Erste Szene

[107] Ein offner Platz, der an Capulets Garten stößt. Romeo tritt auf.


ROMEO.

Kann ich von hinnen, da mein Herz hier bleibt?

Geh, frost'ge Erde, suche deine Sonne!


Er ersteigt die Mauer und springt hinunter.


Benvolio und Mercutio treten auf.


BENVOLIO.

He, Romeo! he, Vetter!

MERCUTIO.

Er ist klug,

Und hat, mein' Seel', sich heim ins Bett gestohlen.

BENVOLIO.

Er lief hieher und sprang die Gartenmauer

Hinüber. Ruf' ihn, Freund Mercutio!

MERCUTIO.

Ja, auch beschwören will ich. Romeo!

Was? Grillen! Toller! Leidenschaft! Verliebter!

Erscheine du, gestaltet wie ein Seufzer;

Sprich nur ein Reimchen, so genügt mir's schon;

Ein Ach nur jammre, paare Lieb' und Triebe;

Gib der Gevatt'rin Venus ein gut Wort,

Schimpf' eins auf ihren blinden Sohn und Erben,

Held Amor, der so flink gezielt, als König

Kophetua das Bettlermädchen liebte.

Er höret nicht, er regt sich nicht, er rührt sich nicht.

Der Aff' ist tot; ich muß ihn wohl beschwören.

Nun wohl: Bei Rosalindens hellem Auge,

Bei ihrer Purpurlipp' und hohen Stirn,

Bei ihrem zarten Fuß, dem schlanken Bein,

Den üpp'gen Hüften und der Region,

Die ihnen nahe liegt, beschwör' ich dich,

Daß du in eigner Bildung uns erscheinest.[107]

BENVOLIO.

Wenn er dich hört, so wird er zornig werden.

MERCUTIO.

Hierüber kann er's nicht; er hätte Grund,

Bannt' ich hinauf in seiner Dame Kreis

Ihm einen Geist von seltsam eigner Art,

Und ließe den da stehn, bis sie den Trotz

Gezähmt und nieder ihn beschworen hätte.

Das wär' Beschimpfung! Meine Anrufung

Ist gut und ehrbar; mit der Liebsten Namen

Beschwör' ich ihn, bloß um ihn aufzurichten.

BENVOLIO.

Kommt! Er verbarg sich unter jenen Bäumen,

Und pflegt des Umgangs mit der feuchten Nacht.

Die Lieb' ist blind, das Dunkel ist ihr recht.

MERCUTIO.

Ist Liebe blind, so zielt sie freilich schlecht.

Nun sitzt er wohl an einen Baum gelehnt,

Und wünscht, sein Liebchen wär' die reife Frucht,

Und fiel' ihm in den Schoß. Doch, gute Nacht,

Freund Romeo! Ich will ins Federbett,

Das Feldbett ist zum Schlafen mir zu kalt.

Kommt, gehn wir!

BENVOLIO.

Ja, es ist vergeblich, ihn

Zu suchen, der nicht will gefunden sein.


Ab.


Quelle:
William Shakespeare: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 4, Berlin: Aufbau, 1975, S. 107-108.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Romeo und Julia
Romeo and Juliet / Romeo und Julia
Romeo und Julia /Hamlet /Othello
Romeo und Julia: Zweisprachige Ausgabe
Romeo und Julia (insel taschenbuch)
Romeo und Julia: Übersetzt von Erich Fried (Suhrkamp BasisBibliothek)

Buchempfehlung

Christen, Ada

Gedichte. Lieder einer Verlorenen / Aus der Asche / Schatten / Aus der Tiefe

Gedichte. Lieder einer Verlorenen / Aus der Asche / Schatten / Aus der Tiefe

Diese Ausgabe gibt das lyrische Werk der Autorin wieder, die 1868 auf Vermittlung ihres guten Freundes Ferdinand v. Saar ihren ersten Gedichtband »Lieder einer Verlorenen« bei Hoffmann & Campe unterbringen konnte. Über den letzten der vier Bände, »Aus der Tiefe« schrieb Theodor Storm: »Es ist ein sehr ernstes, auch oft bittres Buch; aber es ist kein faselicher Weltschmerz, man fühlt, es steht ein Lebendiges dahinter.«

142 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon