1. Zum neuen Jahr

[93] 1820.


Es geht der Wunsch, der holde Knabe,

Am neuen Jahr von Haus zu Haus,

Sieht sich in eines Jeden Habe

Wohl um, und spürt die Lücken aus.

Er geht, im Himmel zu bestellen,

Wohin er, irdisch zwar gezeugt,

Doch wie ein Götterkind mit hellen

Von Lust bewegten Schwingen fleugt.


Wer will die Bitten alle zählen,

Die er mit Lächeln übernimmt,

Das Heer, das ihm aus tausend Kehlen,

Von Seufzern leis' entgegen schwimmt![93]

Was Geiz begehrt, was Ehre fodert,

Was Armut weinend ihm empfiehlt,

Was aus verliebtem Sehnen lodert,

Was aus beklemmter Brust sich stiehlt!


Doch Eines ist, was edle Herzen

Dem Himmelsboten anvertraun,

Die nicht aus Lüsten und aus Schmerzen

Des Pöbels ihre Zukunft baun;

Die selbst ihr Leben nur empfinden

Als eines großen Leibes Glied:

Eins ist, was sie dem Wunsche künden,

Und also lautet es im Lied:


Flieg' auf durch diese Nebelschichte,

Die unsern Winterhimmel drückt,

Und flehe zu dem ew'gen Lichte,

Daß es uns seine Sonne schickt;

Wohl zittert durch der Wolken Decke

Ein Stral nach diesen, jenen Gaun,

Doch Gottes Sonnenschein erstrecke

Sich über alle deutschen Aun!


Wir bitten um des Himmels Gaben

Für kein verworfenes Geschlecht:

Es trug so lang sein Haupt erhaben,

Auf Licht und Leben hat's ein Recht:

Bei Allen, so im Lande wohnen,

Sei es in diesem Jahre Licht,

Licht in den Hütten, auf den Thronen;

Hinauf, o Wunsch! und säume nicht!

Quelle:
Gustav Schwab: Gedichte. Leipzig [um 1880], S. 93-94.
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