Kapitel XLI.

[441] »Heil all den hohen Herren hier,

Die reich, doch nicht so froh wie wir!

Mein Waldrevier,

Das lob ich mir –

Kommt, freut euch in dem Walde hier!«


Macdonald.


Die Neuankommenden waren Wilfred von Ivanhoe, auf des Abts von Botolph Klepper, und Gurth, der ihm auf dem Schlachtroß des Ritters folgte. Ivanhoes Erstaunen läßt sich nicht beschreiben, als er seinen Herrn mit Blut besprengt sah, und sechs bis sieben Leichname um ihn her. Nicht weniger wunderte er sich, Richard von den Geächteten umgeben zu sehen, die doch für einen Fürsten eine gefährliche Gesellschaft zu sein schienen. Er wußte nicht, ob er den König als den schwarzen irrenden Ritter begrüßen, oder wie er sich sonst gegen ihn benehmen sollte. Richard bemerkte seine Verlegenheit.

»Fürchte nicht, Wilfred,« sagte er zu ihm, »Richard Plantagenet anzureden, weil Du ihn in Gesellschaft treuer englischer Herzen findest, die sich freilich durch ihr warmes englisches Blut einige Schritte vom rechten Wege haben wegführen lassen.«

»Sir Wilfred von Ivanhoe,« sagte der tapfere Landflüchtige, indem er vortrat, »meine Versicherungen vermögen die unseres Monarchen nicht zu verstärken. Doch laßt mich stolz hinzufügen, er hat keine treueren Unterthanen, als die, welche jetzt um ihn stehen.«

»Ich kann nicht daran zweifeln, tapferer Mann,« sagte Wilfred, »da Du darunter bist. Aber was bedeuten denn diese Zeichen von[442] Tod und Gefahr? Diese Erschlagenen? Das Blut auf der Rüstung meines Fürsten?«

»Verrath hat uns bedroht, Ivanhoe,« versetzte der König; »doch Dank diesen braven Männern hat der Verrath seinen Lohn gefunden. Aber wie mir scheint, bist auch Du ein Verräther,« sagte Richard lächelnd, »ein sehr ungehorsamer Verräther; denn es war ja unser ausdrücklicher Befehl, daß Du in St. Botolphs Abtei ruhig verweilen solltest, bis Deine Wunde ganz geheilt wäre.«

»Sie ist geheilt,« sagte Ivanhoe, »aber warum, edler Fürst, setzt Ihr die Herzen Eurer treuen Diener so in Angst und Sorge und bringt durch beschwerliche Reisen und kühne Abenteuer Euer Leben so in Gefahr, als ob es nicht mehr werth wäre als das jedes andern irrenden Ritters, der kein anderes Interesse auf Erden hat, als was sein Schwert und seine Lanze ihm erringen.«

»Richard Plantagenet,« sagte der König, »begehrt nicht mehr Ruhm, als seine gute Lanze und sein Schwert ihm erwerben mag; Richard Plantagenet ist stolzer auf das Bestehen eines Abenteuers bloß durch sein gutes Schwert und seinen Arm, als wenn er ein Heer von Hunderttausenden zur Schlacht führen könnte.«

»Aber Euer Reich, gnädigster Herr,« sagte Ivanhoe, »ist mit Auflösung und Bürgerkrieg bedroht, Euren Unterthanen stehen Schrecken aller Art bevor, wenn sie ihres Beherrschers in einer jener Gefahren beraubt werden sollten, denen Ihr Euch so gern aussetzet, und aus denen Ihr soeben mit Mühe entkommen seid.«

»Mein Reich und meine Unterthanen?« versetzte Richard ungeduldig, »ich sage Dir, Wilfred, die Besten von ihnen sind bereit, meine Thorheiten durch ähnliche gut zu machen. So z.B. mein getreuer Diener, Wilfred von Ivanhoe, gehorcht meinen ausdrücklichen Befehlen nicht, und hält doch seinem Könige eine Predigt, weil er nicht genau nach seiner Meinung handelt. Wer von uns beiden hat denn am meisten Ursache, den andern zu schelten? Doch vergib mir, treuer Wilfred; die Zeit, die ich im Verborgenen zugebracht habe und noch zubringen werde, ist, wie ich Dir schon zu St. Botolph erklärt habe, nothwendig, um meinen Freunden und treuen Edlen Zeit zu lassen, ihre Kräfte zu sammeln. Wenn Richards Rückkehr angekündigt wird, erblickt er sich an der Spitze einer[443] solchen Macht, daß die Feinde ihr nicht zu begegnen wagen, und so wird der beabsichtigte Verrath vereitelt, ohne daß man ein Schwert zu ziehen braucht. Estoteville und Bohun werden nicht stark genug sein, um binnen vierundzwanzig Stunden nach York vorzurücken. Auch muß ich Nachrichten aus dem Süden von Salisbury, von Beauchamp in Warwikshire, und von Multon und Percy im Norden haben. Der Kanzler muß sich Londons versichern. Ein zu schnelles Hervortreten würde mich Gefahren aussetzen, woraus mich meine Lanze und mein Schwert schwerlich retten würden, wenn mich auch der Bogen des kühnen Robin, der Kampfstock des Bruder Tuck, oder das Horn des klugen Wamba dabei noch so heldenmüthig unterstützten.«

Wilfred verbeugte sich unterwürfig, wohl wissend, wie vergeblich es sei, den wilden ritterlichen Geist zu bekämpfen, der seinen Herrn so oft in Gefahren trieb, die er leicht hätte vermeiden können.

Wilfred seufzte und schwieg, indeß Richard sich freute, daß er den Rathgeber zum Schweigen gebracht habe, obgleich er im Herzen die Wahrheit seiner Vorwürfe zugeben mußte. Zu Robin Hood sich wendend, sagte er darauf: »König der Wolfshäupter, habt Ihr denn Eurem Bruder König keine Erfrischung anzubieten? Die todten Kerle hier haben mir Appetit ge macht.«

»Ich wage es nicht,« versetzte der Geächtete, »Eurer Majestät von dem Vorrathe, der sich noch bei uns befindet« – hier stockte er verlegen.

»Wildpret, denk ich doch?« sagte Richard heiter; »bessere Kost kann der Hunger nicht wünschen, und wenn ein König nicht zu Hause bleiben und sein Wild selbst schießen will, so darf er auch nicht zu laut darüber werden, wenn es von andern für ihn erlegt wird.«

»Wenn also Eure Majestät,« sagte Robin, »abermals einen von Robin Hoods Sammelplätzen mit Ihrer Gegenwart beehren will, so soll's an Wildpret nicht fehlen, auch ein Trunk Bier oder ein Becher erträglichen Weins soll das Mahl würzen.«

Der Geächtete zeigte sogleich den Weg; ihm folgte der lustige Monarch, glücklicher wahrscheinlich bei diesem zufälligen Zusammentreffen mit Robin Hood und seinen Waldgesellen, als wenn er sich im königlichen Staate, als der erste im Kreise seiner Pairs und[444] Edlen, befunden hätte. Neuheit der Gesellschaft und Abenteuerlichkeit waren die Würze des Lebens für den löwenherzigen Richard; sie waren ihm um so lieber, je mehr dabei Gefahren zu bestehen waren. Der glänzende Charakter eines romantischen Ritters war in Richard ganz verwirklicht, und seiner aufgeregten Einbildungskraft galt der persönliche Ruhm, den er sich durch eigene Waffenthaten erworben hatte, weit mehr als der einer steten Klugheit und Weisheit in seiner Regierung. Seine ritterlichen Thaten gaben zwar den Barden und Minstrels hinreichenden Stoff, allein sie gewährten keinen jener bleibenden Vortheile für sein Land, bei denen die Geschichte gern verweilt und die sie der Nachwelt zum Muster aufstellt.

Unter einem alten großen Eichenbaume wurde das ländliche Mahl eiligst für den König von England zubereitet, der sich hier von Menschen umgeben sah, welche, noch vor kurzem von seiner Regierung für vogelfrei erklärt, jetzt seinen Hof und seine Wache bildeten. Als die Flasche umherging, verloren die rauhen Waldbewohner allmählich die Scheu vor seiner majestätischen Gegenwart. Man sang und scherzte, frühere Thaten wurden erzählt, und indeß man sich so der glücklichen Uebertretung der Gesetze rühmte, dachte man nicht daran, daß es in Gegenwart des rechtmäßigen Beschützers derselben geschehe. Der lustige König, seine Würde gänzlich vergessend, lachte und scherzte mit der fröhlichen Gesellschaft aus Herzens Grunde Robin Hoods natürlicher, wenn auch ungebildeter Verstand ließ ihn wünschen, daß diese Scene enden möchte, ehe irgend etwas die Fröhlichkeit und Harmonie trübte, zumal da er bemerkte, daß Ivanhoes Stirn ängstliche Falten zeigte. »Wir fühlen uns zwar,« sagte er zu diesem abseits, »durch unseres Monarchen Gegenwart außerordentlich geehrt, indessen wünschte ich doch, daß er die Zeit, welche ihm die Verhältnisse seines Reiches so kostbar machen, nicht hier unnütz verschwendete.«

»Weise und wohl gesprochen, tapferer Robin Hood,« sagte der Ritter, »übrigens weißt Du, daß die, welche mit der Majestät spielen, auch wenn diese in der heitersten Stimmung ist, doch nur mit der Mähne des Löwen scherzen, der bei der leisesten Anreizung leicht die Klauen zeigt.«

»Das ist eben die Ursache meiner Furcht,« sagte der Geächtete,[445] »meine Leute sind roh von Natur und durch ihr Gewerbe; der König ist ebenso jähzornig als gutmüthig; wer weiß, wie bald sich eine Veranlassung zu Beleidigungen zeigen kann, – es scheint mir Zeit, dies Gelage zu enden.«

»Leitet Ihr es ein, tapferer Landsasse,« sagte Ivanhoe, »denn jeder Wink, den ich gegeben habe, scheint bloß die Verlängerung desselben zu bewirken.«

»Da muß ich schon die Gunst und Gnade meines Herrn aufs Spiel setzen,« entgegnete Robin, indem er sich einen Augenblick besann, »aber beim heiligen Christoph, es muß geschehen. Ich verdiente wahrlich seine Gnade nicht, wenn ich sie nicht zu seinem Besten wagen wollte. – Scathlock, geh hinter das Dickicht und blase mir ein normännisches Schlachtsignal, aber sogleich, bei Gefahr Deines Lebens.«

Scathlock gehorchte seinem Hauptmann auf der Stelle; in weniger als fünf Minuten waren die Schmausenden auf die Beine gebracht.

»Das ist Malvoisins Horn,« sagte der Müller, indem er aufsprang und seinen Bogen ergriff. Der Mönch ließ die Flasche fallen und griff nach seinem Kampfstocke. Wamba blieb ein Spaß im Munde stecken, und er griff schnell nach seinem Schwerte und seinem Schilde. Alle andern eilten sogleich zu ihren Waffen.

Menschen, deren ganzes Leben so vom Zufalle abhängig ist, eilen schnell bereit von dem Schmause zur Schlacht, und Richard fand in dieser Veränderung selbst ein Vergnügen. Er ließ sich den Helm reichen und die schwersten Theile der Rüstung, welche er abgelegt hatte, und indeß Gurth beschäftigt war, sie ihm anzulegen, gab er Wilfred die gemessensten Befehle, sich bei Vermeidung seiner höchsten Ungnade nicht in den Kampf zu mischen, »Du hast hundertmal für mich gefochten, Wilfred, und ich habe zugesehen. Heute sollst Du zusehen, wie Richard für seinen Freund und Lehnsmann fechten wird.«

Unterdessen hatte Robin Hood mehrere seiner Leute in verschiedenen Richtungen ausgesandt, gleichsam um den Feind zu beobachten; aber als er bemerkte, daß die Gesellschaft wirklich aufgebrochen war, trat er zu Richard, den er vollständig gewappnet fand, beugte das Knie vor ihm und bat um Verzeihung.[446]

»Wofür denn, guter Landsasse,« versetzte Richard, »haben wir Dir nicht schon vollkommene Verzeihung aller Uebertretungen bewilligt? Denkst Du denn, unser Wort sei eine Feder, welche zwischen uns vor-und rückwärts geweht werden kann? Du kannst ja seitdem gar nicht Zeit gehabt haben, ein neues Unrecht zu begehen.«

»Doch, doch,« versetzte der Landsasse, »wenn es eins ist, meinen Fürsten zu seinem Besten getäuscht zu haben. Das Horn, das Ihr blasen gehört habt, war nicht Malvoisins, sondern ich selbst ließ es blasen, um den Schmaus zu beendigen, damit dabei nicht Stunden verloren gehen sollten, welche besser verwandt werden können.«

Dann stand er auf, faltete die Arme über der Brust und erwartete in einer mehr achtungsvollen als unterwürfigen Stellung die Antwort des Königs, wie jemand, der sich zwar einer Beleidigung, doch auch des löblichen Grundes dazu bewußt ist. Ein leichter Ausdruck von Zorn flog über Richards Gesicht, allein sein Gerechtigkeitsgefühl unterdrückte ihn sogleich.

»Der König von Sherwood,« sagte er, »gönnt sein Wildpret und seine Weinflasche dem Könige von England wohl nicht? Es ist schon recht, guter Robin; aber wenn Du mich einmal in dem lustigen London besuchst, so wirst Du gewiß an mir keinen so knickerigen Wirth finden. Doch – Du hast Recht. Zu Pferde also und fort. Wilfred ist ganz ungeduldig gewesen während dieser Stunde. Sage mir, kühner Robin, hast Du keinen Freund in Deinem Trupp, der Dir nicht bloß rathen, sondern auch Deine Handlungen meistern will, und ganz betrübt aussieht, wenn Du Dir herausnimmst, für Dich selbst zu handeln?«

»Ein solcher,« sagte Robin, »ist mein Lieutenant Little John, der sich eben jetzt auf einer Expedition an den Küsten von Schottland befindet. Ich gestehe Eurer Majestät, daß mir die Freiheit seiner Rathschläge bisweilen mißfällt, allein wenn ich bedenke, daß er zu seiner Aengstlichkeit doch keinen andern Grund haben kann, als seines Herrn Dienst, so kann ich nicht lange böse sein.«

»Du hast Recht,« entgegnete Richard, »und wenn ich Ivanhoe auf einer Seite stehen habe mit seinem ernsten Rathe, den er noch mehr empfiehlt durch die finster gerunzelte Stirn, und Dich auf der andern, der mich zu meinem Besten, wie er sagt, täuscht, so[447] habe ich meinen freien Willen ebenso wenig, als ein andrer christlicher oder heidnischer König. Aber kommt, ihr Herren, kommt nach Coningsburgh; denken wir nicht mehr daran!«

Robin Hood versicherte, er habe bereits eine Abtheilung seiner Leute in der Richtung des Wegs, den sie nehmen müßten, voraus gesandt, und diese wür den sicherlich jeden geheimen Hinterhalt auszuspähen wissen; er glaube, sie würden die Straße finden; wo nicht, so erhielten sie zuversichtlich bei Zeiten Kunde davon, um den Trupp von Bogenschützen an sich ziehen zu können, mit dem er selbst auf demselben Wege folgen wolle.

Die weisen und aufmerksamen Vorsichtsmaßregeln, welche zu seiner Sicherheit getroffen waren, rührten Richards Herz und entfernten vollends jeden Groll, der wegen der Täuschung, die sich der Anführer der Geächteten gegen ihn erlaubt hatte, in ihm noch zurückgeblieben sein konnte. Er reichte Robin Hood mehr als einmal die Hand, versicherte ihn seiner vollen Verzeihung und seiner künftigen Gunst, sowie er die feste Entschließung aussprach, die tyrannische Ausübung der Forstrechte und anderer drückender Gesetze, wodurch so mancher englische Landmann zum Aufstande gebracht wurde, beschränken zu wollen. Allein Richards gute Absichten gegen den kühnen Geächteten wurden durch des Königs frühzeitigen Tod vereitelt, und der Forstbrief wurde den widerstrebenden Händen des Königs Johann entrissen, als er seinem heldenmüthigen Bruder in der Regierung folgte.

Die Erwartung des Geächteten bewährte sich; der König kam, in Begleitung von Ivanhoe, Gurth und Wamba, ohne alle Störung vor dem Schlosse Coningsburgh an, als noch die Sonne am Horizonte stand.

Es gibt wenig schönere und ergreifendere Landschaften in England, als dieses alte sächsische Schloß mit seiner Umgebung. Der sanfte und anmuthige Fluß Don strömt durch ein Amphitheater, in dem sich Flur und Waldung vereinigt, und auf einem von dem Flusse aufsteigenden, durch Wälle und Gräben wohlvertheidigten Berge erhebt sich das alte Gebäude, das, wie schon der sächsische Name vermuthen läßt, vor den Zeiten der Eroberung ein Residenzschloß der sächsischen Herrscher war. Die äußeren Mauern sind wahrscheinlich von den Normannen ausgeführt worden; allein das[448] ganze Innere trägt offenbare Spuren des höchsten Alterthums. Der innere Hof liegt auf einer Höhe und bildet einen vollkommenen Zirkel von ungefähr fünfundzwanzig Fuß im Durchmesser. Die Mauer ist von außerordentlicher Dicke, und wird durch sechs ungeheure Strebepfeiler äußerlich unterstützt, welche von dem Zirkel heraustreten und gegen die Seiten des Thurmes aufstreben, gleich als sollten sie ihm größere Festigkeit geben. Diese Strebepfeiler sind unten massiv, aber nach oben zu ausgehöhlt, und enden in einer Art von Thürmchen. Der Anblick dieses ungeheuren Gebäudes, nebst seinen seltsamen Nebengebäuden, ist für den Liebhaber des Malerischen ebenso interessant, als es das Innere des Schlosses für den Alterthumsforscher ist, dessen Phantasie bis zu den Zeiten der Heptarchie zurückgeführt wird. Ein Schuppen in der Nähe des Schlosses wird für das Grab des berühmten Hengist ausgegeben; auch zeigt man auf dem benachbarten Kirchhofe verschiedene Denkmäler von hohem Alterthum und großer Seltenheit.

Als Richard Löwenherz und sein Gefolge sich diesem rauhen aber stattlichen Gebäude näherte, war es noch nicht wie jetzt mit äußern Festungswerken umgeben. Der sächsische Baumeister hatte seine Kunst darin erschöpft, das Hauptgebäude vertheidigungsfähig zu machen; es gab daher keine weitere Umwallung, als eine rohe Barriere von Pallisaden.

Eine ungeheure schwarze Fahne, welche von dem Gipfel des Thurmes wehte, kündigte an, daß man eben mit der Feier der Bestattung des letzten Eigenthümers beschäftigt sei; sie trug jedoch kein Zeichen von des Verstorbenen Rang und Herkunft, denn das Wappenwesen war damals unter dem normännischen Adel selbst etwas neues und den Sachsen völlig unbekannt. Allein über dem Thore sah man noch eine andere Fahne mit der rohen Figur eines weißen Pferdes, welches, als das bekannte Symbol Hengists und seiner Krieger, die Nation und den Rang des Verstorbenen andeutete.

Um das Schloß herum war alles in geschäftiger, lebhafter Bewegung; denn solche Leichenbankette, Yrf-ealu, Erbbiere waren eine Zeit allgemeiner und verschwenderischer Gastfreundschaft, an der nicht nur jeder, der mit dem Verstorbenen wenn auch in der entferntesten Verbindung gestanden hatte, sondern jeder Fremde[449] überhaupt Antheil nehmen durfte. Der Reichthum und die Bedeutung des verstorbenen Athelstane machten, daß diese Sitte in der vollsten Ausdehnung Anwendung fand.

Man sah daher sehr zahlreiche Menschenhaufen den Hügel, auf dem das Schloß lag, auf- und absteigen, und als der König nebst seinem Gefolge durch das offene und unbewachte Thor der äußern Barriere einritt, zeigte der Raum innerhalb eine Scene, die sich nicht leicht mit der Veranlassung dieser Versammlung zusammenreimen ließ. Hier waren Köche beschäftigt, ungeheure Ochsen und feiste Hammel zu braten, dort zapfte man große Fässer mit Bier an, um den Durst der Ankommenden zu stillen. Man sah Gruppen aller Art und Gestalt, welche Speisen verschlangen, oder die ihnen preisgegebenen Getränke begierig schlürften. Der halb nackte sächsische Sklave stillte den Drang seines halbjährigen Hungers und Durstes durch die Schwelgerei eines Tages; der feinere Bürgersmann aß sein Stück Fleisch mit mehr Wohlgefallen oder kritisirte bei dem Trunke den Brauer oder die Güte des Malzes. Einige wenige von dem armen normännischen Adel, die sich durch den geschornen Bart und die kurzen Mäntel auszeichneten, sowie dadurch, daß sie sich stets zusammenhielten und mit großer Verachtung auf die ganze Festlichkeit blickten, thaten sich doch gütlich bei der guten Kost, welche ihnen hier so freigebig gespendet wurde.

Auch an Bettlern fehlte es nicht, und an Kriegern, die, wenigstens ihrer eigenen Aussage nach, aus Palästina zurückkehrten. Krämer legten ihre Waaren aus; reisende Handwerker suchten Arbeit; wandernde Pilger, fahrende Priester, sächsische Minstrels und walisische Barden murmelten Gebete und entlockten ihren Harfen, Fideln, Zithern allerlei Töne. An Gauklern und Spaßmachern war auch kein Mangel, denn die Veranlassung wurde zu dergleichen Dingen gar nicht unpassend gehalten. Die Begriffe der Sachsen waren bei solchen Gelegenheiten ebenso natürlich als ungebildet. War der Leidtragende durstig, so trank er, war er hungrig, so aß er, und wurde das Herz von Gram und Schmerz niedergedrückt, so gab es hier Mittel der Erheiterung oder wenigstens der Zerstreuung. Man machte sich durchaus kein Gewissen daraus, sich der dargebotenen Trostmittel zu bedienen, wenngleich plötzlich hier und da jemand, der Ursache des Beisammenseins sich[450] erinnernd, mit andern in lautes Weinen ausbrach, worein dann die Weiber mit hellen Stimmen einfielen.

Dies war die Scene in dem Schloßhofe zu Coningsburgh, als Richard in Begleitung seiner Gefährten einzog. Die Aufmerksamkeit des Seneschal oder Steward, der von den Gruppen der Gäste niedern Ranges, welche immerfort ab- und zuströmten, keine Notiz nahm, wurde durch den edlen Anstand Richards und Ivanhoes rege gemacht, da ihm zumal die Züge des letzteren bekannt zu sein schienen. Auch war die Ankunft zweier Ritter bei einer sächsischen Feierlichkeit etwas seltenes, und konnte nur als eine dem Verstorbenen und dessen Familie bewiesene Ehre betrachtet werden. In der schwarzen Tracht und mit dem weißen Stabe seines Amtes machte der Steward den Fremden daher sogleich Platz unter dem Haufen der Gäste, und führte sie zu dem Eingange des Thurmes. Gurth und Wamba fanden gar bald Bekannte auf dem Schloßhofe und drängten sich nicht weiter vor, da sie warteten, bis man ihre Gegenwart verlangen werde.

Quelle:
Scott, Walter: Ivanhoe. Berlin 1901, S. 441-451.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Ivanhoe
Ivanhoe (Wordsworth Collection)
Ivanhoe: Roman (Fischer Klassik)
Ivanhoe, ein historischer Roman. Für die reifere Jugend frei bearb. von Alber Geyer. Illustriert von W. Zweigle
Ivanhoe

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Prinzessin Brambilla

Prinzessin Brambilla

Inspiriert von den Kupferstichen von Jacques Callot schreibt E. T. A. Hoffmann die Geschichte des wenig talentierten Schauspielers Giglio der die seltsame Prinzessin Brambilla zu lieben glaubt.

110 Seiten, 4.40 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon