[266] Zimmer in Marianens Hause.
Mariane sitzend; ein Knabe singt.
Bleibt, o bleibt, ihr Lippen, ferne,
Die so lieblich falsch geschworen;
Und ihr Augen, Morgensterne,
Die mir keinen Tag geboren!
Doch den Kuß gib mir zurück,
Gib zurück,
Falsches Siegel falschem Glück,
Falschem Glück! –
MARIANE.
Brich ab dein Lied und eile schnell hinweg;
Hier kommt ein Mann des Trostes, dessen Rat
Oft meinen wildempörten Gram gestillt.
Knabe ab. Der Herzog tritt auf.
O lieber Herr, verzeiht! Ich wünschte fast,
Ihr hättet nicht so sangreich mich gefunden.
Entschuldigt mich und glaubt, wie ich's Euch sage,
Es war nicht Lust, nur Mild'rung meiner Plage.
HERZOG.
Recht wohl; doch üben Töne Zauberkraft,
Die Schlimmes gut, aus Gutem Schlimmes schafft. –
Ich bitt' Euch, sagt mir, hat hier jemand heut nach mir gefragt? Eben um diese Stunde versprach ich, ihn hier zu treffen.
MARIANE. Es hat niemand nach Euch gefragt; ich habe hier den ganzen Tag gesessen.
Isabella kommt.[266]
HERZOG. Ich glaube Euch zuversichtlich; die Zeit ist da: eben jetzt. Ich muß Euch bitten, Euch auf einen Augenblick zu entfernen; ich denke, wir sprechen uns gleich wieder, um für Euch etwas Gutes einzuleiten.
MARIANE.
Ich bin Euch stets verpflichtet.
Ab.
HERZOG.
Seid höchlich mir willkommen! –
Wie ist's mit diesem trefflichen Regenten?
ISABELLA.
Sein Garten ist umringt von einer Mauer,
Die gegen West an einen Weinberg lehnt;
Und zu dem Weinberg führt ein Lattentor,
Das dieser größre Schlüssel öffnen wird;
Der andre schließt ein kleines Pförtchen auf,
Das aus dem Weinberg in den Garten führt:
Dort hab' ich zugesagt mich einzustellen,
Grad' in der Stunde ernster Mitternacht.
HERZOG.
Doch seid Ihr auch gewiß, den Weg zu finden?
ISABELLA.
Ich merkte alles sorglich und genau;
Mit flüsternd und höchst sündenvollem Eifer
Genau vorzeichnend alles, wies er mir
Zweimal den Weg.
HERZOG.
Sind keine andre Zeichen
Von Euch bestimmt, die sie zu merken hat?
ISABELLA.
Nein; nur daß wir im Dunkel uns begegnen,
Und ich ihm eingeschärft, nur kurze Zeit
Könn' ich verweilen; denn, so sagt' ich ihm,
Begleiten werd' ein Mädchen mich dahin,
Die auf mich wart', und deren Meinung sei,
Ich komm' des Bruders halber.
HERZOG.
Wohl erdacht;
Ich habe von dem allen noch kein Wort
Marianen mitgeteilt. – He! Fräulein, kommt! –
Mariane kommt wieder.
Ich bitt' Euch, macht Bekanntschaft mit der Jungfrau,
Sie kommt, Euch zu verpflichten.
ISABELLA.
Ja, so wünsch' ich's.
HERZOG.
Vertraut Ihr mir, daß ich Euch lieb' und achte?
MARIANE.
Ich weiß, Ihr tut's, und hab' es schon erfahren.[267]
HERZOG.
So nehmt denn diese Freundin an der Hand
Und hört, was sie Euch jetzt erzählen wird.
Ich werd' Euch hier erwarten. – Eilt indes,
Die feuchte Nacht ist nah.
MARIANE.
Gefällt's Euch, mitzugehn?
Mariane und Isabella ab.
HERZOG
O Größ' und Hoheit, tausend falscher Augen
Haften auf dir! In Bänden voll Geschwätz
Rennt falsches Spähn, mit sich in Widerspruch,
Dein Handeln an; des Witzes Fehlgeburt
Macht dich zum Vater ihrer müß'gen Träume
Und zwängt dich ihren Grillen ein. – Willkommen!
Seid ihr ganz einig?
Mariane und Isabella kommen zurück.
ISABELLA.
Sie will die Unternehmung wagen, Vater,
Wenn Ihr sie billigt.
HERZOG.
Nicht ermahn' ich nur,
Ich forde, daß sie's tut.
ISABELLA.
Zu sagen habt Ihr wenig;
Nur, wenn Ihr von ihm scheidet, leis' und schwach: –
»Gedenkt jetzt meines Bruders! –«
MARIANE.
Fürchtet nichts!
HERZOG.
Auch Ihr, geliebte Tochter, fürchtet nichts!
Er ist mit Euch vermählt durch sein Verlöbnis:
Euch so zusammenfügen ist nicht Sünde,
Weil Eures Anspruchs unbestrittnes Recht
Den Trug zur Wohltat macht. Kommt, geht hinein;
Wer ernten will, muß erst den Samen streun.
Gehn ab.
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