Abenteuer über Abenteuer

[98] Allmählich wurde es stiller und stiller im Dorf. Kasperle hörte drinnen im Kirchturmwinkel den Lärm verklingen, und nun erst wagte es sich einmal recht umzuschauen, wo es eigentlich war. Es saß in einer dunklen Vorkammer, eine Treppe neben ihm führte zum Turmaufgang, und von oben strömte noch ein matter Lichtschimmer herab. Gerade dachte Kasperle, es wäre gut, ganz hinaufzusteigen, als draußen jemand sagte: »Morgen müssen wir einmal in der Kirche nachsehen.« Es waren die drei Landjäger. Sie gingen vorbei, um mitten auf der Dorfstraße Wache zu halten. Da kletterte innen Kasperle angsterfüllt die ganze schmale, steile Treppe zum Turm hinauf. Es dachte: Dort oben suchen sie vielleicht nicht.

Im Turm der Waldraster Kirche hausten seit vielen, vielen Jahren die Eulen. Eine alte Eulen-Urgroßmutter, die gerade zu der Zeit lebte, wußte von ihrer Urgroßmuter, daß deren Urgroßmutter Urgroßmutter schon im Turm gewohnt habe. Niemand störte je die Eulen. Wenn unten die Waldraster Buben das Seil zogen, um die Glocke zu läuten, was immer nur die bravsten tun durften, dann huschelten sich die Eulen nur tiefer in ihre Nester hinein. Die Glockenklänge waren ihnen vertraut, und wenn die Glocke hin und her schwang, dann freuten sie sich nur.[98] Selten stieg jemand in den Turm hinauf, denn die Treppe war morsch und das Hinaufklettern gefährlich.

Davon wußte Kasperle nichts. Es stieg immer höher, und die Eulen, die sich gerade ihren Tagesschlaf aus den Augen rieben, sahen erstaunt auf den kleinen, sonderbaren Kerl, der da die Treppe heraufkam. Sie erschraken sehr. Die alte Urgroßmutter schrie heiser: »Nehmt euch in acht, der hat es auf die Kleinen, die Nestlinge, abgesehen!« Da schrien alle Eulen; unheimlich klang es, und alle schwirrten empor. Und auf einmal flatterte und rauschte es Kasperle um den Kopf, und es sah in viele funkelnde, böse Eulenaugen. Es erschrak ganz fürchterlich. Eine unbeschreibliche Angst vor diesen fremden, unheimlichen Vögeln ergriff den Kleinen, und er wollte eiligst wieder hinabsteigen. Doch er trat fehl und fiel die Treppe hinab, die Eulen kreischten laut, und das purzelnde Kasperle erfaßte in seiner Angst das Glockenseil, das ihm vor der Nase herumbaumelte.

»Bum, bum, bum!« tönte es dumpf.

Nun erschraken die Eulen noch mehr, denn Glockenklänge um diese Zeit waren ihnen ganz ungewohnt. Sie flatterten immer aufgeregter hin und her, Kasperle klammerte sich fester an das Seil, und die Glocke geriet ins Schwingen. »Bum, bum, bum!« Die Glocke begann lauter und lauter zu rufen. Kasperle wollte das Seil loslassen, aber die Glocke schwang heftiger hin und her, die Eulen flatterten wild, und Kasperle hing am Seil und flog hin und her, auf und ab.

»Bum, bum, bum!« Über das schlafende Dorf rauschten die Glockenklänge. Die Hunde begannen zu bellen, die Menschen fuhren erschrocken in ihren Betten empor. Die Glocke läutete, was war das? Der Schneidermeister Pimperling sprang zuerst auf die Dorfstraße hinaus. »Feuer!« schrie er, »Feuer! Feuer!«

Der Ruf fand Widerhall. Aus den Häusern stürzten die[99] Leute, und alle schrien sie: »Feuer! Feuer!« Und alle sahen sie sich um, wo es denn eigentlich brennen könnte. »Die Wassereimer her, die Wassereimer her!« schrie der Bürgermeister, denn eine Feuerspritze gab es damals noch nicht in Waldrast. Und alles lief und rannte, um Wassereimer zu holen, und einer fragte den andern, wo es denn brenne, bis einer auf den Gedanken kam, das müßte doch der wissen, der die Glocke läutet. Ja, wer läutet sie denn?

Dem Kasperle im Glockenstuhl aber war es himmelangst geworden. Es hielt sich schließlich verzweifelt am Gebälk fest, ließ das Seil fahren und sauste nun etwas unsanft die Treppe hinab. Auf halber Höhe blieb es zuletzt liegen. Ganz verdattert von dem Geschehenen war es, und als es von der Dorfstraße her Lärm hörte, wußte es erst[100] gar nicht, was der bedeuten sollte, bis es dem dummen Kasperle endlich einfiel: Die Glockentöne hatten alle aus dem Schlafe geweckt. Es hörte »Feuer! Feuer!« schreien, es hörte lautes Rufen und Fragen vor der Kirchentüre, und da – Kasperle kugelte gleich die ganze Treppe hinab, jemand hatte draußen laut gerufen: »Ich wette, das ist der Kasper, der hat sich in der Kirche versteckt.« Es war die Base Mummeline, die das rief.

»Die Türe ist aber verschlossen!« rief jemand anders.

»Man muß den Küster holen, er soll aufschließen«, verlangten ein paar Stimmen. »Flink, holt ihn!«

»Bim – bam!« Das Läuten wurde schwächer, aber oben kreischten und flatterten noch immer die Eulen. Wohin sollte das Kasperle fliehen? Oben im Turm waren die Eulen, die hackten ihm wohl gar die Augen aus; unten vor den Türen standen die Dorfleute, wehe, wenn die es erwischten. Es hörte jemand rufen: »Da kommt der Küster, nun aufgepaßt, jetzt müssen wir den Kasper fangen!«

Es war die Base Mummeline, die so rief, und das Kasperle sah sich ganz verzagt um. Wohin sollte es denn nur fliehen? Da sah es plötzlich neben sich eine lange Stange stehen, und – ein ganz unnützer Gedanke kam dem Kasperle.

Der Schlüssel knirschte im Schloß, die Türe ging auf. »Uje, ist's hier aber dunkel! Holt flink ein paar Laternen!« rief jemand. Und dann gab es einen Plumps, ein lauter Schrei ertönte, die Base Mummeline war über die Stange gefallen, die Kasperle quer vor die Türe hielt.

»Au, Donnerwetter!« Da lag der dicke Bürgermeister.

»Himmel, Hagel, was ist das!« Der eine Landjäger fiel dem Bürgermeister nach, und der Schneidermeister Pimperling quiekte: »Potz Hosenknopf und Ellenmaß, hier spukt's!«

»Ich werde totgedrückt!« schrie die Base Mummeline.

»Laternen her, Laternen her!« Einer nach dem andern[101] fiel in den Vorraum hinein, und in diesem allgemeinen Gepurzele, in dem lauten Lärm gelang es Kasperle, sich sacht an der Wand entlang ins Freie hinauszuschleichen. Es drückte sich ganz dicht an die Mauer und witschte um den Turm herum, und es war gerade auf der andern Seite angelangt, als etliche Leute mit Laternen daherkamen. Das ganze Dorf versammelte sich am Turm, mit den Laternen wurden die hingepurzelten Leute beleuchtet, und alle riefen: »Das ist ein Streich vom Kasper!«

»Man muß den ganzen Turm absuchen«, sagte der Bürgermeister, der sich stöhnend aufgerichtet hatte, und die Base schrie: »Der darf uns nicht entwischen, dieser heillose Bösewicht!«

Der Schneidermeister Pimperling, der sehr klein, dünn und mutig war, erbot sich, auf den Turm zu steigen. Er nahm einen alten Nachtwächterspieß und eine Laterne[102] und kletterte vorsichtig die Treppe hinauf. Er schaute dabei in jede Mauerritze, unter jede Treppenstufe, ob sich das Kasperle nicht da versteckt hätte, und unterdessen suchten unten andere den Vorraum, die Kirche und alles ab, aber kein Kasperle war zu finden.

Die Eulen erschraken, als das Licht der Laterne in ihre Wohnstuben drang. Das blendete sie, und sie versteckten sich scheu. Die Glocke zitterte noch hin und her, aber soviel der Meister Pimperling auch herumleuchtete, Kasperle fand er nicht.

Unten sagte der Kasperlemann: »Wir müssen es finden, es muß doch da sein!« Und er erzählte wieder von der hohen Belohnung, die der Herzog zahlen wollte, und alle suchten noch eifriger, alle sagten: »Es muß doch da sein! Wer soll sonst die Glocke geläutet haben?«

Inzwischen rannte Kasperle sehr eilfertig dem Walde zu. Weil alle nach der Kirche liefen, bewachte keiner die Wege, die aus dem Dorf hinausführten, und Kasperle gelangte ungesehen in den Wald. Es schlug nicht den Weg ein, der zur Stadt hinabführte, sondern lief seitwärts; dort, wußte es, dehnte sich der Wald viele, viele Stunden weit aus. Durch diesen Wald führte der Weg in ein anderes, fremdes Tal, in das die Leute aus Waldrast nie gingen. In der tiefen Dunkelheit verlor Kasperle aber bald den Weg; es mußte mühsam über Steine klettern und fiel über Wurzeln und umgestürzte Bäume, und als es ein paar Stunden gelaufen war, sank es todmüde zu Boden. Es schlief auch gleich ein, und als es erwachte, sah es die Sonne durch das Gezweig uralter, hoher Tannen glitzern. So weit es blicken konnte, war dichter Wald rundum, und ganz still war es.

Kasperle setzte sich auf einen moosbewachsenen Stein und sah sich traurig um. Nun war es wieder mutterseelenallein in der weiten, weiten Welt, nun hatte es keine freundlichen Pflegeeltern mehr und keine lustigen Kameraden.[103] Es dachte an das Waldhaus; ach, wäre es doch dort geblieben und nicht fortgelaufen! Dort war doch seine Heimat. Es wäre gern zurückgekehrt, aber wie sollte es den Weg finden? Es mußte dann doch an dem Schloß vorbei, in dem die liebliche Rosemarie wohnte! Aber dort kannten es alle, man würde es fangen und ins Gefängnis setzen. Davor hatte Kasperle eine ganz schreckliche Angst. Der Herzog und die Base Mummeline, das waren seine Feinde, und als es nur an sie dachte, sprang es gleich auf und lief weiter durch den Wald. Es wanderte und wanderte, viele Stunden lang, der Wald nahm kein Ende; ganz undurchdringlich schien er zu sein.

Endlich setzte sich Kasperle wieder müde auf den Boden nieder. Es zog das Brot heraus, das ihm die gute Lehrersfrau noch gegeben hatte, und begann traurig zu essen. Und wie es so dasaß, vernahm es ein Plätschern und Rauschen; ein Bächlein mochte nicht allzu fern fließen. Weil Kasperle durstig war, stand es auf und ging dem Rauschen nach. Nach einem Weilchen wurde der Wald lichter, und Kasperle kam an einen Bergbach, der mit viel Gebrause aus einer hohen, hohen Felsspalte herabstürzte. Am Bach trat der Wald etwas zurück, nur Himbeerbüsche wuchsen dicht am Wasser. Viele reife Früchte waren in den Bach gefallen, sie schimmerten rot zwischen den weißen Kieselsteinen. Und hohe Stauden von blauem Eisenhut standen am Bachrand, mitten im Wasser aber lag eine winzige Insel. Da wuchsen große weiße Blütendolden, auf denen lauter goldbraun schimmernde Schmetterlinge saßen. Und im schäumenden Wasser, das aus der Felsspalte stürzte, glitzerte die Sonne. Das leuchtete, funkelte und glänzte in allen Farben, und Kasperle staunte verwundert; wie ein Märchenwinkel kam es ihm vor. Auch schien alles zu rufen und zu locken: »Komm, Kasperle, komm!« Das Wasser spritzte ihm an die Nase, die Himbeerbüsche bogen sich unter der Last ihrer reifen Früchte, und da war[104] Kasperle denn auch nicht faul. Er setzte sich hin und schmauste die Himbeeren zum Brot und trank von dem klaren Wasser, bis es plumpsatt war. Dann legte es sich an das Ufer des Baches, lauschte dem Rauschen und ließ sich die Sonne auf das Bäuchlein scheinen.

Sehr lange dauerte es nicht, da war Kasperle eingeschlafen. Es schlief und schlief in die warme Sommernacht hinein. Einmal wachte es auf, da stand eine ganz schmale Mondsichel gerade über dem Waldwinkel, und das Bächlein rann wie ein Silberstrom vorbei. Ein Weilchen sah Kasperle zu, es sah die silbernen Strahlen auf dem Wasser glitzern und sah über sich am dunklen Nachthimmel die feine Sichel und viele, viele Sterne. Das war schön und friedlich. Kasperle reckte und streckte sich und schlief weiter.

Auf einmal tönte eine Stimme laut in seinen Schlaf hinein: »Hallo, he, aufgewacht, du!«

Kasperle richtete sich erschrocken auf und sah sich verwirrt um. Da stand neben ihm ein Bub, nicht viel größer als es selbst, der trug ein Hemd und ein Höslein, geflickt wie eine Musterkarte, auf seinem Kopf saß ein verbeultes, verblichenes Hütlein mit einem mächtigen Busch Hahnenfedern darauf. Es sah beinahe aus wie der Kopfschmuck, den der Räuberhauptmann im Kasperletheater zu tragen pflegte. Des Buben Augen blitzten lustig; der ganze kleine Kerl sah überhaupt so vergnügt in die Welt, daß Kasperle auch gleich lachen mußte.

Und wenn Kasperle lachte, das steckte an. Erst machte der fremde Bube Kulleraugen vor Erstaunen, als Kasperle seinen Mund von einem Ohr zum andern aufriß, aber dann lachte er laut heraus. Sein Lachen steckte wieder das Kasperle an, und so lachten sie eine gute Zeit um die Wette, und die Felswand gab das Echo vergnügt zurück. Sonst hörte es nur noch eine Anzahl Ziegen, die kamen behende über die Steine geklettert und umringten die beiden[105] Buben. Aber plötzlich sprang der fremde Bub auf und schrie: »Rosemarie fehlt!« Und dann rannte er mit schnellen Sprüngen davon.

Rosemarie! Kasperle vergaß das Lachen vor Staunen. War das liebliche Grafenkind hier im Walde und Kasperle gar dem Schlosse näher gekommen? Die Ziegen beschnupperten das Kasperle ganz zutraulich, dies aber saß da, als wäre es aus allen Wolken gefallen. Doch da kam der fremde Bub schon wieder zurück, er trieb ein schneeweißes[106] Zicklein vor sich her und rief schon von weitem: »Da ist Rosemarie wieder; beinahe hätte sie sich verlaufen.«

Kasperle schüttelte den Kopf. »Nä«, brummelte es entrüstet, »Rosemarie ist doch eine Grafentochter, keine Ziege!«

Der fremde Bub lachte hell auf. »Freilich, ein Ziegenname ist's nicht«, rief er. »Rosemarie stammt ja auch von einem Schlosse, die alte Bäuerin Bärbe hat sie dort geholt.«

»Ist das weit?« fragte Kasperle scheu. Es dachte schon, das Schloß müßte ihm vor der Nase liegen.

»Weit – das Schloß?« Der Bub sah Kasperle erstaunt an, die Frage kam ihm sehr schnurrig vor. Was ging den Jungen das Schloß an? »Weit ist's schon«, sagte er, »die Bärbe braucht immer ein paar Tage für den Weg, sie stammt von dort.«

Da war Kasperle wieder zufrieden. Nun fiel ihm auch ein, es war eigentlich längst Frühstückszeit vorbei, und es kramte sein letztes Stück Brot aus der Tasche. »Ich hab' Hunger«, sagte es seufzend.

»Ich auch.« Der fremde Bub zog auch ein Stück Brot aus der Tasche und sagte: »Ich komm' hierher wegen der Himbeeren. So schön sind sie nirgends, und niemand weiß den Ort, selbst der brummige Matthias nicht.«

»Wer ist denn das?« Kasperle setzte sich auch an einen Himbeerbusch und pflückte Beeren in seinen Mund, wie es der andere tat. Beide schmausten los, und dabei erzählte der fremde Bub, der brummige Matthias sei ein Förster; er wohne neben des Herzogs Jagdschloß Hirschsprung, das ganz nahe sei.

»Wohnt der Herzog hier?« Kasperle ließ vor Schreck eine dicke Himbeere und sein Brot dazu ins Wasser fallen und fischte beides erst wieder heraus, als der fremde Junge sagte: »Bist du aber dumm! Der Herzog wohnt[107] doch in seiner Residenzstadt, weit, weit von hier! Er kommt nur alle Jahre zweimal hierher, sonst steht das Schloß immer leer. Du weißt aber auch gar nichts! Woher kommst du eigentlich? Wie heißt du? Wer bist du?«

Kasperle seufzte tief. Es wollte schon wieder sein Sprüchlein von dem armen Waisenbüblein sagen, aber des fremden Buben helle, klare Augen schauten es so ernsthaft an, da senkte es verwirrt seine Nase.

»Hast du was Schlimmes getan?« fragte plötzlich der andere fast streng.

Kasperle schüttelte den Kopf, und dann erzählte es dem Buben, wer es sei. Alles erzählte es, und der andere lachte nicht und sah traurig mit drein, und als Kasperle zu Ende war, streckte er ihm seine kleine braune Hand hin und rief: »Armes Kasperle! Aber weißt du, ich will dein Freund sein. Ich bin das; ›Geißenmichele‹ und wohne in Hochdorf. Da, willste noch mein Brot?« Michele wußte in aller Geschwindigkeit nämlich nicht, was er dem Kasperle aus Mitleid Gutes antun sollte, darum gab er ihm sein Brot. Dabei war des Micheles Brotvorrat für seinen rechtschaffenen Bubenhunger nicht gerade sehr groß. Michele meinte aber, für einen Freund, den man so unversehens im Walde findet, müßte man auch einmal hungern können. Kasperle aber sah wohl, mehr Brot war nicht im Säcklein, und es schlug vor, sie sollten es teilen. Also teilten sie, schmausten viele, viele Himbeeren dazu und berieten dabei, was aus Kasperle werden sollte.

Michele hätte das Kasperle am liebsten mit heimgenommen, doch das ging nicht; er hatte nämlich selbst kein rechtes Zuhause. Er war der Sohn einer armen Witwe, die wohnte stundenweit ab in einem kleinen Dorf, und er hatte sich als Ziegenhirt verdingt, um der Mutter zu helfen, die noch für drei kleinere Kinder sorgen mußte. Bei einem Bauern schlief er auf dem Heuboden, dahin durfte er keinen fremden Buben mitbringen. Und Kasperle tat einen[108] tiefen Seufzer und sagte traurig: »Ich muß weiterziehen.«

Doch da kam dem Michele wie ein Blitz ein guter Gedanke, und er schrie: »Hurra, das wird fein, fein, fein!«

Kasperle wollte natürlich gleich wissen, was fein würde, und da vertraute ihm Michele an, das Schloß sollte seine Wohnung werden. Und als Kasperle darüber vor Erstaunen so steif und stumm wie ein Bäumlein wurde, erzählte Michele, im Schlosse wohne niemand, der brummige Matthias und seine Frau gingen selten hinein, und das sei dann ja zu hören. Er aber wußte, daß eine ganz kleine Seitenpforte seit langer Zeit unverschlossen sei, wohl weil[109] der brummige Matthias den Schlüssel verloren habe. »Ich bin schon manchmal drin gewesen; fein ist's drin!« tuschelte Michele seinem neuen Freunde geheimnisvoll zu. »Du kannst drin wohnen, und dann treffen wir uns alle Tage und hüten die Ziegen zusammen. Wenn ich sage, ich hab' großen Hunger, dann gibt mir die Bäuerin schon mehr Brot, dann langt es für uns beide.«

»Aber der Herzog!« Kasperle sah so ängstlich drein, als spaziere der Herzog schon um die Ecke herum.

Michele lachte ihn aus. »Bist ein Hasenfuß; der Herzog kommt höchstens zweimal im Jahr nach Hirschsprung, na, und das merkst du ja vorher. Komm jetzt rasch, ich zeige dir die Türe!« Er sprang auf und sah nach den Ziegen. Die zeigten keine Lust zu großen Klettereien; satt und faul lagerten sie auf einem Wiesenfleck, und die beiden Freunde konnten beruhigt zum Schlosse wandern. Weit war das nun wirklich nicht. Kasperle staunte. Ein paar Schritt ging es durch den Wald, dann waren sie da. Auf einer Wiese, rings von Wald umgeben, lag ein graues Schloß, es hatte einen dicken Turm und sah etwas düster aus. Unweit davon, am Wiesenrand, lag ein kleines Haus, die Försterei. Alles war wie ausgestorben, nicht einmal ein Hund bellte, als sich die Buben dem Schlosse näherten. Michele führte seinen Freund um die grauen Mauern herum und zeigte ihm neben dem Turm ein Pförtlein, das fast ganz hinter Gebüsch verborgen war. »Da geht's hinein«, sagte er, »und hier kannst du auch ungesehen herausschlüpfen!«

Sie krochen beide durch das Gebüsch, und Michele drückte auf die rostige Klinke; sie gab nach, und da standen die beiden wirklich im Schloß. Ein schmaler, weißgetünchter Gang nahm sie auf, und Michele schritt ihn ganz keck entlang. Kasperle folgte etwas zaghaft, weil sich aber wirklich niemand und nichts im Schlosse regte, wurde es auch mutiger. Die beiden Freunde schlossen Türe um[110] Türe auf, sie gingen durch alle Gänge, stiegen alle Treppen empor, und Michele war ganz empört, als Kasperle auf einmal sagte: »Im Grafenschloß war's noch feiner.«

»Was Feineres gibt's nicht!« rief Michele und riß eine Türe auf. Die führte in einen Saal hinein, der nicht so düster wie die anderen Zimmer eingerichtet war, sondern hellen, heiteren Hausrat zeigte. Die Sofas und Stühle waren alle mit rosafarbener Seide überzogen, an den Wänden gab es in breiten goldenen Rahmen heitere Bilder, und Engel, die Kränze von Rosen trugen, schwebten oben an der Decke.

Da sagte auch Kasperle, dies sei feiner als im Grafenschloß, und Michele, der schon ganz wütend gewesen war, gab sich zufrieden. Kasperle war nun auch sehr vergnügt, daß es im Schlosse bleiben sollte, und als sie beide beim Herumwandern in ein sehr schönes Zimmer kamen, in dem ein breites goldenes Bett stand, sagte es: »Hier möchte ich schlafen.«

»Ich glaube, das ist dem Herrn Herzog sein Zimmer«, flüsterte Michele etwas scheu. »Darin kannst du doch nicht schlafen.«

Aber plumps, da lag Kasperle schon in dem mit Seide überzogenen Bett und rief: »Hurra, hier schlafe ich! Das ist fein, fein, fein!«

Michele hätte sich am liebsten auch in das goldene Bett gelegt, aber er dachte an die armen Ziegen, die er verlassen hatte. »Ich muß gehen«, sagte er betrübt, und flugs sprang Kasperle wieder aus dem Bett heraus und erklärte: »Ich geh' mit.« Einträchtig verließen sie beide wieder das Schloß, kehrten zu den Ziegen zurück, fanden die noch ruhig am alten Platz weiden, und sie setzten sich zu ihnen und berieten, wie sie es ferner zu halten gedächten. Michele wollte immer am Schloß vorbeiziehen und pfeifen, und sobald Kasperle dies hörte, sollte es ihm nachkommen; dann wollten sie zusammen spielen, Ziegen hüten[111] und ihr Brot verzehren. Beide freuten sich schon auf die Tage, die kommen würden, nur einmal sagte Kasperle ängstlich: »Aber der Herzog, wenn der in sein Schloß kommt!«

»Ach, der kommt ja erst im Herbst!« Michele schnippte mit der Hand, als könnte er damit den Herzog davonweisen, und Kasperle war beruhigt. Mit seinem neuen Freund zusammen trieb er dann die Ziegen zum Heimgehen an, und als das Schloß sichtbar wurde, trennten sich beide. Kasperle schlüpfte wieder durch das Gebüsch, öffnete die kleine Türe und stand dann allein in dem Schloß. Sein Schritt hallte laut auf dem Flur wider, und da begann sich der kleine Hasenfuß zu fürchten. Am liebsten wäre er wieder umgekehrt und dem Michele nachgelaufen, aber dann dachte er doch an das schöne seidene Bett, in dem er schlafen wollte, und er lief geschwind die Treppe hinauf und durch die Gänge, bis er das Zimmer erreichte. Dort schlüpfte er sehr eilig in das goldene Bett, zog sich die Decke über die Ohren und schlief wirklich nach fünf Minuten ein. Nichts störte ihn in dem einsamen Schlaf. Nur einmal hörte er ein fernes Blasen, aber so recht wachte er darüber nicht auf. Draußen auf der Waldwiese stand der Förster, den Michele den brummigen Matthias nannte, und blies auf seinem Hifthorn ein Abendlied. Feierlich tönte das durch den stillen Wald, und danach schwieg alles, nur die Bäume rauschten; sie erzählten sich, im einsamen Schloß sei ein wunderlicher kleiner Gast eingekehrt, von dem selbst der Förster nichts wisse.[112]

Quelle:
Herold Verlag, Fellbach, 1985, S. 98-113.
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