reichte er ihr die Hand und sank lächelnd, aber erschöpft zurück in die stützenden Kissen.

Allmälig langten nun auch die übrigen Naturforscher an, mit denen er die verunglückte Expedition unternommen. Alle waren ihm besorgt und voll warmer Theilnahme gefolgt, und einstimmig nannten alle das Vrenely seine Retterin.[268] Erst jetzt fiel den Hausbewohnern ihre Gegenwart auf.

Lauterbrunn, Grindelwald und das Haslithal liegen nahe bei einander, nur die große und kleine Scheideck trennen sie. Am Tage, ehe die Gletscheruntersuchung vorgenommen werden sollte, hatte das Vrenely ihren Herrn Ohm, den gewesenen Landammann, nach Lauterbrunn begleiten müssen, wohin ihn ein Geschäft berief.

Im Gasthof hörten sie noch Abends vom Unternehmen einiger fremden Herren, die am nächsten Morgen gar die Gletscher auszumessen gedächten. Auch dort ward das Wagstück vielfach getadelt; ein alter Hirt zeigte sich besonders bedenklich, er war den Weg über die Wenger Alp und Scheideck herabgekommen, und sagte, Wind und Wetter seien drüben gar wüst; auch erzählte er eine Menge schauerlicher Unglücksfälle, die bei derlei tollen Wagstücken sich ereignet.[269]

Nach Grindelwald zu habe es schwer geschneit, meinten andere, es werde sich wol kaum ein Führer finden nach so böser Nacht.

Das Mädchen überkam eine dunkle, namenlose Angst. Ob er dabei sei, wußte sie nicht, nicht einmal, daß er Tags vorher nach Bern gekommen.

Jetzt trat ein Fuhrmann aus Wengern mit an den Schenktisch; sie kannte den Seppi. Es führt ein gefahrloser Weg von einem Thal ins andere, der Gebirgspfad ist der bereits erwähnte über die große Scheideck hin.

Der Fuhrmann war im Begriff, mit seinen Karren abzufahren. Vrenely schmeichelte dem Ohm die Erlaubniß ab, die Gelegenheit benutzen zu dürfen, um eine Bekannte in Grindelwald zu überraschen, sie wolle zeitig wieder zu Lauterbrunn eintreffen, versprach sie. Der alte Mann hatte noch gar nicht einmal Zeit gehabt, sich auf das Ja oder Nein zu besinnen,[270] so saß sie schon auf dem Wägelchen, neben dem Seppi und rollte mit ihm das Thal entlang.

Als sie in die Weitung desselben kamen, begegneten ihnen Bauern und Hirten, die auch von den Fremden erzählten, die wirklich schon seit mehren Stunden aufgebrochen und dem Eismeer zugewandert wären.

Unter einem Vorwande stieg das Mädchen am ersten Hause des Grindelwalds ab, in ihrer Seele hatte plötzlich die Sorge eine feste Gestalt bekommen, sie war Ahnung, ja fast Gewißheit eines drohenden Unglücks geworden. Es war grimmig kalt, obschon die Luft jetzt heiterer war, sie wickelte sich fest in ihr Mäntelchen und eilte querfeldein einem Sennbuben zu, der jetzt im Thal auf der Herbstweide das Vieh hüten half. Der Knabe war halb blödsinnig; sie hatte ihn oft beschenkt, und er war ihr mit großer Neigung zugethan. Diesen holte[271] sie jetzt und beredete ihn mit ihr hinauf nach dem untern Gletscher zu gehen, es mochte eine Stunde Wegs sein.

Lange sahen sie nichts von den Fremden, endlich bei einer Wegkrümmung gewahrten sie hoch über sich am Schneegebirg schwarze, sich fortbewegende Punkte; sie schienen nach dem oberen Gletscher sich hinzuziehen. Aber der Wind hatte sich heftig erhoben hier in der Höhe und wehte ihr den Schnee, der noch ganz weich und flockig in den Aarfen und Fichten hing, wie einen Schleier in's Gesicht; noch immer vermochte sie nichts zu unterscheiden. Sie eilten weiter. Wo der obere Weg an die Gebirgsschlucht führt, sah sie von Neuem die dunkeln Gestalten.

Herr, mein Gott! fuhr das Vrenely fort, dort oben lag schon allenthalben fußhoher fester Schnee, und seitwärts an der Alp rollten donnernd Lawinen hinab in den Bach und in die Enge; bald sah ich die Wanderer, bald sah ich[272] sie wieder nicht. Mit der Gletschermessung wird es heute nichts! dachte ich in meinem Herzen. Ob er nur dabei ist? Es hatte mir Niemand die Namen der Fremden nennen können, und keiner von allen, denen ich begegnet, hatte sie mir zu beschreiben vermocht. Die kalte Bergluft versetzte mir den Athem und den Friedli fror und er wollte nicht weiter mit. Ich gab ihm alles Geld, was ich bei mir hatte, und lockte es dem Bübeli ab, daß wir noch fortstiegen. Jetzt sah ich die Männer wieder, aber seitwärts, hoch über uns und weit; sie gingen sichtlich nach dem zweiten, dem Obergletscher. Scharf zeichneten sich ihre Gestalten gegen die hellgraue Schneeluft ab, dem Einen fiel im Gehen der Mantel von der Schulter, er haschte mit der Hand darnach. Mein Jesus! das war er, an der Bewegung hatte ich ihn erkannt.

Das Herz stand mir still vor Scham, was sollte ich nun sagen, wenn sie das Unternehmen[273] aufgaben, das nicht gelingen konnte bei dem Wetter, und wenn sie herunterkamen und mich da fanden?

Schrillend scharf pfiff der Wind, grell wie ein Nachtvogelschrei. Der Schnee wirbelte immer dichter um mich her, ich mußte gar die Augen schließen, und dennoch litt mich's nicht, umzukehren. Als ich wieder aufblinzle, steht er ganz allein am Bergrand, und ich sehe keinen der Andern mehr um ihn, und wie ich beklommen scharf und schärfer hinüberschaue, kommt es weiß und schwer die Alpe heruntergerollt, zwei, drei kleine Lawinen zugleich stürzen tobend neben ihm und uns in die Thalschluchten. Die Gletscher konnte keine derselben treffen, ich fühlte es an der Windspur, und doch sträubte mir die Angst das Haar. Plötzlich fragt' ich mich selbst: Wo ist er hin? Ich sehe ihn nicht mehr. Da riß es mich vorwärts mit unwiderstehlicher Gewalt; ich sprang, ich lief, das Friedli[274] konnte nicht nach. Nun war ich oben an dem Gletschermeer. Es klang herüber wie fernes Rufen; weiter noch gewahrte ich die Führer, sie gingen eilig hin und wieder, sie suchten, sie riefen. O, es war sein Name, den ich hörte!

Ich hab' ein scharfes Aug', wie ein Falkenblick hielt es die Spitze fest, auf der ich ihn zuletzt gesehen. Immer ängstlicher rannten die Führer auf der Höhe an mir vorüber, indem sie rückwärts schrien, es könne ihn keine Lawine erreicht haben, und endlos seinen Namen wiederholten; aber all ihr Umherlugen war umsonst, er blieb verschwunden. Ich, ich weiß, wo er ist! kreische ich auf, mit einer Gewalt, daß mir fast das Herz in der Brust zerspringt, ich habe ihn gesehen! und springe auf den Gletscher und packe den Führer am Arm und reiße ihn fort mit mir – es war der Jacquelin, ich kannt' ihn wohl. Er ist in einen Eisspalt gefallen; und der mir nach und alle Andern[275] hinterdrein. Es fragt keiner, es zögert keiner, ich reiße sie mit mir fort, durch die unsäglich bebende Angst meiner Seele; ich wußte, er war, von dem Brausen der Lawinen erschreckt, in irgend eine verschneite Tiefe getreten, im Fallen vom Schnee überdeckt; ich wußte es gewiß, klar und deutlich, wie ich meines Lebens mir bewußt bin. Ich flog den Uebrigen voran, bis ich nicht mehr konnte, da nahm mich Jacquelin auf den Arm und kletterte mit mir über die Eisblöcke hin, um den Platz schneller zu erreichen.

In den Spalten lag viel lockerer Schnee, er mußte kürzlich erst als Ball herabgekollert und durch die Schwere seiner eigenen Wucht geplatzt sein. Lange konnten wir nichts entdecken; ein Riß sah aus wie der andere. Ich kroch auf Händen und Füßen bis an die äußersten Ränder. Nein, Gottes Barmherzigkeit wird es nicht zugeben, daß mein Gedächtniß fehle! Es[276] muß da sein! Jetzt erst gewahrte ich etwas in dem tiefblauen Spalt, es schimmerte roth, es war das Futter seines Mantels. Ich sah hinab, daß mir die Augäpfel schier verglasten: es regte sich nicht! Was ich von da an gethan, weiß ich nicht; sie hatten Hacken, Schaufeln, Stricke geholt; wie Jacquelin hinabgestiegen, wie sie ihn heraufgewunden, ich weiß es nicht. Ich war die Erste, fuhr sie nach einer Pause fort, die seine Hand ergriff, als er nun vor uns auf dem Eise lag; sie war noch warm. Nach einigen Secunden schlug er die Augen auf und – erkannte mich.

Das Andre weiß ich, du herzig Mädchen! rief Leontine, indem sie dem Vrenely mit thränenüberströmtem Gesicht in die Arme fiel. Ich weiß, wie du, als er heraufgezogen ward, immer noch besonnen jede Handreichung thatest; ich weiß, wie du voranliefst mit größter Gefahr und den alten Mann holtest, der ihn verband[277] und seinen Arm schiente, wie du die ganze Nacht bei ihm wachtest, bis endlich am Morgen Duguet kam und euch alles Nöthige brachte, noch eh' dein Bote abgegangen. O Vrenely! rief sie immer heftiger weinend, jetzt muß er dein werden! Verlörst du ihn jetzt, du müßtest ja daran sterben!

Jetzt? O nein! sagte kopfschüttelnd das Mädchen, das Vrenely hat ja nun ein Glück für's ganze Leben! O Fräulein, Fräulein! fühlen Sie es denn nicht? Ich, ich habe ihn gerettet! Wenn er nun fort durch die Welt zieht, setzte sie träumerisch und tiefernst hinzu, in weit, weit entlegene fremde Länder und alle die großen Studien und Entdeckungen macht, von denen er manchmal so schön sprach, und wenn er immer berühmter wird und allen Menschen ein Gottessegen – das Vrenely hat ihm ja das Leben erhalten, mit dem er das alles thut! – Und – sie erröthete tief und schlug[278] die Augen nieder – jetzt schäme ich mich auch gar nicht mehr, daß Sie – und er, und so viel andre Leute es wissen, daß ich ihn so lieb habe, ihm so ganz unaussprechlich gut bin, wie gar keinem andern Mann auf Erden; denn sehen Sie – sie heftete den klaren Blick auf Leontinen – das Vrenely will ja nun gar nichts weiter in der Welt. Darum lassen Sie ihn nur ruhig seine Straße ziehen, und wenn er auch das arme Schweizermaidly oft Jahrelang vergißt, manchmal wird er doch daran denken. Das ist mein Segen bis an den Tod.

Mit immer gleich heiterer Kraft stand das Mädchen Annen bei, als Otto nun schwer erkrankte. Mit unerschütterlicher Ausdauer pflegten ihn die Frauen, dazwischen mußte Vrenely noch für den alten Vater sorgen und im Institut ihre Stunden geben. Otto's Zustand blieb mehre Tage bedenklich, er hatte eine starke Contusion am Hinterkopf und man fürchtete[279] eine Hirnentzündung. Es war graulich, mit welcher wirbelnden Hast die Gedanken in seinem Kopfe sich drängten, welch entsetzliche Lebendigkeit und Unruhe aus allen seinen Zügen sprach. Oft rief er halbe Stunden lang Anna's Namen.

Vrenely saß still neben ihm, ihre Hand reichte ihm den kühlenden Trank und ihr liebes Gesicht behielt den freundlichen gütigen Ausdruck; keine Thräne trat in ihr Auge, das, nur jedes seiner kleinen Bedürfnisse zu entdecken bemüht, für nichts Anderes einen Blick hatte.

Allmälig legte sich der nervöse Zustand, er kam zur Besinnung, zur Erinnerung dessen, was geschehen. Als er kräftiger ward und die Frauen ihn mitunter ein paar Stunden lang sich oder Sophiens geübter Pflege überließen, saß Gotthard viel bei ihm. Die beiden jungen Männer kamen einander näher und ein Band tiefer gegenseitiger Achtung schlang sich um beider[280] Seelen. Lieben konnte Otto Gotthard nicht, er war ihm nur dankbar. Das Herz hat Fühlfäden, die unendlich weiter reichen, als das Erkennen des klarsten Geistes.

Als Otto wieder auf zu sein vermochte, ließ er sich von Duguet zu Annen geleiten. Mit welcher Freude flog sie ihm entgegen! wie sorgsam rückte sie dem Freunde den Sessel in den jetzt selten gewordenen Sonnenstrahl! Wie suchte sie, gleich einer liebenden Schwester, ihm alles recht bequem zu machen! Sie war überglücklich, daß er lebe und genese. Otto sah sie mit unaussprechlich inniger Wehmuth an, dann reichte er ihr die Hand: Ach! sagte er, du meinst es gut, unendlich gut, und doch, Anna, wie weh' – er vollendete nicht.

Wunderlich verschieden schien Otto's Leiden auf die drei Freundinnen gewirkt zu haben, was sich am deutlichsten in der Art ihrer Krankenwartung aussprach. Leontine war an fast[281] geister- oder elfenstiller Pflege kaum zu erreichen, sie flog mehr, als sie ging, und doch wie in unhörbar leisem Fluge. Sie saß oft viele Stunden bei ihm, meist unbemerkt, hinter dem Vorhang seines Bettes; war er trübe, schaute sie hervor und erzählte ihm, sang ihm mit halber Stimme seine Lieblingslieder, oder sie las ihm ihre Gedichte vor, sie zeichnete bei ihm lauter närrisch-possenhaftes Zeug, das ihn lachen machte, so daß er seinen Schmerz vergaß.

Anna war sich immer gleich, weich und ernst, errieth sie immer seine Seele. Sie schrieb für ihn nach Basel und an seinen noch in Freiberg lebenden Vater. Sie that eigentlich weniger, als die Andern, beschwichtigte aber mehr und regte ihn weniger durch äußere Dinge auf, nur daß eben sie die Welt ihm sonnenhell und dennoch so finster machte!

Mit unbeschreiblicher Zartheit trat das Vrenely zurück, sowie seine Genesung vorwärtsschritt,[282] mit jedem Tage sittsam scheuer, stellte sie sich wieder an die alte Stelle; des ganzen Unfalls erwähnte sie mit keinem Wort. Verlangte er jedoch zufällig einmal gerade von ihr eine kleine Handreichung, dann zuckte der elektrische Strahl namenloser Seligkeit durch ihr ganzes Wesen, und man wußte kaum das Auge abzuwenden von dem Licht des Glücks, das ihre Züge durchleuchtete und allem, was sie that, den Zauber der tiefsten Herzensneigung verlieh, dem, einen sich ihm Jugend und Schönheit, kaum ein Männerherz widersteht.

Anna! sagte eines Morgens Otto, dieser Zustand muß enden. Ich kann meine Vorlesungen wieder beginnen, den linken Arm brauche ich nicht dazu, ich muß zurück nach Basel. Aber ich habe vorher noch vieles mit dir zu besprechen, eh' wir scheiden.

Wird es dich nicht angreifen, lieber Freund?

Er verneinte schweigend. Dann fuhr er[283] fort: Ich muß es aussprechen, denn ich denke doch unaufhörlich daran.

Soll ich dir entgegenkommen, Otto? Soll ich dir sagen –

Ich habe Kraft, liebe Anna! Du weißt, genauer vielleicht, als ich selbst, was geschehen, was Vrenely für mich gethan. Ich kann kaum weniger thun, als ihr das Leben geben, das sie mir erhalten. Ich bin entschlossen – ihr meine Hand zu bieten.

Anna sah ihn freudig an. Ich wußte es, Otto, und glaube mir, du wirst glücklich werden!

Glücklich! Anna! sagte er sehr trübe, du solltest jetzt nicht mehr so reden! Sie erbleichte. Ruhig, Kind! ich rufe keine Dämonen aus ihrem Dunkel an's Licht. – Ich will lieber unglücklich sein, als unglücklich machen; siehst du, das ist Alles. Es kostet mich einen hohen Preis: die volle Freiheit meiner Wissenschaft.[284]

Anna blieb eine Weile nachdenkend stumm. Eine Ehe ohne gegenseitige Liebe, Otto –

Laß das! unterbrach er sie streng. Ein Mann, Anna, liebt einmal, einmal, nicht öfterer. Unsre Sinne und unsre Eitelkeit, unser Egoismus und eure Schwäche mögen uns in tausend Verhältnisse hineinziehen, vielleicht ist keiner sicher, in keinem Alter, in keiner Stellung, vielleicht bin ich es noch am ehesten durch meine Wissenschaft, sie hat mein Leben bisher mir erhalten, trotz seiner Gluten. Gluten, von denen deine Engelsseele keine Ahnung hat. Still! still! ich bin kein Teufel, aber ich bin nur ein Mensch, Anna, ein Mann! Keiner von deinen Papiermaché-Weltfratzen. – Nun denn, versteh' mich recht, hätte ich die Möglichkeit deiner Liebe noch vor mir, die Möglichkeit, sage ich – denn, fuhr er immer wilder fort, dein Mann ist sterblich und das Leben ist lang – nie würde ich einer Andern[285] meine Hand reichen; möchten die Geier dieser Qualen an mir nagen, gleichviel. Aber, komme es, wie es wolle, ich kenne dich, deine starke Seele, Anna! mich wirst du nie lieben; mich nicht, das Glück blüht nicht mir! – O wer an ein Jenseits glaubte, so recht glaubte, mit der blinden Sicherheit des Köhlerglaubens, um sagen zu können: aber dort! Nun gleichviel, – oder vielleicht! ich bin kein Frömmler, aber ich glaube an ein Jenseits. Dort also – vielleicht!

Er neigte seinen Kopf auf ihre Schulter und schwieg.

Lange saßen sie beide so stumm neben einander.

Weißt du, fuhr sie nach einer Weile gepreßt fort – es war, als klammere sich ihre Seele gewaltsam an einen andern Gedanken, wie man im Wellenstrudel ein schwimmendes Bret ergreift – weißt du, daß Leontine dich liebt?[286]

Ja, sagte er fest. Laß sie! Ich bin wie ein dunkler Schmetterling durch ihr Blumenleben geflogen und habe einen fliegenden Schatten darauf geworfen. Ein Sonnenkuß des nächsten Tages – und sie hat mich vergessen. – Ach, diese glücklichen, ewig bewegten Naturen! Er strich mit der Hand schwermüthig über seine edle Stirn und die noch feuchten Augen. Ich werde das Mädchen nicht betrügen, ich werde nicht heucheln; ich kann ihr Treue geben, Liebe – Liebe in deinem und meinem Sinne nicht! O bitte, bitte, fuhr er fast heftig auf, lehre mich nicht dein Herz kennen! Ich fühle es wie das meine in der eigenen Brust. Was die Welt, was Millionen Weiber Liebe nennen, was sie selbst in ihrer zarten Unerfahrenheit so nennt und glaubt, das gebe ich ihr.

Anna erwiderte nichts, sie hatte seine Hand gefaßt und lange in der ihren gehalten. Plötzlich[287] beugte sie sich nieder und eine Thräne und ihre Lippen berührten sie zugleich.

Anna! Um Gottes willen, Anna! schrie Otto. Er sprang auf, riß sich los, stand einen Moment wie besinnungslos schwankend, dann stürzte er vor ihr auf die Knie nieder und barg sein Gesicht in ihren Schoos. Endlich hob er die Augen wieder, umschloß sie, immer noch kniend, mit dem gesunden Arm, und sah sie so nahe, lange und innig an.

Anna meinte zu vergehen; sie hatte keinen Muth, keine Kraft mehr gegen dies Uebermaß der Qual, aber kein Hauch der Scheu vor der Gewalt seiner Leidenschaft befleckte auch nur eine Secunde ihre Gedanken. Da bog sich Otto noch näher zu ihr hinüber, küßte leise erst ihre Augen, dann ihren Mund – und ließ los. – Schon an der Thüre wandte er sich und sah sie noch einmal mit dem Ausdruck des[288] tiefsten Seelenschmerzes an und ging stumm, ohne wieder aufzublicken, von ihr.

Am nächsten Morgen aber ging er zum Vrenely und bat sie um ihre Hand. Er sagte ihr, daß sie ihm das theuerste Mädchen auf Erden sei, daß er die Hoffnung habe, sie glücklich zu machen; sie möge ihm nun das Dasein wieder lieb werden lassen, das er ja nur ihr verdanke.

Das gute Kind war tief bewegt, sie wehrte es nicht, daß Otto sie an seine Brust zog, und legte sanft ihr Köpfchen an sein Herz. Dann aber hob sie das Rosengesichtchen zu ihm auf und sagte, es sei nun allzuspät ihm zu bergen, wie sehr sie ihn liebe; als er aber sie noch näher zu sich hinziehen wollte, wand sie sich still aus seiner Umarmung und sprach ohne Schüchternheit mit der zartesten Hingebung und doch ganz fest es aus, daß sie ihn genug liebe, um nicht sein schönes, der Wissenschaft geweihtes Leben verderben zu wollen. Wenn er sie heirathe,[289] müsse er seine großen Reisen aufgeben, und das würde ihn gewiß unsäglich unglücklich machen – darum möge er von ihr ziehen, frank und frei, durch kein Versprechen an sie gebunden, und ihrer zuweilen gedenken. Sie aber wolle daheim den alten Vater pflegen und seiner auch nicht vergessen. Und käme er einst nach Jahren wieder und habe dann sein Sinn sich nicht von ihr gewandt, dann, ja dann werde sie unaussprechlich glücklich sein, ihm anzugehören.

Nein! sagte Otto ernst und bestimmt, indem er ihre Hand inniger drückte, dein schönes Herz irrt. Der Mensch hat nur den Augenblick, nur dessen ist er gewiß. Er ist der feste Strand, auf dem er sicher fußt, die Zukunft ist ein wild bewegtes Meer, man muß nicht unnütz sich ihm vertrauen. Und die Trennung, ach, armes Kind! du kennst sie nicht, das ist die Brandung, an der das Schiff zerschellt.[290] Nein, nein, jetzt laß mich in Basel dir und mir die neue Heimat gründen, den sichern Hafen bauen. Laß mich sogleich mit deinem Vater sprechen. Ich reise diese Nacht ab, aber ich hole dich – er wollte sagen, wenn Anna fort ist, sagte aber – wenn die nächsten Rosen blühen.

Und, setzte er immer freundlicher hinzu, denn ihr Glück leuchtendes Gesicht erhellte auch sein Inneres, bist du erst eines Naturforschers Frau, ei nun, so mußt du eben mit forschen lernen. Warum kannst du denn nicht mit nach Schweden? Wer weiß, ich könnte wieder in ein Schneeloch fallen –

Vrenely hätte nicht so ganz Wahrheit und Natur sein müssen, um es zu vermögen, dem Drängen des so heiß Geliebten, der ja längst ihr ganzes Wesen beherrschte, zu widerstehen. Beide gingen zum alten Vater hinüber, dessen rührende Freude Otto'n an den seinen erinnerte[291] und sehr bewegte. Seinem Selbst zum Trotz fühlte er sich glücklich, und blieb es – bis er Annens Haus wieder betrat und sie sah.

Er war aber den Einwohnern desselben nicht bestimmt, auf dem jeden von ihnen anders, aber doch so gewaltig ergreifenden Eindruck dieser Stunde zu weilen, noch war das Vorgefallene, obschon Allen bewußt, nicht zur Sprache unter ihnen gekommen, als sich die Thür öffnete und Herr Gotthard todtenbleich und mit zerstörten Zügen ins Zimmer trat. Er hatte soeben die Nachricht vom Verscheiden des Ministers H**** erhalten, der unerwartet auf dem Rückwege von Verona gestorben war. Der Brief, den seine zitternden Finger krampfhaft umschlossen, war im Augenblicke abgesandt, in welchem ein Courier die Trauerpost nach Berlin gebracht.

Großer Gott! schrie Anna, aufspringend und mit gerungenen Händen vor Gotthard hintretend,[292] und alle Ihre Hoffnungen, alle Ihre Arbeiten – –

Für den Augenblick vernichtet, gnädige Gräfin! erwiderte er dumpf; aber –

Der Fürst ist todt? riefen Leontine und Otto zugleich. Aber Kronbergs Gesandtenstelle, seine Reise nach Petersburg?

Das bricht ja alle seine Pläne, sagte Otto – und ward plötzlich noch bleicher, als vorhin Gotthard.

Anna kam zur Besinnung, der kalte Schweiß trat ihr auf die Stirn. Sie hatte weder an Petersburg, noch an den Gesandtenposten gedacht.

Es ist nicht zu redressiren, sagte Leontine vor sich hin; sie hat ihn total vergessen.

Otto war aufgestanden, die Stirnadern drohten ihm zu springen; er trat ans Fenster, den innern wilden Aufruhr seines Wesens zu verbergen.

Ein Brief vom Herrn Grafen, flüsterte[293] Sophie Annen zu, ich habe ihn draußen Duguet abgenommen. Gott sei Dank! nun werden die Frau Gräfin doch gleich erfahren, wo wir den Winter zubringen.

Er enthielt die nämliche Nachricht.

Gotthard hatte sich gefaßt; er berichtete noch einige mit dem Todesfall in Verbindung stehende Nebenumstände und verließ dann den Salon. – Otto war wie vernichtet.

Und Vrenely? ach, die saß daheim überselig an ihrem Nähtischchen und nähte dem Verlobten, dem Geliebten ein längst heimlich gesticktes Halstuch fertig. Vor ihr saßen der alte Vater und die fast eben so alte Professorin, bei welcher sie ihren, ja, ihren Otto kennen gelernt, und alle drei erzählten einander zum hundertsten Mal jeden kleinen Umstand der glücklich-unglücklichen Zeit dieser Bekanntschaft und malten sich die Zukunft mit den glänzendsten Farben der Hoffnung und Erinnerung aus.[294]

Zuweilen sank dem Mädchen die Arbeit in den Schoos, die Thränen schossen ihr in's Auge; sie mußte die kleinen Hände über der hochschlagenden Brust falten, weil der innere Jubel, die tiefe, selige Dankbarkeit gegen Gott sie überwältigte. Ach, ich bin's ganz gewiß nicht werth! seufzte sie erröthend, und dann lachte sie wieder über alle die vielen Schneelöcher, in die er noch fallen werde beim Berzelius, und schalt, daß er noch immer nicht da sei; bis ihn die Hausklingel verkündigte und ihr der Schreck in alle Glieder fuhr: er kam ja, um Abschied zu nehmen!

Mit drückender Schwere schlich den Andern der Tag hin. Die plötzliche Wendung in Aller Geschick war, obschon jedem Einzelnen bewußt, dennoch keinem in ihrem ganzen Umfange deutlich. Vrenely sogar fühlte mitten im Glück den heimlich ritzenden Dorn der Rose. Sie hätte Otto um keinen Preis aufgeben und dennoch[295] ihm volle Freiheit lassen mögen; es drängte sie ein unbekanntes Etwas, ihm Zeit zu gönnen, das Krankenlager hatte ihr nur allzuklar gezeigt, mit welcher schmerzlich-leidenschaftlichen Hingebung er Annen anhing, aber eben so gewiß war sie dessen, daß diese ihn nicht wieder liebe. Anna's erwachende Neigung für Gotthard war des Mädchens scharfem Blicke nicht entgangen, doch eine leise Scheu ließ sie vor ihr das Seelenauge niederschlagen, ihr Herz wollte nicht darum wissen, daß die verheirathete Anna ein anderes Bild in sich trage, obschon sie ihr, Otto zu lieben, vergeben hätte. Stand er aber selbst ihr gegenüber, sah sie ihn so fest und kräftig ihrem zweifelnden Blicke begegnen, dann war ihr wieder, als sei alles gut, was er gewollt, als könne er gar nicht irren, als müßte gerade sie ihn aus dieser Schlucht glühender Qual herausziehen, wie aus der eisigen Tiefe.

Otto sprach sich über seine Verlobung ernst[296] und würdig aus. Leontine wünschte ihm mit bezaubernder Freundlichkeit Glück; ihre Wangen glühten fieberisch, aber sie blieb völlig Herr ihrer selbst und jeder Äußerung. Die große Welt gewöhnt ja auch die heftigste Natur, die Erregungen des Gemüths und der Leidenschaft zu bergen.

Der gute Professor, der sehr willkommen Abends sich einfand, vermochte es indessen auch nicht, den Stunden eine heitere Färbung zu geben. Otto war mit Vrenely übereingekommen, ihre Verlobung bis zu seiner baldigen Rückkehr zu verschweigen, weil er am nächsten Morgen in aller Frühe abzureisen gedachte. Der Professor, der sich halb und halb im Vertrauen fühlte, war schalkhaft und leicht wie ein bleierner Vogel. Sophie und Duguet wurden den ganzen Abend mit Reiseanstalten und wiederholten Befehlen gequält. Sophie sah abwechselnd Annen und Leontinen an und schüttelte betrübt[297] den Kopf, aber sie beugte sich jeder ihrer Launen und war unermüdlich in Herbeischaffung des Verlangten.

Plötzlich entstand ein Tumult auf der Straße, der Lärm schien aus einem am Ende derselben gelegenen Kaffeehause heraufzudringen; es war ein mistönendes, wüstes Geschrei, man unterschied französische und italienische Flüche, deutsches Schelten und Drohen. Ein dichter Menschenknäuel schien sich in einer Ecke der Gasse um etwas herum zu winden und zu drängen. Anna klingelte heftig. Duguet war in Otto's Angelegenheiten ausgeschickt, der Kutscher trat ein. Die Gräfin befahl, sogleich die Ursache des Auflaufs zu erfragen.

Nach wenigen Minuten kehrte er zurück und brachte die Antwort: die gnädige Herrschaft möchte unbesorgt sein, es wären nur eben ein paar italienische Spitzbuben und Maleficanten[298] arretirt worden, die Aufruhr stiften und die Schweiz verrathen wollten.

Die traurigen Maßregeln, zu welchen im Jahre zweiundzwanzig die Verfälschung einer ministeriellen Note Veranlassung gab, sind allgemein bekannt. Einem Lauffeuer gleich durchflogen beängstigende Gerüchte einer drohenden Umwälzung des bis dahin friedlich erhaltenen Zustandes die ganze Schweiz; in krassester Entstellung verbreiteten sich die seltsamsten Gerüchte durch die höheren und niederen Volksclassen. Unzählige, meist harmlose Fremde, denen die Cantone Genf, Waadt und Wallis bisher ein sicheres Asyl geboten, mußten plötzlich, des Carbonarismus verdächtig, dasselbe verlassen; sie wurden polizeilich aufgehoben, gewaltsam entfernt, sogar gefänglich eingezogen. Der panische Schreck hatte jetzt auch in Bern der Gemüther sich bemächtigt und wirkte um so gewaltsamer,[299] als er später denn in den anderen Städten erwacht war.

Annens freiheitschlagendes Herz hatte schon Wochen lang mit den Unglücklichen gelitten, die, schuldig oder nicht, ein so unerwartet hartes Verhängniß in fremdem Lande traf. Sie ließ sich eben noch einmal die näheren Umstände des traurigen Vorfalls berichten, als Leontine und Otto zugleich eintraten, die in ihren gegenüberliegenden Zimmern von dem ganzen Lärm nichts gehört hatten. Der Kutscher wiederholte sogleich seine Erzählung. Kaum aber hatte Leontine die ersten Worte derselben vernommen, als sie todtenbleich und bebend, wie von einem heftigen Schwindel befallen, mit sehenden Augen blind, tappend den ersten Stuhl zu erreichen suchte, und unfähig, sich auf den Füßen zu erhalten, wie bewußtlos darauf niedersank. Anna, Sophie und Otto sprangen zu, sie zu halten; es dauerte mehre Minuten, ehe sie den[300] Anfall, gegen den sie sichtlich mit allen Kräften rang, gewaltsam überwand. Der Kutscher wollte sogleich zum Doctor laufen, Sophie wehrte es, Annen zuwinkend, ab; sie versicherte, es wären Vapeurs, sie sei dergleichen am Fräulein längst gewohnt, und das englische Salz, das irgend auf Tisch oder Console liegen müsse, würde augenblicklich helfen. Alle Anwesenden, sogar der alte Professor, liefen, natürlich das Salz suchend, im Zimmer umher, nur Gotthard, der hinter Madame Sophie stand, blieb unbeweglich. Ce n'est pas lui! flüsterte ma bonne der noch halb Betäubten in's Ohr. Herr Gott, da ist das Salz in meiner Tasche! Mille pardons! fuhr sie, zur Gesellschaft gewendet, fort: Sehen Sie, es wird schon besser!

Leontine hatte sich wirklich erholt; mit großer Anmuth entschuldigte sie den ihr selbst unbegreiflichen Zufall.

O dear, o dear! schrie im Eintreten Lady[301] Frederic, die expreß von ihrem lieben Professor Abschied zu nehmen kam. Ist das da draußen ein Spectakel! In ihrem Eifer bemerkte sie natürlich Leontinens Unwohlsein gar nicht. Da haben sie einen von meinen Landsleuten, das heißt, ich wollte gerade das Gegentheil sagen, einen von meinen Nichtlandsleuten, einen Engländer arretirt. Ein Irländer hätte sie nicht hier vier Wochen lang dazu erwartet. Der arme Mensch ist tipsy, ich glaube, sie nennen das hier ein wenig betrunken, und will sich durchaus mit der Polizei boxen. Sie suchen nach drei Andern, die aber nach dem enormen Lärm sich schwerlich finden lassen werden.

Ich bitte Sie, Gotthard! sagte Anna, was ist's eigentlich?

Landammann Wateville hat leider eine zweite und diesmal wirklich authentische Note österreichischer Seits erhalten, die allerdings auch die hier sich aufhaltenden Fremden bedroht. Man[302] spricht von Stiftung einer neuen carbonarischen Freimaurerei; auch der französische Minister scheint sehr ernstliche Maßregeln zu Entfernung ihm verdächtiger Personen zu nehmen.

In dichtem Kreise umschlossen alle Anwesenden den Erzähler. Lady Frederic begann zu fragen. Leontine nahm jetzt lebhaft Theil am Gespräch, ihr Unwohlsein schien vergessen. Otto, Gotthard und der Professor arbeiteten das vorgeschlagene Thema nach allen Seiten durch.

Draußen war es still geworden bis auf den Sturm, der an die Fenster schlug und den ein lustig gepfiffenes italienisches Volksliedchen durchtönte.

Ah! sagte Anna, nenna sta grazia toja! und Venedig tauchte vor ihr auf. Gott sei Dank! den haben sie nicht!

Leontine war jetzt brillanten Humors und zankte sich auf's Possirlichste mit dem alten Professor.[303]

Hätte ich Sie, mein gnädiges Fräulein, doch wahrhaftig nicht für eine solche Erzdemagogin gehalten!

Bitte, bitte! erwiderte sie lachend, nur für mein Herz bitte ich um das Conservativ- oder, wie es jetzt heißt, Reactionssystem.

Man reizt die Jugend zum bestimmtesten Widerspruch durch diese scharfen Maßregeln, perorirte Lady Frederic. Es hat einen eigenen zauberhaften Reiz, den Märtyrer einer Idee zu spielen.

Hier ist von einer im Allgemeinen untergegangenen, im Einzelnen leider nur allzu wunder-lebendig erhaltenen Ueberzeugung die Rede, sagte Gotthard.

In diesem Augenblicke variirte unten der Pfeifende und ging in wunderlich-kecken Modulationen in das Thema des bekannten Polenliedes: »Noch ist Polen nicht verloren!« über.

Da haben wir's, schmunzelte der Professor,[304] unser musikalischer Demagog ist mit der Geographie brouillirt.

Leontine lachte laut; sie und Lady Frederic liefen an's Fenster, es war aber Niemand zu sehen.

Aber, mein gnädiges Fräulein, sagte der Professor, wenn Sie mit dem Lichte in der Hand an's Fenster treten, zeigen Sie sich, anstatt den Gegenstand auf der Straße zu beleuchten.

Oh! Oh, yes, of course! meinte Lady Frederic.

Otto hatte sich still in eine Ecke gesetzt; zuweilen sah er aus derselben Annen wehmüthig lächelnd an, als wollte er sagen: Das nanntest du Liebe?

Gotthard sprach schön und ernst über politische und Staatsangelegenheiten mit dem Professor und suchte die gescheiten, aber etwas schonungslosen Fragen der Lady, die sie wie Raketen in die Unterhaltung warf, abzupariren.[305] Am Ende ging der Abend, wie viele seiner trüben Brüder, vorüber.


Als am nächsten Morgen Anna mit ihrem bedrückten Herzen wieder allein war, überlas sie nochmals Kronbergs Brief. Der größte Theil desselben war vor Empfang der Todesnachricht geschrieben. Wie bei seiner Abreise, schien er einen verlängerten Aufenthalt seiner Familie in Bern zu wünschen; wie sollte sie ihm sagen, daß dieser ihrer Empfindung nach unmöglich geworden? Von der Liebe eines Andern mit einem Mann, der uns liebt, zu sprechen, ist schwer; aber einem Gemahl, der uns nicht mehr liebt und doch als sein Eigenthum mit eifersüchtigem Blicke bewacht, das Gefühl dieses Andern als Hebel unserer Handlungen zu bezeichnen, scheint fast unmöglich. Sie fürchtete im besten Falle Spott, gleichgültiges[306] Hinnehmen des ihr so Wichtigen, im schlimmern arges Misverstehen und kränkenden Verdacht. Ihr Verlassen Berns war Kronberg unbequem, und leider ist Unbequemlichkeit in unsern Tagen fast das Wichtigste, Verabscheuungswürdigste in den Augen unserer Männer geworden. Ich glaube, die Bequemlichkeitsliebe ist an die Stelle des Faustrechts getreten, wenigstens wirkt sie zuweilen eben so schonungslos und gewaltsam als jenes. Ich habe Freundschaft, Liebe, Vertrauen und vielgestaltiges Glück an dieser unserer fatalen Zeiteigenschaft scheitern sehen und nie begreifen können, warum man sie noch nicht zu den größten Leidenschaften zählt, die einzelnen Auserwählten das Leben zum Paradiese, den meisten aber zu einer sich täglich wiederholenden Qual und Sorge machen.

Es wird ihm sehr unbequem sein! wiederholte sich Anna und sann und sann, einen[307] Vorschlag aufzufinden, der ihrem Gemahl die Mühe spare, ihr einen andern Aufenthaltsort anzuweisen. Im wiederholten Lesen des Briefes ward ihr immer deutlicher, daß des Fürsten Tod die ganze nur nach seinem Willen bestimmte Sendung nach Petersburg annulliren und daß sie vielleicht gar einem Andern zugetheilt werden könne – was dann? Vielleicht kam dann Kronberg selbst, vielleicht berief er sie und Leontinen nach Berlin.

Dann tauchte wieder Gotthard's Bild zwischen den Zeilen auf. Wie unwichtig erschien die eigene Sorge, dieser gehemmten gestörten Wirksamkeit gegenüber. Könnten wir nur etwas für ihn thun! dachte sie weiter. Sie kam an einen gestern schon besorgten Auftrag, eine Summe Geldes einzucassiren. Die Rollen lagen vor ihr auf dem Tische.

»Da ich, schrieb Kronberg weiter, über das Salaire des Herrn Gotthard nichts Bestimmtes[308] mit ihm abgemacht, du aber, wie mir scheint, immer noch mit seiner Methode und seinem Betragen wohl zufrieden bist, so warte nicht das Ende des Jahres ab, sondern gib ihm funfzig Thaler in Gold und frage ihn zugleich, ob er mit hundert funfzig jährlich und freier Station zufrieden ist. Der arme junge Mann ist vielleicht in Geldnoth ohne daß wir es ahnen.«

Mechanisch war Anna aufgestanden und hatte blindlings eine der Geldrollen ergriffen. Plötzlich durchzuckte sie der Gedanke, daß es Gotthard, Gotthard sei, dem sie dieselbe geben, den sie damit bezahlen solle. Eiseskälte durchrieselte ihre Glieder; sie ließ das Geld fallen – es rollte auf dem Boden umher. Mit starrem Blick folgte sie dessen Bewegung; sie zitterte mit jeder Secunde heftiger. Jetzt bohrte der entsetzliche Gedankenstrahl wie ein glühendes Eisen sich immer tiefer ihr ins[309] Gehirn: Du sollst den Mann bezahlen, den du liebst – er steht in Kronbergs Dienst!

Wie zerbrochen knickte die hohe Gestalt zusammen. Und also ist es wahr, und also liebe ich ihn? wirbelte in rastloser Hast das fragende Empfinden durch jede Fiber, durch jeden Pulsschlag ihres Wesens hin. Unwiderruflich elend – antwortete sie sich selbst.

Lange vermochte sie durchaus nichts weiter zu fassen, noch dachte sie nicht entfernt an ein Unrecht gegen ihren Gemahl, sie fühlte nur den Moment und seine Pein, und daß ihr Geschick entschieden sei; sie gehörte zu den Unglückseligen, die nicht weinen im Schmerz – die trocknen Thränen brannten ihr in den Augenhöhlen. Nach vielen Stunden fand sie Sophie in einer Ecke ihres Kanapees, wie von plötzlicher Krankheit ergriffen, stille liegen; sie hatte heftiges Fieber und war, von der endlosen Gedankenjagd tödtlich erschöpft, in dumpfe Betäubung gesunken.[310]

Aber es wurde wieder Tag. Erbarmungslos schlangen sich die Stunden zur Kette in einander; sie sollte, sie mußte weiter leben.

Ihre Knaben kamen, ihr guten Morgen zu sagen. Als sie die Kinder sah, überflutete ein nie gekanntes Weh ihr Herz. Anna war fast immer gesund, und den Kleinen war es so ungewohnt, die Mutter leidend zu sehen; sie brachten ihr schönstes Spielzeug, Früchte und Blumen mit, alles, was sie nur besaßen, und wollten, damit die Mama pflegen, wie sie es ihnen bei kleinen Uebeln gethan.

Lange hielt Anna Beide fest in ihre Arme geschlossen und sah die lieben Züge wieder und wieder mit stillem Ernste an. Es war ihr sonnenhell in der Seele, daß, was auch geschehe, in welchen Abgrund von Qual oder Schuld dies gewaltige Gefühl sie stürze, nichts jemals von ihren Kindern sie trennen könne und dürfe.[311]

Wochen, Monate lang hatte sie sich zu täuschen vermocht. Otto, sogar Leontine hatten längst das trübe Geheimniß errathen; jetzt, da auch sie sich dessen bewußt geworden, feilschte und marktete sie nicht, weder mit ihrem Herzen, noch mit ihrem Gewissen. Jede Selbstlüge blieb dieser starken, großen Seele fern, es lag vor ihr wie ein unermeßliches dunkles Unglück; aber sie beschloß, ihre Leidenschaft zu tragen, elend zu sein, wenn es denn unvermeidlich, aber nie und nimmer das Gefühl des Verlustes ihrer Kinder auf sich zu laden.

Ach! auch in Annen lag der Drang nach Glück, der, mächtiger noch als der Instinct, den Lebensmüden im Schiffbruch zwingt, an den schwimmenden Mast des zertrümmerten Schiffes sich zu klammern und mit den Meereswogen ihn ums verhaßte Dasein kämpfen heißt. Dieser heiße quälende Durst nach Glück, den fast immer die Liebe in jeder Menschenbrust zuerst[312] erweckt, der mit den dahinrinnenden Stunden immer riesiger alle Kräfte der Seele überwächst und den alles spätere Leben fast nie zu stillen vermag. Aber dem Weibe gab die erhaltende Natur ein ungeheures Gegengewicht, daß sie in diesem Ringen nach Glück nicht unbedingt zu Grunde gehen müsse: die heilige, aber so allmächtige Mutterliebe.

Nicht umsonst erfanden die Alten das schöne Wunderbild vom Pelikan, der die eigene Brust aufreißt und mit dem Herzblut seine Jungen nährt; nicht umsonst eint der Indier die zerstörende und erhaltende Kraft zu einer und derselben Gottesgestalt. Tiefer noch als die leidenschaftlichste Glut greift das Gefühl der Mutterliebe in alle Urbedingungen unseres Lebens ein und ruft schaffend und vernichtend zahllose unverstandene, unerklärbare Erscheinungen des Lebens hervor.

Anna dachte von dem Allen nichts, sie [313] fühlte es nur: die Lichtausströmungen der höchsten Ueberzeugungen berühren das ganze individuelle Leben, nicht die einzelne Kraft. Die Radien eines solchen unmittelbarsten Verstehens unseres Selbst fließen mit der tiefsten Empfindung in einen Brennpunkt zusammen.

Sie sah ihn wieder. Alle Drei lebten das tägliche Leben so neben einander hin wie immer. Leontinen wurde das Reden am leichtesten; sie barg ihren Kummer um Otto nicht, sie klagte sogar auf's Anmuthigste um ihn und verklärte diese zarte Klage mit jedem Reiz ihrer so reichbegabten Natur. Es lag eine so elegischliebliche Wehmuth in Allem, was sie that; kein Geständniß der Liebe, nur ein Jammer um weit entrücktes und verlorenes Schöne.

Vrenely saß viel bei ihr. Leontine ging sogar zuweilen mit in die Kirche, wenn das Mädchen für Otto beten wollte, sie hatte allmälig eine Art poetischer Frömmigkeit von jener[314] angenommen und den Glanz ihres scharfen, spottenden Witzes in der Rückspiegelung einer so schönen Einfachheit von sich geworfen wie einen unnütz gewordenen Schmuck; und in dem Allen war kein Falsch, es war die augenblickliche Gestaltung ihres Wesens. Nur Eins war sonderbar, Leontine, die stets Gesellige, war gern allein, als miede sie die grellen Widersprüche des Außenlebens. Anna mußte sie gewähren lassen, denn zum ersten Mal war sie der Freundin gegenüber nicht unbefangen; zum ersten Mal hatte Anna ein Geheimniß. Obwol sie ahnte, daß es Leontinen längst keines mehr sei, konnte es ihrer Meinung nach niemals unter ihnen zur Sprache kommen.

Man hat zuweilen im Traum das Gefühl des Fliegens, des Hinschwebens über schöne Gegenden und geliebte Menschen; das Erwachen ist fast immer mit dem Schreck eines tiefen Sturzes verbunden. Ich glaube, das gab uns[315] das Wort: aus dem Himmel fallen. So war es Annen; wie im Traume hatte sie sich hoch erhoben über das eigene Leben, ihr ahnete ein schweres Erwachen.

Aber sie war trotz dem Allen glücklich und insgeheim sich dessen bewußt. Wenn Gotthard sprach, empfand sie es als ein Glück, und wenn er schwieg und sie seine edeln Züge ansah, war's nur ein anderes; in seinem Gehen, Kommen, Bleiben, vor Allem aber, wenn er seine ernsten Lieder sang, die sein Wesen, wie seine Verhältnisse rückspiegelten, durchwogte sie ein Gefühl der Seligkeit, das sie nicht einmal mit dem Gedanken zu berühren wagte, um nicht aus dem Himmel zu fallen. Thöricht, thöricht, daß man sagt: Unschuld und Jugend – die Frühlinge der Menschenbrust – kehren nie wieder! Anna war eine Frau von vierundzwanzig Jahren, und die Liebe machte sie zum vierzehnjährigen Mädchen.[316]

Gotthard war unter ihnen der einzige wahrhaft Unglückliche; auch er wandte den Blick ab vom eignen Innern, um nur auf Annens und ihrer Kinder Leben hinzublicken und in der ihm vielleicht nur karg gemessenen Zeit des Beisammenbleibens noch alles ihm Mögliche für sie zu thun.

Mit Briefen Kronbergs war auch ein Schreiben des Ministeriums an Gotthard eingelaufen. Nicht nur fanden seine Arbeiten die vollste Anerkennung, es ward ihm zugleich die Aussicht zu einer umfassenderen Thätigkeit eröffnet. Wie es schien, hatte der Fürst selbst noch vor seiner Abreise die eingesandten Berichte dem Cabinet, für welches Gotthard arbeitete, vorgelegt und die Klarheit der Darstellung, die ernste Genauigkeit derselben, die Genialität der Combinationen bei größter Tüchtigkeit der Auffassung hatten die Blicke des Ministeriums auf deren Verfasser gezogen. Ueberrascht, ihn nicht schon[317] früher bemerkt zu haben, schien man höheren Orts entschlossen, ihn nicht mehr aus den Augen zu verlieren. Seine Bahn war gebrochen.

Gotthard theilte der Gräfin die günstige Wendung seines Geschickes mit und bat, ihm zu vergeben, wenn er sich öfters dem unverdienten Vorzug – das Wort Glück wagte er nicht – in ihrem engeren Familienkreise zu weilen, entziehe. Es war ihm ein tiefer furchtbarer Ernst um die Bekämpfung der ihn schwächenden Leidenschaft, darum mied er sie oft; ein Vergessen, ach, nur ein Verschmerzen seiner Liebe fiel ihm längst nicht mehr ein.

Unerwartet kündete jetzt Kronberg seiner Gemahlin seine Rückkehr an; er befahl, ein paar Gastzimmer in Stand zu setzen, und bat Annen, seine Abreise nach Bern Allen, selbst Leontinen, zu verschweigen. Es schien leicht zu errathen, daß Josephine ihn begleiten und ihre[318] Tochter mit einem freundlichen, Alles ausgleichenden Besuch zu überraschen gedenke.

Sie wird mir Leontinen entführen, seufzte Anna, den gelesenen Brief faltend, und wir gehen dann wol Alle nach dem Ort, den Kronberg als Aufenthalt bestimmt. Eben wollte sie in den Saal zurück, als Gotthard aus der Thür ihres Zimmers ihr begegnete und ernst und dringend sie um ein Gespräch weniger Minuten bat. Mit ehrerbietigen Ausdrücken entschuldigte er sein Einmischen in eine Angelegenheit ihres Hauses und schien dann verlegen, den Zweck desselben näher zu berühren.

Kronbergs Befehl nach, hatte ihm Anna das unglückselige Geld zwar zustellen lassen, die Summe aber vergrößert und die Bitte ausgesprochen, die Auslagen für die Knaben davon zu bestreiten und später mit ihrem Gemahl das alles zu berechnen. Auf diese Weise war das Geld ein bloßer Vorschuß für die Kinder.[319] Unwillkürlich suchten ihre Gedanken hierin einen Zusammenhang mit dem gewünschten Gespräch; eine tödtliche Verlegenheit bemächtigte sich auch ihrer.

Gotthard faßte sich endlich gewaltsam und bat sie, die nächste Vergangenheit ihrem Gedächtniß zurückrufen zu dürfen. Er erinnerte sie an Otto's unerwartete Rückkehr und an den Fremden, dem jener auf der Treppe begegnet, dann an den letzten Abend, an den Volksauflauf, an Leontinens Ohnmacht und an das vor dem Hause gepfiffene Lied; er bekannte ihr, die dem Fräulein zugeflüsterten Worte Sophiens: »ce n'est pas lui« gehört zu haben; er erinnerte endlich an Leontinens Beleuchten ihrer eigenen Gestalt, als sie mit Lady Frederic an das Fenster getreten. Sprachlos starrte ihn Anna mit immer wachsender Angst an; sie dachte, er werde ihr etwas über sich selbst entdecken, er aber schloß mit wiedererrungener[320] Besonnenheit: Unbezweifelbar gewiß scheint mir, daß eines jener unglücklichen Opfer der Politik und eigener Ueberspannung hier im Hause verborgen ist, und daß Fräulein Leontinens Güte und Milde auf eine Weise misbraucht werden, die leider den Grafen Kronberg in seiner Stellung auf's Empfindlichste compromittiren, ja seiner Ehre gefährlich werden kann.

Anna blieb einige Secunden sprachlos. Nein! rief sie aus, wie könnte Sophie – –

Das ist mir selbst ein Räthsel; indessen wurden doch gerade ihre Worte der Leitfaden in meiner Hand. Ich vermuthe, daß im dritten Stockwerke eine über meinem Zimmer gelegene Bodenkammer dem Unglückseligen zum Versteck dient. Unter einem Vorwande habe ich von des Nachbars Hause herüberzusehen versucht, die kleinen Fenster sind verhangen, die Kammer gilt für eine Garderobe Sophiens.

Weiß Duguet? unterbrach ihn Anna.[321]

Ich glaube, nein! Und gerade, um mit Ihnen zu besprechen, ob ich meine Vermuthungen Ihrem alten Diener mittheilen, mit ihm oder allein den Versuch wagen soll, dem Verborgenen zur Flucht behilflich zu werden, kam ich hierher. Wenn Sie es mir gestatten, Gräfin, so bekenne ich Ihnen, daß ich letzteres vorziehe. In der Hoffnung, daß Sie mir Ihre Erlaubniß nicht versagen, um die ich Sie herzlich bitte, habe ich – er legte ein versiegeltes Paquet auf den Tisch – hier ein paar Verfügungen getroffen, einige Andenken und vollendete Arbeiten zusammengerafft, die ich Ihrer Gunst empfehle. Im Fall eines Mislingens, das mich vielleicht in Unannehmlichkeiten verwickelt, oder auch zur Flucht mit dem Unbekannten zwingt, enthalten diese Papiere vielleicht meine Vertheidigung, jedenfalls aber nichts, was Ihnen oder den Ihren irgend Nachtheil bringen kann.[322]

Gotthard! schrie Anna auf – Leichenblässe bedeckte ihre Züge – keine Uebertreibung, die mir – sie wollte sagen, das Leben kosten würde – aber sie streckte nur bittend die Hand aus und der Ton ihrer Stimme versagte, er brach an der Erinnerung ihrer Lage.

Gotthard ergriff die bebende Hand und hielt sie einige Secunden in der seinen, mit abgewandtem Blick sagte er leise: fühlen Sie denn nicht, daß ich – gerade ich Ihn (er nannte Kronberg nicht) um keinen Preis einer solchen Entdeckung aussetzen darf? In meinen heutigen Briefen ist von seiner Rückkehr die Rede, er ist Gesandter in Wien geworden – und ich – bin ihm als Regierungscommissarius für alles Juristische beigegeben –«

Anna schlug die Augen mit einem unaussprechlichen Ausdruck auf, sie faltete die Hände bittend wie ein Kind: Ist's unvermeidlich?[323]

Gotthard ging in tiefer Bewegung auf und nieder. Ich finde keinen Ausweg.

Auch nicht Duguet's Hülfe?

Nein, im Hause könnte er mir nützlich sein, die Flucht wird er vielleicht sogar gefährden.

Und Leontine?

Nein, o nein! – Was auch geschehen mag, welchen Preis es auch koste, es muß unter uns bleiben! Er hatte im Auf- und Niedergehen sich ihr zugewandt, seine Züge hatten das seltsame, ihm eigenthümlich Durchleuchtende bekommen.

Was kann im schlimmsten Fall dem Grafen drohen? fragte Anna etwas gefaßter.

Eine entehrende Anklage der Duplicität.

Und Ihnen, Gotthard?

Der Verdacht der Theilnahme an der Freimaurerloge, am Carbonarismus – –

Großer Gott! also Festung, auf lange vielleicht, im Augenblicke, da Sie dem Höhepunkt[324] Ihres Strebens sich nähern! – Nein, rief sie plötzlich im wildesten Schmerz, keine Pflicht auf der Welt kann mir das gebieten!

Gotthard stand wieder still vor ihr, das Leuchten seiner Züge war jetzt wie eine strahlende Verklärung über sein ganzes Wesen ausgegossen – ein bebendes Gefühl unsäglichen Glücks flutete in jeder Ader, jeder Fiber; er sprach kein Wort, er sah sie kaum eine Secunde lang an, er berührte nicht einmal ihre Hand. Aber plötzlich floß der Glutstrom des Glückes auch durch ihr Herz und auch ihrer Seele wuchsen Riesenflügel: Beide wußten in diesem Augenblicke, daß sie grenzenlos geliebt wurden, grenzenlos liebten.

Als sie wieder aufsah, war er fort.

Indem öffneten die Knaben an Betzys Hand die Thür, sie waren schon in ihren weißen Nachtkleidchen und kamen, der Mutter gute[325] Nacht zu sagen, um, wie sie es nannten, ihr Dämmerviertelstündchen durch bei ihr zu bleiben.

Anna legte die Hände unbewußt auf's Herz, als habe sie Gott für eine große Gnade zu danken: ein schwerer Lebensaugenblick war schuldrein wie mit Engelsfittigen über sie hinweggeschwebt. – –

Mutter! sagte Egon, indem er rasch die Lehne ihres Fauteuils erkletterte und darauf rücklings seinen gewöhnlichen Platz einnahm, Betzy ist garstig, sie will nicht, daß ich das schöne Gebet spreche, das Vrenely die Tante Leontine gelehrt –

Ich sage das vom kleinen, kleinen Englein, flüsterte schon halb im Schlaf sein Bruder Joseph, der seinen Kopf auf Annens Schoos gelegt hatte, das ist viel hübscher.

Betzy wollte den Fall erörtern, Anna winkte ihr, zu schweigen. Alle Gebete, mein Egon,[326] sagte sie liebkosend, die aus dem Herzen kommen, sind gut und schön.

Aber nicht so schön! meinte kopfschüttelnd Egon. Ich kann es recht gut verstehen und Tante hat es mir auch erklärt. Höre nur! Er faltete, oben auf seiner Lehne sitzend, die Hände und betete mit tiefer Inbrunst:


»Daß walte Gott

In Schlaf und Tod,

Wenn Leib und Seele scheiden;

Daß walte Gott

In Glück und Noth

Im Finden und im Meiden.


Daß walte Gott

In seiner Treu

Auch über meiner Liebe;

Daß walte Gott,

Bewahr' vor Reu'

Die Tage hell und trübe.


All meines Herzens Bangen,

All meiner Seel' Verlangen

Geb' ich in seine Hände,

Es führe mich an's Ende.«[327]


Ist das nicht schön, Mutter? Und das letzte hat Tante Vrenely immer gedacht, während sie Onkel Otto im Schnee suchte.

Anna war tief ergriffen. Es gibt Lagen im Leben, in denen man an keinen Zufall glaubt. Sie schloß den Knaben inniger an's Herz und schlichtete den kleinen Streit mit bebenden Lippen. Als aber die Kinder fort waren, fiel die gedankenschwere Last des Augenblicks mit verdoppelter Gewalt auf ihre Seele zurück; sie fühlte nicht den Muth, irgend etwas gegen Gotthards Willen zu thun, und eben so wenig die Kraft, unthätig ihn einer so drohenden Gefahr entgegentreten zu sehen. Endlich fiel ihr ein, Otto zu benachrichtigen, ihm einen Expressen zu senden. Im Begriff, einige Zeilen aufzusetzen, um ihn nach Bern zu berufen, überfiel sie ein neues Schwanken. Würde er zeitig genug kommen?

Sie stand noch unschlüssig am Schreibtische,[328] als Duguet meldete, daß der alte Herr Professor im Salon sei.

Wer ist noch drüben? fragte sie mechanisch.

Die beiden jungen Damen und Herr Gotthard.

Gottlob! Heute gedenkt er also nichts in der unseligen Sache zu unternehmen! sagte sie zu sich selbst.

Drüben war Alles heiter. Der alte Professor erzählte und neckte die Mädchen; Gotthard war gesprächig, aufmerksam und freundlich; die vorhergegangene Stunde trat weit zurück und barg sich hinter ihre Schwestern; in der Gegenwart schien Alles behaglich. Im Kamin knisterte die auflodernde Holzflamme, auf dem Tische standen schon Frühlingsblüten. Der Professor machte Vrenely eine emphatische Beschreibung Basels; Paris und London fielen ganz daneben weg. Gotthard war zum ersten Male gesellig-liebenswürdig, er entfaltete ein hinreißend komisches Talent, sowol im Vortrag[329] einiger Reiseabenteuer, als in Darstellung der darin vorkommenden einzelnen Persönlichkeiten. Er und der Professor warfen einander das Gespräch zu, wie einen bunten Spielball; Leontine und Vrenely bildeten ein höchst dankbares Publicum. Zum Glück kam niemand Fremdes; die Zeit verging Allen ungewöhnlich rasch und man trennte sich spät.

Erst auf ihrem einsamen Stübchen fiel Annen die Möglichkeit bei, daß Gotthard sie absichtlich sorglos gemacht habe, daß seine Neigung ihr ein Opfer gebracht. Sie flog an's Fenster; drüben brannte, wie allabendlich, seine stille Studirlampe. Aber die sorgende Liebe hat Argusaugen! Anna kannte gewisse Bewegungen am Schatten, wenn Gotthard ein Buch vom Schreibtischregal herunterlangte, oder einen beschriebenen Bogen weglegte; sie wußte genau die Zeit, wo der Docht trüber zu brennen begann und er Oel zugießen mußte. Sie[330] erwartete den Schatten seiner Gestalt; es regte sich nichts. Mit immer gespannterer Aufmerksamkeit lauschte sie hinüber, Stunde um Stunde verging in langsam tönenden Vierteln; mit der wachsenden Angst steigerte sich die Ueberzeugung, daß auch die brennende Lampe zurückgelassen worden sei, um sie zu täuschen, zu beruhigen, und daß er nicht mehr da sei. Aber wo war er? Großer Gott! vielleicht war schon Alles verloren! wußte sie es denn?

Leise öffnete sie ihre Thüre, dichte Finsterniß umhüllte das ganze Haus, sie schlich hinaus über den Flur; sie war sich selbst nicht bewußt, was sie eigentlich wollte. Vor Allem horchen, ob der Fremde fort sei, ob Gotthard bei ihm in der Bodenkammer, wo er versteckt sein sollte.

Die Thüre, welche die von ihr bewohnte Etage von den Uebrigen trennte, war abgeschlossen; ohne Sophien zu klingeln, konnte sie nicht hinaus.[331]

Trostlos kehrte sie zurück, warf sich am Fenster auf einem Fußschemel in die Knie und starrte, die Hände krampfhaft gefaltet, wieder hinüber. Die Lampe war düster geworden und jetzt nahe am Verlöschen; kein Laut drang durch die öde Nacht, Todesstille überall. Es ward eiskalt im Zimmer, Anna erstarrte nach und nach ganz; alles Leben zog sich in das glühende, wachende, wartende Auge, das ihr wie eine Kohle in der Stirn brannte. Plötzlich flammte drüben eine strahlende Helle auf, die Vorhänge wurden mit gewaltiger Hand auseinander gerissen. Er war's!

Er stand mit dem Lichte in der Hand am Fenster, winkte grüßend, trat einen Schritt zurück, deutete mit der Hand rückwärts, als ob jener fort sei; er sah erhitzt, aber kräftig und glücklich aus. Nur wenige Secunden dauerte das alles, dann sank der Vorhang abermals und tiefes Dunkel verschlang das ganze Bild.[332]

Aber wer vermöchte die blendende Sonne des Glücks in Annens Seele zu beschreiben! Er war gerettet – und das Werk vollbracht.

Es war spät am Morgen, als Sophie die Rouleaux aufzog. Anna hatte sich erst niedergelegt, als der Tag sie, immer noch auf ihrem Fauteuil sitzend, überraschte; sie war wie nach einem langen Schlafe frisch und klar. Mon Dieu, qu'elle est belle! dachte still Sophie, indem sie ihr beim Anziehen behilflich war; eine laute Bemerkung wagte sie nicht.

Nun war sie fertig. Annens Schritt hatte die Elasticität der frühesten Jugend wieder, Augen und Wangen glänzten wie nie zuvor; es sprach sich ein Gefühl einer so ganz überwältigenden Freude in jeder Bewegung aus, daß man sie fast fragen mußte, was ihr denn Glückliches begegnet? Madame müssen etwas recht Schönes geträumt haben, sagte endlich lächelnd die alte Sophie.[333]

Etwas Wunderschönes, ma bonne, erwiderte Anna. Sie weiß noch nicht, daß er glücklich fort ist, dachte sie mit heimlichem Jubel.

Nach beendigter Morgentoilette begann sie nachzusinnen, wie sie die Details der Flucht des Fremden erhalten könne. Sie hatte eine ernste Scheu vor Gotthard, die aus der tiefen Achtung entsprang, die sie für ihn hegte. Er wird nicht kommen, sagte sie zu sich, denn nöthig ist es nicht. Da lag das Paquet mit seinen Schriften noch auf ihrem Schreibtische; sie verschloß es sorgsam, um – nur etwas zu thun. Leontine kam immer noch nicht; ihr mußte doch anzumerken sein, welcher Stein vom Herzen ihr die Flucht des Fremden sei. Fast eine Stunde über die gewöhnliche Zeit war vergangen und noch immer war sie nicht da.

Jetzt hörte Anna einen leisen Schritt auf dem Corridor, unwillkürlich lief sie Leontinen[334] entgegen, öffnete ihre Zimmerthür und – Kronberg schloß sie herzlich und leise lachend in die Arme. Wie bestellt, sagte er. Still! ich wollte dich überraschen und zuerst allein sehen. Ich habe mir einen schändlichen Klepper gemiethet, den ich nicht zugeritten, Kind! und bin vom letzten Städtchen aus geritten. Josephine folgt mir in ein paar Stunden mit dem Wagen und der Dienerschaft; du wirst sie schon Alle unterbringen. Aber erst muß ich dich sprechen. Er zog sie auf's Sopha. Wie schön du bist, Anna! Wie gut dir dieser Aufenthalt bekommen ist, bei Gott! schöner als vor unserer Hochzeit! Sie erröthete. O, Kind! es ist kein Kompliment, und wir kommen auch wohl nicht mit einander in's Gerede. – Aber die Zeit drängt! Er stand auf und schloß die Thür ab.

Liebe Anna! es sind hier im Hause entsetzliche Dinge geschehen; Leontine hat in ihrem[335] überschwenglichen Leichtsinn wieder eine unglücklich überspannte Liaison angeknüpft.

Leontine? Eine Liaison? Unmöglich!

Doch, doch! erwiderte er, und zwar mit einem Abenteurer, der ihr hieher gefolgt ist, ja sogar gewagt hat, ihr zu schreiben und bis zu ihr in unser Haus zu dringen.

Roderich! laß mich –

Ich fürchte, das wilde Mädchen macht irgend eine irreparable Sottise. Ich habe noch nicht einmal ergründen können, ob der junge Herr von Stande ist. Jedenfalls kann ich die Last nicht übernehmen, sie zu hüten, und habe die Mutter überredet, mich nach Bern zu begleiten, um sie wieder mitzunehmen. Ohnedies werden wir jetzt die Schweiz verlassen, j'accepte vos félicitations, Madame! wir sind Gesandter in Wien geworden!

Bis jetzt hatte Anna ihre Fassung behalten, sie war durch jedes Wort, das die Möglichkeit[336] einer noch weit verwickelteren Angelegenheit, als Kronberg zu ahnen schien, andeutete, zu überrascht, um eine Unvorsichtigkeit zu begehen.

Noch mehr, fuhr Kronberg fort, während ihn die wirklich in dieser Aufregung strahlende Schönheit seiner Frau immer wärmer für sie stimmte, du wirst dich darum kränken! Er zog sie näher zu sich und küßte sie im Weitersprechen. Du bist so arglos, – deine närrische alte Madame Sophie hat auch mit debauchirt und will sich ihren Pelz verdienen.

Großer Gott! das trifft wieder zu, dachte Anna, eine sich steigernde Angst begann in ihren Zügen sich zu malen.

Ich glaube, sprach Kronberg weiter, ohne es zu beachten, es war auf eine Entführung abgesehen.

Aber um's Himmels willen, Kronberg! wie kommst du dazu, alle diese Details zu[337] wissen? brach endlich Anna ihr Schweigen, während ich hier –

Duguet hat mir geschrieben.

Und seine eigne Frau angeklagt?

Anna, sagte Kronberg stolz, er hat die Ehre der Tochter seines verstorbenen Herrn gerettet. Willst du das gütigst nicht so ganz aus den Augen verlieren! Die Welt lebt nicht von Romantik! Doch, nun muß ich Leontinen sprechen; am sichersten gleich hier, ehe ihre Mutter ankommt. Bleibe ruhig, auch wenn ich etwas ernst mit ihr rede!

Er ging an die Thüre, schob den Riegel zurück und war im Begriff, zu klingeln, als Leontine und hinter ihr Sophie eintraten.

Leontine sah sehr übel aus, sie schien geweint zu haben und vermochte ihrer Ueberraschung, Kronberg zu sehen, keinen warmen Anstrich der Freude zu geben.

Leontine! sprach Kronberg streng, du hast[338] uns, mich und Anna, auf eine höchst schmerzliche und leichtsinnige Weise verletzt!

Onkel! – erwiderte sie, wo möglich noch stolzer als er, indem sie sich hoch aufrichtete und eine kalt gemessene Haltung annahm, die, eben so fern von Trotz als Demuth, nur die anerzogene Sicherheit ihres Standes verrieth – da Sie sich unaufgefordert in ein Geheimniß gedrängt haben, das Sie nicht betrifft, ist es nicht meine Schuld, wenn Sie durch diesen Schritt sich compromittiren. Meine Handlungsweise war keineswegs durch meinen Leichtsinn bedingt, wie Sie zu sagen belieben, sondern durch eine alles Andere überwiegende Pflicht. Ueberdem konnte ich nicht ahnen, daß Sie so schnell zurückkehren würden, und da ich außer Sophien keinen andern Vertrauten hatte, blieben Sie, auch im schlimmsten Falle, außer Verdacht.

Verdacht? fuhr Kronberg, an allen Gliedern[339] bebend, auf. Ein Kronberg in Verdacht? Bist du rasend, Mädchen?

Desto besser, wenn mich die Sorge um Sie übertreiben macht; so ist aber diese Scene um so überflüssiger. Auf welche Weise Sie zum Mitwisser dieser traurigen Angelegenheit geworden –

Verdacht! wiederholte, noch innerlich das Wort anstarrend, der Graf. Leontine, du wirst die Güte haben, mir den Namen des Elenden zu nennen, der, wie ich zu ahnen beginne, deine Unerfahrenheit auf eine furchtbare Weise misbraucht hat. Wer ist's? Er war ganz nahe an sie herangetreten und hatte ihren Arm fest, aber nicht heftig ergriffen, indem er sie mit durchbohrenden Blicken maß. Wer kann durch einen Schimmer von Verdacht meine Ehre beflecken? Sprich! – Oder ziehst du vor, daß ich Sophien, deine einzige Vertraute, um die wir vielleicht nicht ganz verdient, wie[340] sie an uns gehandelt – daß ich Sophien zwinge, mir den Namen zu nennen?

Sophie stand leichenblaß im Fenster; große dicke Thränen rollten über ihr Gesicht; sie ließ den Angriff schweigend über sich ergehen. Nur nach Annen wandte sich zuweilen ihr bittender, trauriger Blick.

Onkel! rief Leontine, zornig erglühend, höchstens hat meine Mutter ein Recht zu dieser Frage, Sie haben es nicht! Er hat – durch welche großmüthige Hülfe, ist mir selbst noch ein Räthsel – in der vorigen Nacht Ihr Haus und die Stadt verlassen.

In der Nacht? Mein Haus? Großer Gott! so weit hast du dich vergessen! Nein, nein! das ist nicht möglich! Die Tochter einer Kronberg kann ja nicht handeln wie eine Dirne! Den Namen, Unglückselige! den Namen! –

Und wenn Sie ihn wissen werden, Oheim! sagte sie, indem sie fest und äußerlich ruhig[341] die Arme kreuzte, sind Sie darum in irgend etwas gebessert? Im Gegentheil, der Klang, der bloße Klang desselben macht Sie zum Mitschuldigen.

Also doch! ächzte Anna, die bisher vergebens versucht hatte, den Grafen durch leise Worte und bittende Geberden in etwas zu beschwichtigen.

Der Name! wiederholte Kronberg, zitternd vor Wuth und in convulsivischer Bewegung kaum noch des Tons seiner Stimme mächtig, und hingen Leben und Ehre daran –

Jean Carlo di Viatti, sagte sie ernst, fast leise.

Großer Gott! schrie Kronberg auf, der berüchtigte Carbonari, den die Cabinete verfolgen lassen, den Adjutanten des Marchese Viatti? Der Graf sank auf einen Stuhl, seine Kraft war gebrochen.

O, mein Freund, fasse dich! Theurer Roderich! sagte Anna, ihn liebevoll umschlingend,[342] das Geheimniß ist ja treu bewahrt, er ist in der letzt verwichenen Nacht entflohen und hat Bern bereits verlassen!

Wie, Anna? Anna, du wußtest es? Also ist's Gotthard, der ihn gerettet! rief Leontine.

Gotthard? wiederholte der Graf, in höchster Entrüstung von seinem Sessel aufspringend. Gotthard? Er stieß Annen wüthend von sich. Weiber! Weiber! – Mein Gott, mein Kopf! Ihr macht mich verrückt! – Was ist denn das wieder? Ist es denn möglich? denkbar? – Anna, du, du wußtest darum, und gabst mich und meine Ehre in die Hände eines Hofmeisters – eines Dieners unseres Hauses?

Nein, nein – Onkel! schrie Leontine, mit ungeheurer Gewalt alle ihre Kräfte zusammenraffend – bei Allem, was mir heilig ist, schwöre ich Ihnen, sie wußte es nicht! – Die Hauptsache weiß sie noch nicht – – und auch Ihre Diplomatenehre ist unbefleckt. Daß ich aber[343] jetzt – o könnte ich's noch in dieser Stunde! – Ihr Haus verlassen muß, ist klar. Wahrscheinlich haben Sie einen Gesandtenposten, vielleicht wäre sogar jetzt Ihre Pflicht, Jean Carlo zu verfolgen. Ich sehe die Nothwendigkeit ein, sogleich zu meiner Mutter zurückzukehren.

Eben fuhr Josephinens Wagen in den Hof; Niemand achtete auf das laute Blasen des Postillons; Niemand gedachte ihrer Ankunft. Kronberg war wie vernichtet. Aber, wiederholte er in trostloser Niedergeschlagenheit, ist es denn denkbar? Was ist dir denn der Unglückliche, daß du ihm – ihm uns Alle opferst? – daß du deine und meiner Familie Ehre vergißt, um eines Abenteurers willen, dem du am Ende von acht Tagen vielleicht um einen neuen Liebhaber vergessen haben wirst! Um eines Geächteten willen, der keines besseren Geschicks werth, eine niedrige Intrigue ausgesponnen, um – –[344]

Halt! halt! Kronberg! rief erbleichend Leontine. Kein Wort, keinen Hauch gegen seine Ehre! Er ist –

Um Gottes willen! was denn, liebe, liebe Leontine! fragte Anna, unter tausend Thränen.

Mein Mann! sagte tonlos Leontine und fiel halb ohnmächtig ihr in die Arme.

Eben trat Josephine, von Duguet geleitet, in's Zimmer.[345]

Quelle:
Adele Schopenhauer: Anna. Theil 1–2, Band 2, Leipzig 1845.
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