Dreizehntes Kapitel

[115] Wer zählt das Heer der lichten Sterne?

Wer mißt der Sonne schnellen Lauf?

Wer dringt in ungemeßne Ferne,

Und deckt des Himmels Ordnung auf?

K. F. Drollinger.


Mit verdoppelter Liebe und verdoppeltem Eifer nahm Jameson seines kleinen Lieblinges sich jetzt an. Auf welche Weise er meinen Unterricht betrieb, was er mich lehrte, wie ich von ihm lernte, ist nicht recht wohl zu beschreiben; ich möchte unabsichtlich es nennen, denn er lehrte und ich lernte, ohne daß wir alle Beide uns dessen deutlich bewußt waren.

An schönen Sommerabenden, wenn die Kinder zu Bette geschickt waren, mein Vater unter dem Kastanienbaum, der unsern Beischlag beschattete, sein Abendpfeifchen rauchte, meine Mutter still freundlich neben ihm saß, dann zeigte Jameson, der nie versäumte, sich ebenfalls einzufinden, mir die Sterne, soweit der beschränkte Horizont sie zu übersehen uns erlaubte. Wie hing ich so innig an seinen Worten,[115] wenn er von dem geheimnißreichen Walten jener Myriaden hoch über uns kreisender Welten sprach! Er lehrte mich die Namen der bekanntesten Sterne; am folgenden Morgen suchte ich die Sternbilder, denen sie an gehören, auf seinem Himmelsglobus auf, Abends fand ich am nächtlichen Himmel sie wieder. Auch die Längen und Breiten der Lagen der verschiedenen Länder mußte ich berechnen, ich wußte auf ein Haar ihm zu sagen, wie viel um drei Nachmittags bei uns, in Paris oder Archangel die Uhr sei. Von jedem Schmetterlinge, jedem Käfer, der vorübersummte, wußte er mir etwas zu erzählen. So lernte ich immerfort; vergessen habe ich das Meiste, aber ich gewöhnte mich dabei doch auf das zu merken, was um mich her vorging, und nicht gedankenlos in die Welt hineinzustarren.

Mit meinen astronomischen Kenntnissen hat es aber ein besonders klägliches Ende genommen; von den Sternbildern kenne ich nur noch den großen Bären und den Jacobsstab; aber das stille Entzücken, mit welchem ich damals in der Betrachtung des gestirnten Himmels mich verlieren konnte, ist mir unverkümmert geblieben, und wird, sollte ich auch ein noch weit höheres Alter erreichen, so lange ich lebe, mich nicht verlassen.[116]

Der englischen Sprache war ich inzwischen ganz unvermerkt fast eben so mächtig geworden, als der mir angebornen deutschen, ich las und verstand und sprach sie mit großer Fertigkeit. Vom Spectator, den tales of the genii und den Briefen der Lady Montague ging Jameson nun mit mir zu den Poeten über, und eine Welt voll warmen entzückenden Lebens öffnete sich mir.

Zuerst lasen wir den Homer, freilich nur in Pope's Uebersetzung, die eher eine lahme Travestie genannt werden sollte; doch Unsterbliches läßt sich nicht tödten. Von Youngs Nachtgedanken, Miltons verlornem Paradiese lasen wir nur Einzelnes, doch nun kam Shakspeare.

Römer, Griechen, Shakspeare, Homer, welchen Wirrwarr mußte das alles in einem so sehr jungen Mädchenkopfe anrichten! Gewiß war ich, obgleich Kuschel und Jameson alles dagegen thaten, in eminenter Gefahr, ein unerträglich überspanntes und verschrobenes Persönchen zu werden, so eine Art von gebildetem jungen Frauenzimmer. Doch eine neue Erscheinung bewahrte glücklicher Weise mich davor; eine Erscheinung, der ich, meine damaligen Zeitgenossen, unsere Kinder, und sogar noch theilweise unsere Enkel, unendlich viel verdanken.[117]

Weissens Kinderfreund, der erst vor Kurzem ans Licht getreten war, dieses vortreffliche, in seiner Art noch immer unübertroffene Werk war es, das, wenn meine poetische Exaltation gar zu überschwenglich zu werden drohete, mich immer wieder in das Element zurückführte, in welches ich eigentlich noch gehörte, in die stille, freundliche Kinderwelt, die eben damals von dem schweren Joche der trübsinnigsten Pedanterie und unverständiger Härte langsam befreiet wurde, unter welchem sie bis dahin geseufzt hatte.

Ich lebte ganz mit Karl und Lottchen, mit Fritz und Louischen; sie waren mir meine liebsten Spielgesellen; an allen kleinen Ereignissen, die ihnen begegneten, und an deren Wahrheit ich steif und fest glaubte, nahm ich den wärmsten Antheil. Nur Eines that mir leid, daß kein Herr Spirit sich ausfindig machen lassen wollte, denn Jameson paßte als Engländer gar nicht dazu; aber den Magister Philoteknos, bis auf die Perrücke sogar, mit welcher Chodowiecky ihn abbildete, hatte ich dafür in meinem Kandidaten Kuschel, wie er leibte und lebte, der mir, nachdem ich diese Entdeckung gemacht, noch weit lieber wurde, als er mir früher gewesen; was ich denn auch nicht unterließ, ihm auf alle Weise an den Tag zu legen.[118]

Quelle:
Johanna Schopenhauer’s Nachlaß. Band 1, Braunschweig 1839, S. 115-119.
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