Sechste Szene

[314] Cleon tritt auf, Dionysa. Gefolge.


CLEON.

O Dionysa, sollen wir hier ruh'n,

Und mit Erzählungen von fremdem Kummer

Versuchen, unsern eignen zu vergessen?

DIONYSA.

Das hieß', in Feuer blasen, es zu löschen;

Wer Hügel abgräbt, weil sie aufwärts streben,

Wirft um den Berg, ihn höher zu erheben:

So, trau'rnder Gemahl, mit unserm Kummer,

Wenn wir durch Unglücksaugen ihn beschau'n;

Denn höher wächst der Wald, der erst behau'n.

CLEON.

O Dionysa,

Wem Nahrung mangelt, kann er davon schweigen,

Den Hunger wohl verbergen bis zum Tode?

Laut klagt die Zung' und schreit des Wehes Bangen

In Luft, es strömen Tränen von den Wangen;

Doch lauter muß die Zunge Klag' ertönen,

Damit der Himmel aufwacht, wenn er schläft,

Und hülfreich seinen Kreaturen wird:

Drum sprech' ich unser Weh', das längst uns quält,

Mit Tränen hilf, wenn mir die Stimme fehlt.

DIONYSA.

Ich tue, was ich kann.

CLEON.

Tharsus allhier, des Statthalter ich bin,

Sonst von des Überflusses Hand gesegnet,

Des Reichtum selber in den Straßen lag,[314]

Des Türme hochgebaut die Wolken küßten,

Daß jeder Fremde staunte, der es sah;

Des Herrn und Frau'n im bunten Schmuck sich spreizten,

Als spiegle sich zum Putz der ein' im andern;

Ihr Tisch so reich, zur Freude allen Blicken,

Mehr Augenlust, als nährend zu erquicken,

Armut verlacht, so hoch die Hoffart stieg,

Daß man den Namen Hülfe selbst verschwieg.

DIONYSA.

O nur zu wahr!

CLEON.

Doch sieh' des Himmels Macht in unserm Wechsel!

Die Münde, denen Erde, See und Luft

Zu wenig zur Ergetzung bieten konnten,

Wie sie vollauf die Kreaturen gaben,

(Wie Häuser wohl verfallen, nicht gebraucht,)

Verzehren sich, aus Mangel aller Nahrung;

Die Gaumen, die vor zweien Sommern noch

Erfindung brauchten, Leckerheit zu reizen,

Sie würden jetzt am Brot sich freu'n, drum betteln;

Die Mütter, die zur Pflege ihrer Kleinen

Nichts allzu köstlich hielten, machen sich

Bereit, die zarten Liebling' aufzuzehren;

So quält der Zahn des Hungers! Weib und Mann

Zieh'n Lose, wer den andern fristen kann.

Hier weint ein Edler, dort die Frau, hin stürzen andre;

Doch jene, die den Fall gesehen haben,

Sind kaum noch stark genug, sie zu begraben.

Ist dies nicht Wahrheit?

DIONYSA.

Zeugnis ist unsre Wang' und hohles Auge.

CLEON.

Die Städte, die vom Kelch des Überflusses

Und allem Wohlsein nach Gelüsten kosten,

Möcht' ihre Üppigkeit die Tränen seh'n!

Dies Elend kann auch über sie ergeh'n.


Ein Lord kommt.


LORD.

Wo ist der Herr Statthalter?

CLEON.

Hier.

Sprich eilig aus den Kummer, den du bringst,

Denn allzufern ist Trost für uns und Hoffnung.[315]

LORD.

Wir sahen, nahe schon an unsrer Küste,

Ein stattliches Geschwader hieher segeln.

CLEON.

Das war es, was ich glaubte!

Allein kommt nie ein Kummer, er bringt mit

Den Erben, der in seine Rechte tritt:

Und so geschieht es uns; ein Nachbarvolk

Wird unser schweres Elend nun benutzen,

Und bringt in hohlen Schiffen Kriegesvolk,

Uns zu vernichten, die vernichtet sind;

Mich Unglückseligen zu unterwerfen,

Den zu besiegen großen Ruhm nicht schafft.

LORD.

Das ist die kleinste Furcht, denn nach dem Schein

Der weißen Flaggen bringen sie uns Frieden,

Und kommen wohl als Helfer, nicht als Feinde.

CLEON.

Du sprichst wie der, der nicht belehrt genug;

Der schönste Schein birgt meist den schlimmsten Trug,

Doch bringen sie auch, was sie immer mögen,

Was soll uns neue Not?

Wir sind gestorben halb, das ärgst' ist Tod.

Sag' ihrem General, wir warten seiner,

Weshalb, woher er kommt, hier zu vernehmen,

Und was er will.

LORD.

Ich gehe schon.


Geht ab.


CLEON.

Willkommen, bringt er Frieden unserm Land,

Wenn Krieg, sind wir zu schwach zum Widerstand.


Perikles kommt mit Gefolge.


PERIKLES.

Herr Statthalter, (der seid Ihr, wie ich höre)

Nicht sollen unsre Schiff' und ihre Mannschaft

Ein Feuerturm Euch sein, um Euch zu schrecken;

Wir hörten fern bis Tyrus Euer Elend,

Und seh'n den Jammer hier in Euern Straßen:

Nicht sollen reichlicher die Tränen fließen,

Nein, Euern Kummer wollen wir erleichtern:

Und diese unsre Schiffe, die Ihr wohl

Wie der Trojaner Pferd gefüllet meint

Mit blut'ger Feindschaft, drohendem Verderben,[316]

Sie bringen Korn, und, was Euch höchlich not,

Den Halberstorb'nen Leben mit und Brot.

ALLE.

Die Götter Griechenlands beschützen Euch!

Wir wollen für Euch beten.

PERIKLES.

Stehet auf!

Wir suchen nicht Verehrung, sondern Liebe,

Herberg den Schiffen, uns und unsern Leuten.

CLEON.

Wenn einer Euch nicht alle Lieb' erzeigt,

Wenn einer in Gedanken undankbar,

Sein's unsre Weiber, Kinder oder wir,

Den treffe Fluch des Himmels und der Menschen!

Bis dahin, (wie ich hoffe, immerdar)

Seid Ihr mein Fürst, der Stadt und uns willkommen.

PERIKLES.

Wir danken Euch, und bleiben hier als Freund,

Bis unser zorn'ger Stern uns freundlich scheint.


Sie gehn ab.[317]


Quelle:
William Shakespeare: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 2, Berlin: Aufbau, 1975, S. 314-318.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Traumnovelle

Traumnovelle

Die vordergründig glückliche Ehe von Albertine und Fridolin verbirgt die ungestillten erotischen Begierden der beiden Partner, die sich in nächtlichen Eskapaden entladen. Schnitzlers Ergriffenheit von der Triebnatur des Menschen begleitet ihn seit seiner frühen Bekanntschaft mit Sigmund Freud, dessen Lehre er in seinem Werk literarisch spiegelt. Die Traumnovelle wurde 1999 unter dem Titel »Eyes Wide Shut« von Stanley Kubrick verfilmt.

64 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon