Neunzehntes Kapitel

[182] Tag des Entsetzens!

Rings umschlossen von deiner Zerstörungen Trümmer, verliert sich

Meines Daseins Gefühl, in der chaotischen Nacht.

Fernow.


Dichtes Gedränge Wehklagender füllte die Straße, als wir unserm Hause uns näherten. Langsam bahnte unser Wagen sich durch die Menge den Weg, gern wären wir ausgestiegen, doch von Grausen, Schreck und unaussprechlichem Mitleid überwältigt, vermochten weder meine Mutter noch ich uns auf den Füßen zu halten.

Es währte lange, ehe wir schaudernd das furchtbare Grab wahrscheinlich noch Lebender erblickten, freundlicher uns Allen wohlbekannter Nachbarn, die in diesem Augenblick tief unter Schutt versunken, in Nacht gehüllt, halb zerschmettert, hülfloser Verzweiflung hingegeben, den furchtbarsten Todeskampf kämpften.[182]

Drei Häuser, die seitwärts dem Schiffergildehause gegenüber die andere Ecke des zwischen Beiden sich hinziehenden Quergäschens bildeten, waren plötzlich eingestürzt, wenige Augenblicke nachdem wir auf unserem Wege zur Kirche an ihnen vorüberfuhren; viel leicht war sogar die dadurch verursachte Erschütterung in dem engen Raum für einen Wagen Raum bietenden Gäschen der letzte Stoß gewesen, der die sehr baufälligen Gebäude niederwarf. Alle drei waren bewohnt, Keiner der Einwohner hatte Zeit gehabt, der über seinem Haupte einbrechenden Gefahr zu entfliehen, sie lagen Alle dort unten, und über sie hoch aufgethürmt der Graus der Zerstörung.

Wir waren vielleicht kaum hundert Schritte von der Unglücksstelle entfernt gewesen, als Adam, hinten auf dem Wagen stehend, ein dumpf krachendes, lang nachhallendes Getöse vernahm, das er für einen Donnerschlag hielt; zugleich verfinsterte ein rauchartiger Qualm die Luft, verzog sich aber schnell wieder, indem wir weiter fuhren. Wir im Wagen hatten theils vor dem Rasseln der Räder auf dem schlechten Steinpflaster, theils in ernste Gedanken versunken, nichts von dem Allen bemerkt.

Die Sonne schien hell, kein Wölkchen trübte den blauen Himmel, woher denn der plötzliche Donner?[183] dachte Adam, und eilte von seltsamer Angst befallen nach Hause, statt wie er gesollt, uns vor der Kirche zu erwarten. Dichte Staubwolken qualmten beim Eintritt in das unserm Hause so nahe liegende Gäschen ihm entgegen, wurden immer dichter, gingen in fast gänzliche Finsterniß über, benahmen ihm Luft und Athem je weiter er vorwärts gelangte. Schutt, Steine, Gebälke, Trümmer aller Art, thürmten sich endlich vor ihm auf, und über dem allen herüber tönte herzzerreißendes Jammergeschrei.

Als wir vor unserm Hause anlangten, drängten Nachbarn und Bekannte sich um uns her, um uns ihre Freude über unsere Rettung aus augenscheinlicher Lebensgefahr auszudrücken, Mehrere unter den Ersten, die uns hatten in den Wagen steigen und gleich darauf das Entsetzliche hereinbrechen gesehen, hatten uns im ersten Schrecken für verloren geachtet; auch läßt es sich nicht leugnen, wären wir nur ein wenig später ausgefahren, so lagen vermuthlich auch wir jetzt dort unter den lebendig Begrabenen.

Keiner von uns hatte noch diesen erschütternden Gedanken aufgefaßt, auch jetzt konnten wir an uns selbst noch nicht denken, nur an Hülfe, nur an vielleicht noch mögliche Rettung der Verunglückten. Mein Vater, Jameson und viele andere Männer, gingen[184] die dazu nöthigen Anstalten zu treffen oder zu beschleunigen. Dem armen Adam standen nur seine beiden rüstigen Arme und sein guter Wille zu Gebot; er that, was er gleich, da er das Unglück gesehen, gethan und nur uns abzuholen unterbrochen hatte, er warf seinen Rock ab, ohne sich jetzt weiter um uns zu bekümmern, und fing an, die Umstehenden durch thätiges Beispiel und Ermahnungen zum Wegräumen des Schuttes anzuregen.

Sein menschliches Bemühen gelang; die nicht ganz gefahrlose schwere Arbeit wurde kräftiger und zweckmäßiger betrieben, nach ein paar Stunden zog man zwei Schwerverletzte aus den Trümmern hervor, andere, theils todt, theils sterbend, wurden im Verlauf des Tages bis zum Einbruch der Nacht aufgefunden. Mit grauendem Morgen begann die schauerliche Arbeit von neuem, und ehe noch das Kirchengeläute zur Feier des hohen Festes einlud, war auch die letzte Leiche der Verunglückten ans Tageslicht gebracht.

Die Zahl derselben war nicht unbedeutend, die meisten hatten dort unten, in dunkler Grabesnacht den Tod gefunden, andere starben bald nach ihrer Befreiung, und nur sehr wenige Gerettete blieben am Leben.[185]

Tragikomischer Weise befand sich unter diesen der sehr schuldige Urheber des ganzen Unglücks, der Eigenthümer der eingestürzten Häuser, dessen schmutziger Geiz, unerachtet aller an ihn ergangener Warnungen und Ermahnungen, ihn stets abgehalten hatte, auf die Erhaltung des baulichen Zustandes seines Eigenthums etwas zu verwenden.

Der eigensinnigste Zufall hatte gewollt, daß sein Stuhl, nebst dem kleinen vor demselben befindlichen Tische, gerade auf den einzigen Theil des Gemäuers gestellt worden war, der unversehrt stehen blieb, als Alles rings umher zusammenbrach. Ganz isolirt, hoch in der Luft, in Schlafrock und Nachtmütze, saß vor aller Welt Augen die bebende, fast entgeisterte Jammergestalt des widrigen Greises, wie am Pranger, von Keinem der rings um um ihn her noch immer nachstürzenden Ziegel und Balken getroffen. Tief unter ihm tobte mit wildem Hohn ein wüthender Haufen, bereit, sobald er herunter käme, auf seine Weise über ihn Gericht zu halten.

Erst später, als der ganze Raum mit Wachen umstellt, und die müßig dastehenden Zuschauer entfernt worden waren, durfte man es wagen, den vor Angst halb todten Alten von seinem erhabenen Platz hinunter in Sicherheit zu bringen.[186]

Die Franzosen pflegen spottend zu behaupten, daß wir Deutsche, wenn irgend jemand etwa ein Bein gebrochen hat, ihn immer noch glücklich preisen, weil er nicht zugleich den Hals brach, was doch leicht hätte geschehen können. Sie nennen das le bonheur allemand, und leugnen läßt es sich nicht, diese Bemerkung, die obenhin betrachtet nichts weiter als ein artiger witziger Einfall zu sein scheint, ist auf eine tief im Charakter unsers Volkes liegende, sehr schätzenswerthe Eigenheit begründet, die uns treibt, auch dem schwersten Mißgeschick irgend eine leidliche, einigermaßen Trost gewährende Seite abzugewinnen.

Der Furcht vor dem bonheur allemand kühnlich entgegentretend, wage ich also die Bemerkung, daß die fürchterlichen Folgen jenes unglücklichen Einsturzes der Häuser an jedem andern Wochentage noch weit höher, ja bis zum undenkbar Unerträglichen sich gesteigert haben würden, denn in einem derselben wurde eine Schule gehalten, gleich der, welche auch ich einst bei Frau Chodowiecki besuchte. Zwanzig bis dreißig kleine fröhliche Kinder, aus vielleicht eben so viel Familien, waren, Sonnabends und Sonntags ausgenommen, von früh acht Uhr an dort versammelt.

Gottes Engel haben über die unschuldigen Kinder[187] Wache gehalten! hörte man von allen Seiten, auch ich konnte damals, und kann bis zur gegenwärtigen Stunde dieses frommen tröstenden Glaubens mich nicht erwehren; ich habe zu viele demselben entsprechende Beispiele erlebt, die mich darin bestätigen, mag die widerspenstige Vernunft auch dagegen einwenden was sie will und kann.

Aber jener bleiche schuldbewußte Sünder dort oben auf dem wankenden Gemäuer? Welche Macht nahm ihn in Schutz und wachte über ihm, damit die rings um ihn her niederregnenden Steine und Balken ihm nicht die Haut verletzten, während um seines niedrigen Geizes willen so viele Unschuldige ihr Leben unter Höllenqualen aushauchen mußten? Wer beantwortet mir diese Frage?

Richtet nicht, so werdet Ihr auch nicht gerichtet![188]

Quelle:
Johanna Schopenhauer’s Nachlaß. Band 1, Braunschweig 1839, S. 182-189.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Jugendleben und Wanderbilder
Jugendleben Und Wanderbilder; In 2 Banden
Jugendleben Und Wanderbilder; In 2 Banden (1)
Jugendleben Und Wanderbilder: In 2 B Nden, Volume 2
Jugendleben und Wanderbilder
Jugendleben und Wanderbilder

Buchempfehlung

Neukirch, Benjamin

Gedichte und Satiren

Gedichte und Satiren

»Es giebet viel Leute/ welche die deutsche poesie so hoch erheben/ als ob sie nach allen stücken vollkommen wäre; Hingegen hat es auch andere/ welche sie gantz erniedrigen/ und nichts geschmacktes daran finden/ als die reimen. Beyde sind von ihren vorurtheilen sehr eingenommen. Denn wie sich die ersten um nichts bekümmern/ als was auff ihrem eignen miste gewachsen: Also verachten die andern alles/ was nicht seinen ursprung aus Franckreich hat. Summa: es gehet ihnen/ wie den kleidernarren/ deren etliche alles alte/die andern alles neue für zierlich halten; ungeachtet sie selbst nicht wissen/ was in einem oder dem andern gutes stecket.« B.N.

162 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon