Erste Szene

[396] Belmont. Ein Zimmer in Porzias Hause.


Trompetenstoß. Der Prinz von Marokko und sein Zug; Porzia, Nerissa und andere von ihrem Gefolge treten auf.


MAROKKO.

Verschmähet mich um meine Farbe nicht,

Die schattige Livrei der lichten Sonne,

Die mich als nahen Nachbar hat gepflegt.

Bringt mir den schönsten Mann, erzeugt im Norden,

Wo Phöbus' Glut die Zacken Eis kaum schmelzt,

Und ritzen wir uns Euch zu lieb die Haut,

Wes Blut am rötsten ist, meins oder seins.

Ich sag' Euch, Fräulein, dieses mein Gesicht

Hat Tapfre schon geschreckt; bei meiner Liebe schwör' ich,

Die edlen Jungfrau'n meines Landes haben

Es auch geliebt: ich wollte diese Farbe

Nicht anders tauschen, als um Euren Sinn

Zu stehlen, meine holde Königin.

PORZIA.

Bei meiner Wahl lenkt mich ja nicht allein

Die zarte Fod'rung eines Mädchenauges.

Auch schließt das Los, woran mein Schicksal hängt,

Mich von dem Recht des freien Wählens aus.

Doch, hätte mich mein Vater nicht beengt,

Mir aufgelegt durch seinen Willen, dem

Zur Gattin mich zu geben, welcher mich

Auf solche Art gewinnt, wie ich Euch sagte:

Ihr hättet gleichen Anspruch, großer Prinz,

Mit jedem Freier, den ich sah bis jetzt,

Auf meine Neigung.

MAROKKO.

Habt auch dafür Dank![396]

Drum führt mich zu den Kästchen, daß ich gleich

Mein Glück versuche. Bei diesem Säbel, der

Den Sophi schlug und einen Perserprinz,

Der dreimal Sultan Soliman besiegt, –

Die wildsten Augen wollt' ich überblitzen,

Das kühnste Herz auf Erden übertrotzen,

Die Jungen reißen von der Bärin weg,

Ja, wenn er brüllt nach Raub, den Löwen höhnen,

Dich zu gewinnen, Fräulein! Aber ach!

Wenn Herkules und Lichas Würfel spielen,

Wer tapfer ist: so kann der beßre Wurf

Durch Zufall kommen aus der schwächern Hand,

So unterliegt Alcides seinem Knaben,

Und so kann ich, wenn blindes Glück mich führt,

Verfehlen, was dem minder Würd'gen wird,

Und Grames sterben.

PORZIA.

Ihr müßt Eu'r Schicksal nehmen,

Es überhaupt nicht wagen, oder schwören,

Bevor Ihr wählet, wenn Ihr irrig wählt,

In Zukunft nie mit irgendeiner Frau

Von Eh' zu sprechen: also seht Euch vor!

MAROKKO.

Ich will's auch nicht; kommt, bringt mich zur Entscheidung!

PORZIA.

Vorher zum Tempel; nach der Mahlzeit mögt Ihr

Das Los versuchen.

MAROKKO.

Gutes Glück also!

Bald über alles elend oder froh.


Alle ab.


Quelle:
William Shakespeare: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 1, Berlin: Aufbau, 1975, S. 396-397.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Kaufmann von Venedig
Der Kaufmann von Venedig
Der Kaufmann von Venedig [Zweisprachig]
Der Kaufmann von Venedig
Ein Sommernachtstraum /Der Kaufmann von Venedig /Viel Lärm um nichts /Wie es euch gefällt /Die lustigen Weiber von Windsor
Der Kaufmann von Venedig: Zweisprachige Ausgabe

Buchempfehlung

Lohenstein, Daniel Casper von

Epicharis. Trauer-Spiel

Epicharis. Trauer-Spiel

Epicharis ist eine freigelassene Sklavin, die von den Attentatsplänen auf Kaiser Nero wusste. Sie wird gefasst und soll unter der Folter die Namen der Täter nennen. Sie widersteht und tötet sich selbst. Nach Agrippina das zweite Nero-Drama des Autors.

162 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon