Der Sonnenuntergang.

Ein Jüngling war, in dessen zartem Wesen,

Wie Licht und Wind in einer duft'gen Wolke,

Die vor des blauen Mittags Gluth zergeht,

Der Genius sich mit dem Tode stritt.

Niemand vermag die süße Lust zu ahnen,

Die seinen Odem, gleich dem Zauberbann

Der stillen Sommerluft, verstummen machte,

Als er mit der Geliebten, welche damals

Die Schrankenlosigkeit vereinten Seins

Zuerst gekostet, durch ein Feld gewandelt,

Das, gegen Ost von einem Hain beschattet,

Dem Himmel gegen Westen offen lag.

Dort war die Sonne jetzt hinabgesunken,

Doch Streifen Golds umsäumten noch die Wolken,

Der weiten Grasesebne Spitzen, und

Des alten Löwenzahnes grauen Bart,

Und lagen auf dem dichten, braunen Wald,

Vereinigt mit des Zwielichts Dämmerschatten.

Im Ost hob langsam sich des Vollmonds Scheibe

Zwischen der Bäume Stämmen hell empor,

Und droben schaarten sich die bleichen Sterne. –[310]

»Ist es nicht seltsam, Isabella«, sprach

Der Jüngling, »daß ich nie die Sonne sah?

Wir wollen morgen wieder hieher wandeln,

Dann sollst du sie mit mir einmal beschaun.«

Der Jüngling und das Mädchen lagen Beide

Vereint in Lieb' und Schlummer diese Nacht –

Doch als der Morgen kam, da fand das Mädchen

Den Freund, den heißgeliebten, todt und kalt.

Glaubt nicht, daß Gott in seiner Gnade so

Ihn heimgeführt. Das Mädchen starb nicht, ward

Wahnsinnig nicht, – sie lebte lange Jahre.

Zwar mein' ich, ihre Sanftmuth und Geduld,

Ihr traurig Lächeln, und daß sie nicht starb,

Nein, weiter lebt', um ihren greisen Vater

Zu pflegen, waren eine Art von Wahnsinn,

Wenn Wahnsinn anders sein heißt, als die Welt.

Denn sie zu sehn nur, war, als ob man lese

Ein Lied, das ein geweihter Dichter schuf,

Das harte Herzen löst in linde Wehmuth.

Von Thränen war die Wimper weggesengt,

Und Lipp' und Wange wie der Tod so bleich,

Die Hände mager, daß durch die Gelenke

Und Adern schier des Tages röthlich Licht

Durchschien. Das Grab von deinem todten Ich,

Das Ein unsteter Geist bei Nacht und Tag

Bewohnt, ist Alles, du verlornes Kind,

Was noch von dir hienieden übrig blieb!


»Der du geerbt mehr, als die Erde beut:

Ruh' ohne Leidenschaft und ew'ges Schweigen!

Ob Todte finden, o, nicht Schlaf, doch Rast,

Und schmerz- und klaglos sind, wie sie uns scheinen;

Ob sie fortleben, ob ins tiefe Meer

Der Liebe sinken: – o daß meine Grabschrift,

Gleich deiner, ›Frieden‹ lautete!« Dies war

Die einz'ge Klage, die sie je gesprochen.

Quelle:
Shelley, [Percy Bysse]: Ausgewählte Dichtungen. Leipzig [o. J.], S. 310-311.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Dichtungen
Dichtungen
Ausgewählte Dichtungen (German Edition)

Buchempfehlung

Pascal, Blaise

Gedanken über die Religion

Gedanken über die Religion

Als Blaise Pascal stirbt hinterlässt er rund 1000 ungeordnete Zettel, die er in den letzten Jahren vor seinem frühen Tode als Skizze für ein großes Werk zur Verteidigung des christlichen Glaubens angelegt hatte. In akribischer Feinarbeit wurde aus den nachgelassenen Fragmenten 1670 die sogenannte Port-Royal-Ausgabe, die 1710 erstmalig ins Deutsche übersetzt wurde. Diese Ausgabe folgt der Übersetzung von Karl Adolf Blech von 1840.

246 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon