6. Heimweh

[39] Es wecken mich Gedanken auf;

Noch schläft ringsum die Nacht.

Und schon beginn' ich meinen Lauf,

Der Mond schleicht vor mir sacht.
[39]

Wie ängstet mich sein blaues Licht,

Wie schweigt der lange Wald!

Kein Lüftchen, keine Quelle spricht,

Die Welt starrt leichenkalt.


Und ein Gefühl von schlimmer Art

Schnürt mir die Seele zu:

Fehlst, Schöpfer, deß Allgegenwart

Natur sonst fühlt, auch du? –


Wär' ich zu Haus mit meinem Schmerz

Bei meiner Jugend Weib,

Und legt' ihr an das treue Herz

Den zagen Geist und Leib!


Ob sie wohl jetzt in Frieden ruht,

Die Kinder um sie her?

Kreist ihr und ihnen leicht das Blut,

Und athmet keines schwer?


Weiß ich, ob eines wimmernd nicht

Die Mutter plötzlich weckt,

Ob nicht sein glühend Angesicht

Des Fiebers Scharlach deckt?


Wald, laß mich los, du bist ein Grab!

Mond, scheine nicht so bleich!

O werd' ein Flügel, Wanderstab!

Wildfremder Boden, weich!


Und jetzt umhaucht es kräftig mich;

O Frühe, bist es du?

Der grüne Kerker öffnet sich!

Nur zu, nur immer zu!


Schon liegt die Welt vor mir in Duft,

Schon perlet auf der Au'

Das Kind des Mondes und der Luft,

Der morgenhelle Thau.
[40]

Dort steigt der Sonne goldnes Rund,

Und Gott ist wieder da.

Ich frage bang: sind sie gesund?

Das Licht sagt lächelnd: Ja!

Quelle:
Gustav Schwab: Gedichte. Leipzig [um 1880], S. 39-41.
Lizenz:
Kategorien: