[347] Dionysa, Leonin.
DIONYSA.
Gedenke deines Eids, du schwurst die Tat;
Ein einz'ger Streich, den hier kein Mensch kann seh'n,
Im kurzen Augenblick ist es gescheh'n,
Was dir viel Nutzen schafft; laß das Gewissen,
Das kalt ist, nicht die Brust zu Lieb' entflammen,
Töricht entflammen, noch laß auch das Mitleid,
Das selbst die Weiber abgelegt, dich schmelzen,
Standhaftigkeit erzeige als Soldat.[347]
LEONIN.
Ich tu's! doch ist sie wohl ein trefflich Wesen.
DIONYSA.
So besser paßt sie für die Götter. Sieh,
Sie kommt und weint um ihrer Lieben Tod.
Du bist entschlossen?
LEONIN.
Ja, ich bin entschlossen.
Marina kommt mit einem Korbe voll Blumen.
MARINA.
Nein, ich will Tellus ihres Schmucks berauben,
Zu streu'n dein Grab voll Blumen, gelbe, blaue,
Die Purpurveilchen und die Ringelblumen:
Sie sollen Teppich gleich dein Grab bedecken,
So lang der Sommer währt. Ich armes Mädchen,
Im Sturm geboren, als die Mutter starb,
Noch immer ist die Welt für mich ein Sturm,
Der mich von meinen Freunden scheucht.
DIONYSA.
Wie geht's, Marina? Warum so allein?
Wie kömmt's, daß meine Tochter nicht bei dir?
Verzehre nicht mit Kummer so dein Blut;
Ich bin dir, wie die Amm' – ei! Wie verwandelt
Von diesem schlimmen Gram! Gib mir die Blumen,
Und geh' mit Leonin, bevor die See
Eintritt, lustwandeln dort; die Luft ist frisch,
Und schärft, wie sie durchdringt, den Hunger. Komm!
Fass', Leonin, sie an, und geh' mit ihr.
MARINA.
Ich will Euch Euers Dieners nicht berauben.
DIONYSA.
Komm, komm, den König, deinen Vater und auch dich
Lieb' ich mit inn'gem Herzen; jeden Tag
Erwarten wir ihn, kommt er nun, und findet
So blaß sein weltberühmtes Schönheitsbild,
So reu't ihn nur die mächtig weite Reise,
Er tadelt mich und meinen Mann, daß wir
Nicht mehr auf dich geachtet. Geh, ich bitte,
Spazier', und sei von Herzen wieder froh;
Bewahr' die hohe Schönheit, welche Jung
Und Alt die Augen stahl, und meinethalb
Sei unbesorgt, ich geh' allein nach Hause.
MARINA.
Ich geh, doch treibt mich nicht mein Wunsch dazu.
DIONYSA.
Komm, komm, ich weiß, es ist dir gut.[348]
Geh, Leonin, 'ne halbe Stunde mind'stens.
Vergiß nicht, was ich sagte.
LEONIN.
Ganz gewiß nicht.
DIONYSA.
Ich lasse dich ein Weilchen, süßes Mädchen;
Langsam spazier', erhitze nicht dein Blut.
Ja, ja, viel Sorg' hab' ich um dich.
MARINA.
Dank, Liebste.
Dionysa geht ab.
Ist das ein Westwind, der jetzt weht?
LEONIN.
Südwest.
MARINA.
Nord war der Wind, als ich geboren.
LEONIN.
So?
MARINA.
Mein Vater, sprach die Amm', war nicht in Angst,
Rief: brave Seeleut'! den Matrosen zu,
Rieb wund die Königshand mit Zieh'n der Taue,
Den Mast umklammernd hielt er solche See aus,
Die das Verdeck fast wegriß.
LEONIN.
Wann war das?
MARINA.
Als ich geboren ward.
Nie waren Wog' und Wind so stürmisch je;
Aus der Strickleiter ward herabgespült
Ein Schiffersjung; ha! Nimmt's dich? Ruft ein anderer;
Sie springen taumelnd hin und her, vom Schnabel
Zum Hinterteil, es tönt des Bootmanns Pfeife,
Es schrei't der Schiffspatron und mehrt den Wirrwarr.
LEONIN.
Kommt, betet gleich.
MARINA.
Was wollt Ihr machen?
LEONIN.
Begehrt Ihr einen Augenblick zum Beten,
Der ist gewährt; nur betet nicht zu lange,
Die Götter haben schnell Gehör, und rasch
Mein Werk tu'n schwur ich.
MARINA.
Warum denn mich töten?
LEONIN.
Weil's meine Herrin so befahl.
MARINA.
Warum will sie mich töten lassen?
So viel ich weiß, hab' ich, bei meiner Treu,
In meinem Leben ihr kein Leid getan.
Sprach kein schlimm Wort, tat keinem lebenden
Geschöpfe Harm, das glaubt mir auf mein Wort;[349]
Kein Mäuschen macht' ich tot, kränkt' keine Fliege;
Mal trat ich auf 'nen Wurm, ohn' meinen Willen,
Und weinte drum; wie hab' ich mich vergangen,
Daß Ihr mein Tod erwünscht ist, oder daß
Gefahr von meinem Leben droht?
LEONIN.
Mein Auftrag
Ist nicht die Tat besprechen, sondern tun.
MARINA.
Gewiß, Ihr tut es nicht um alle Welt.
Ihr seid so gut gebildet. Eure Blicke
Verkünden edlen Sinn; ich sah Euch neulich
Verwunden, als Ihr zwei im Fechten trenntet;
Das stand Euch wahrlich schön! Das tut jetzt auch,
Denn Eure Herrin sucht mein Leben; rettet
Dazwischentretend mich, den Schwächern.
LEONIN.
Nein,
Ich schwur und will es tun.
Seeräuber kommen.
ERSTER SEERÄUBER.
Halt! Schurke!
Leonin entflieht.
ZWEITER SEERÄUBER.
Beute! Beute!
DRITTER SEERÄUBER.
Halbpart, Kam'raden, halbpart!
Kommt, wir wollen sie schnell an Bord bringen.
Sie gehn ab mit Marina.
Buchempfehlung
Der aus Troja zurückgekehrte Agamemnon wird ermordet. Seine Gattin hat ihn mit seinem Vetter betrogen. Orestes, Sohn des Agamemnon, nimmt blutige Rache an den Mördern seines Vaters. Die Orestie, die Aischylos kurz vor seinem Tod abschloss, ist die einzige vollständig erhaltene Tragödientrilogie und damit einzigartiger Beleg übergreifender dramaturgischer Einheit im griechischen Drama.
114 Seiten, 4.30 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro