[48] Kasperle fuhr inzwischen sehr vergnügt durch das Land. Der luftige Sitz gefiel ihm gut, und je schneller es ging, desto froher wurde es. Hier konnte Meister Friedolin es nicht so leicht finden und vor allem Damian nicht. Vor dem schweigsamen Schäfer hatte es nämlich große Angst. Wenn Leute dem Wagen begegneten, dann nickte und winkte Kasperle, und die Leute nickten und winkten zurück, und der Herr Graf, der im Wagen saß, nickte auch freundlich, und er wunderte sich, daß die Leute immer so lachten. Kinder liefen lachend hinterdrein, weil der lustige kleine Kerl, der da hinten draufsaß, ihnen gar so gut gefiel.
Dorf folgte auf Dorf, immer weiter ging die Fahrt. Einmal fuhr der Wagen auch durch den Wald. Da rauschten die Bäume und die Vögel sangen. Kasperle sah in der Ferne ein kleines Haus liegen, und es dachte an das Waldhäuschen und an Liebetraut. Aber so schnell ihm der Gedanke kam, so schnell lief er ihm auch wieder davon. Es kam nämlich jemand vorbeigegangen, mit seinen kleinen Mauseohren hörte Kasperle die Schritte. Der da kam, war ein sehr würdiger gelehrter Herr, der an diesem Pfingstsonntag in den einsamen Wald gegangen war, um über ein sehr gelehrtes Buch nachzudenken. Als er den Wagen kommen sah, blieb er stehen, und weil er ein höflicher Herr war, grüßte er höflich, und der Graf dankte ebenso höflich und beugte sich dabei auch noch aus dem Wagen heraus. Und da sah er, wie der gelehrte Herr zurückwich und entsetzt die Hände hob, als erblicke er ein Gespenst.
Na, was war denn das? Der Graf verwunderte sich ungemein,[48] Kasperle aber zappelte vor Vergnügen auf seinem Sitz hin und her. Es hatte nämlich dem würdigen Herrn soeben eine lange Nase gemacht und dazu sein Räubergesicht geschnitten. Das konnte einen schon erschrecken.
Der gelehrte Herr starrte dem Wagen noch eine ganze Weile ganz verdattert nach. Er dachte: Dies war doch der Graf von Singerlingen! Was fällt dem ein, sich so einen Kobold auf seinen Wagen zu setzen! Unerhört, so etwas!
Bald war der Wald zu Ende, ein Dorf kam, und über diesem ragte auf mäßiger Anhöhe ein helles Schloß empor. Von seinen Türmen flatterten Fahnen lustig im Winde, und die Fenster glitzerten und blinkten im Sonnenschein. In dem Schloß war morgen Hochzeit; zu der fuhr der Graf. Es war schon mancher schöne Wagen an diesem Tage zum Schloß hinaufgerollt, und die Dorfkinder harrten darum alle an der Straße; sie waren neugierig, wer noch angefahren käme. Als der Wagen des Grafen von Singerlingen vorbeirollte, gab es plötzlich ein lautes Lachen auf der Dorfstraße, und schreiend und jauchzend stürmten alle Kinder hinterdrein. Die Pferde wurden fast scheu bei dem Gebrüll, und der Graf schüttelte in seinem Wagen immer mehr den Kopf. Das war doch sonderbar heute. Der Kutscher und der Diener ärgerten sich, aber alle drei merkten nichts von Kasperle, das hinten draufsaß.
Der Kutscher des Grafen dachte, als sie dem Schlosse näher kamen: Vor einem Schloß muß man würdig Vorfahren. Er ließ darum erst die Pferde etwas langsam gehen, damit sie sich ausruhen konnten, dann trieb er sie an. Im Trab fuhr er vor dem Schlosse vor, ruck, da hielt der Wagen.
An so etwas hatte Kasperle freilich nicht gedacht. Das hatte gemeint, das Gefahre ginge ruhig so weiter, und bei dem jähen Ruck verlor es darum das Gleichgewicht und sauste in weitem Bogen von seinem Sitz herab.[49]
Vor dem Schloß stand Rosemarie, die Tochter des Schloßherrn, in einem rosenfarbenen Kleid. Die hatte dem Grafen von Singerlingen einen schönen Willkomm sagen sollen; sie schrie statt dessen aber laut: »Da fällt ein Junge vom Wagen!«
Kasperle war mitten in ein schönes Blumenbeet hineingefallen. Da blieb es drin liegen, steif und starr, und rührte sich nicht. Der Graf von Singerlingen aber rief erstaunt: »Wo ist denn der Junge hergekommen?«
»Vom Wagen ist er gefallen«, sagte das kleine Rosenmädchen. »Ach, und nun ist er tot!«
»Der ist hinten aufgesessen; so was machen Jungens oft«, brummelte der alte Diener des Grafen. »Darum haben die Leute auch so über uns gelacht. Und tot ist er sicher nicht.«
Nein, tot war der kleine Kerl nicht, aber etwas verdöst, und als ihn zwei Diener aufhoben, machte er ein so schrecklich dummes Gesicht, daß alle um ihn herum lachten.
Der Graf, dem das Schloß gehörte, seine Frau, die Gäste, alle kamen und staunten das dumme, dumme Kasperle an. Der Graf von Singerlingen aber betrachtete es durch sein Augenglas und sagte immerzu: »Komisch, sehr komisch!«
Wo der Kleine herkäme, fragte der Schloßherr. Kasperle kniff die Augen zusammen, machte ein sehr betrübtes Gesicht und erzählte genau wie dem dicken Bauern, daß es ein verlassenes Waisenbüble sei und in die weite Welt hinaus wolle.
O du Schelm! dachte der alte Diener, dem das Kasperle nicht geheuer vorkam. Er hätte auch gern seinen Herrn vor dem Kleinen gewarnt, aber dem Grafen ging es wie dem dicken Bauern Strohkopf, ihm gefiel das Kasperle ungemein. Er bat darum die Schloßfrau, sie möchte den Kleinen aufnehmen bis zu seiner Heimfahrt. Das sagte[50] ihm die Gräfin zu, bei sich dachte sie freilich: Wo der schlafen soll, weiß ich nicht. Es waren so viele Gäste im Schloß, um die Hochzeit der ältesten Grafentochter mitzufeiern, und in einer Stunde sollte auch noch ein richtiger Herzog kommen. Da war jeder Winkel besetzt, und in der ganzen Nachbarschaft hatte die Gräfin Betten borgen müssen. Sie sagte aber zu einem Diener, er solle den Kleinen zur Hausverwalterin führen, die würde schon für ihn sorgen.
Die wird sich über den Knirps freuen! dachte der Diener. Er nahm Kasperle am Arm und führte es etwas unwirsch in die große Vorküche, in der gerade Frau Emma, die Hausverwalterin, die Kuchen ansah, die aus der Backstube gekommen waren.
Fein, hier gefällt's mir! dachte Kasperle und schnupperte vergnügt herum. Wie gut die Kuchen rochen! Ja, so ein Schloß war noch besser als ein Bauernhaus. Doch Frau Emma sagte nicht: »Fein!« und nicht: »Der gefällt mir«, als sie Kasperle sah, sondern sie rief sehr verärgert: »Was soll ich mit dem Popanz! So einen Jungen habe ich überhaupt noch nicht gesehen. Weg mit ihm, den kann ich hier nicht gebrauchen! Er mag meinetwegen Kartoffeln schälen!«
Und schwupps! nahm eine Magd Kasperle und zerrte es in einen Nebenraum hinein. Dort saßen drei junge Mägde, zu denen sagte sie: »Da ist einer, der soll euch helfen.«
»Der uns helfen?« Die drei kicherten laut, und eine nahm eine große weiße Küchenschürze, band sie Kasperle um, die zweite reichte ihm eine Schüssel, die dritte gab ihm ein Messer in die Hand, und alle drei riefen: »Nun hilf uns!«
Ei, da waren sie aber an einen flotten Helfer geraten! Potztausend, das ging! Schnippel, schnappel, schnippel, schnappel! Hierhin flog ein Stück Kartoffel, dahin eins;[51] Kasperle hatte gleich die ganze Kartoffel zerschnitten. Und dann wickelte es sich die Küchenschürze um die Beine, warf Schüssel und Messer auf den Boden und schrie: »Ich hab' Hunger!«
Die Mägde lachten. Aber dann liefen gleich zwei, um etwas für das Kasperle zu holen, die dritte aber streichelte es und fragte, woher es käme. Und dann schmauste Kasperle und erzählte, und zuletzt schnitt es Gesichter. So etwas hatten die drei Mägde noch nie gesehen.
Als Frau Emma nach einem Weilchen in die Nähe der Türe kam, lauschte sie ärgerlich. So ein Gelächter! Zornig öffnete sie die Türe. Da saßen die drei Mägde, lachten und lachten, und Kasperle kasperte auf dem Küchentisch herum. Die Kartoffeln aber waren alle ungeschält. Frau Emma verstand keinen Spaß. Sie fuhr drein wie ein Hagelwetter, und die Mägde duckten erschrocken die Köpfe. Das Kasperle aber herrschte die Frau an: »Geh, hilf Geschirr waschen! Da hinein!« Sie schob den Kleinen in einen großen Raum, in dem gewaschen und geputzt wurde.
Hier regierte die alte Liesetrine, und die machte gleich ein schiefes Gesicht, als sie den kleinen Helfer sah. »So einen Dreikäsehoch kann ich nicht brauchen«, schrie sie. »Raus mit ihm, raus! Der schlägt mir nur alles kaputt.«
Na, dachte Kasperle gekränkt, versuchen kann sie es doch erst mit mir. Und es wollte zeigen, wie geschickt es sei. Es nahm also flink ein reines Tuch, dann wollte es von einem Gestell einen roten Teller nehmen, um ihn säuberlich zu putzen. Es hatte oft gesehen, wie Liebetraut das machte. Da schrie die alte Liesetrine: »Halt, halt, laß die Teller stehen! Die Teller –« Klirr, da sausten sämtliche Teller von oben herab, noch ehe Liesetrine mit ihrer Warnung fertig war. Heißa, gab das eine Aufregung! Liesetrine klagte: »Die allerbesten Teller sind es, die allerbesten!« Ein paar Mägde schnatterten durcheinander, und da tat sich auch noch die Türe auf, und ein Diener[52] streckte den Kopf herein und fing an, über den Lärm zu schelten. Von der andern Seite guckte Frau Emma durch ein Schiebefensterchen und schalt auch.
In all dem Lärm entwischte Kasperle unbemerkt. Husch, war es draußen! Es drückte sich an der Wand entlang und geriet in einen halbhellen, kühlen Gang. Hier verhallte der Lärm etwas, und Kasperle sah, daß vier Türen auf den Gang mündeten. Jede hatte ein kleines Fensterchen, und Kasperle konnte gerade, auf den Zehen stehend, hindurchsehen. Ei, potztausend, war das fein, was es da erblickte! Es sah in die Speisekammern des Schlosses hinein, in denen die leckersten Dinge standen. Dem kleinen Schelm lief das Wasser im Munde zusammen; er merkte jetzt erst, wie hungrig er war. Er klinkte an einer Tür, an der andern, an der dritten – sie waren alle verschlossen; die vierte aber ging auf, die hatte Frau Emma in der Hetze dieses Tages nicht zugeschlossen. Und gerade in dieser Kammer standen die süßen Speisen: Fruchtschalen, Kuchen und Torten.
Kasperle besann sich nicht lange. Es fing an, zu schlecken und zu lecken. Wie das schmeckte! Viel, viel besser, dachte es, als das Käsebrot beim Bauern Strohkopf. In einer Ecke stand ein ganzer Kübel Schlagsahne. Kasperle wußte erst nicht, was dieser weiße Schaum war, und weil es im Waldhäuschen einmal neugierig an Seifenschaum geleckt hatte, dachte es, das könnte wohl etwas Ähnliches sein. Aber naschhaft, wie es war, steckte es doch sein Fingerlein hinein und versuchte. Das war fein. Es schleckte den Finger ab, tauchte ihn wieder ein, steckte die ganze Hand hinein, und weil der Kübel etwas hoch stand, kletterte es schließlich auf den Rand, um besser lecken zu können. Da sagte auf einmal draußen jemand: »Was ist denn das? Hier steht ja eine Tür auf!«
Kasperle erschrak mächtig. Es wollte sich flink in eine Ecke flüchten, doch dabei verlor es das Gleichgewicht,[53] und gerade als Frau Emma in die Speisekammer trat, plumpste Kasperle in die Schlagsahne hinein. Die spritzte hoch auf, und Frau Emma, die nur etwas zappeln und krabbeln sah, hielt Kasperle für eine Katze und stürzte schreiend aus der Speisekammer und rief um Hilfe.
Da war Kasperle geschwinder wieder aus dem Kübel heraus, als es hineingekommen war, und es witschte flink aus der Kammer. Doch Frau Emma sah es und merkte auch, daß das zweibeinige Ding keine Katze sein konnte; sie wollte es greifen, aber Kasperle, das von oben bis unten voll Schlagsahne war, entglitschte ihren Händen. Türen gingen auf, Menschen kamen, und Kasperle sah einen großen Pfeiler; hinter den rutschte es. Von da aus hörte es Frau Emma klagen, Mägde und Diener schelten, aber plötzlich riefen alle: »Es fahren wieder Gäste vor!«
Schnell rannten alle weg, und Kasperle kroch aus seinem Versteck heraus. Satt war es, nun hätte es gern geschlafen, aber es wagte nicht, jemand zu fragen, wo denn das Kämmerlein sei, das es bekommen sollte. Beim Umschauen entdeckte es eine schmale Treppe, die nach oben führte. Ei, vielleicht war dort ein stilles Plätzchen zum Ausruhen. Oben geriet es auf einen kleinen Flur mit vielen Türen. Der kleine Schelm schlich vorsichtig an der Wand entlang, so recht gemütlich war es ihm nicht. Von dem schmalen Flur gelangte er in einen breiten, auch da war wieder Tür an Tür; alle waren sie weiß gestrichen und hatten goldene Verzierungen, ganz prächtig sah es aus. Eine dieser Türen stand ein bißchen offen, und das neugierige Kasperle konnte nicht widerstehen, es steckte seine Nase hinein. Das war aber ein feines Zimmer, in das es blickte! Selbst die Wände waren mit Seide verkleidet, und an der einen Wand stand ein breites goldenes Bett. Kein Mensch war im Zimmer, und das Bett lockte Kasperle arg. Darin mußte es sich doch sicherlich gut schlafen lassen.[54]
Sachte schlüpfte es ins Zimmer, und eins, zwei, drei war es in dem schönen Bett. Das war ganz von Seide, und Kasperle rollte sich wie ein Igel drin zusammen. Ei, da lag sich's besser als in Bauer Strohkopfs Kammer! Doch freilich, in Protzendorf hatte es bis zum Morgen niemand gestört, aber hier! – Kasperle richtete sich erschrocken auf, viele Stimmen erklangen draußen, und es bekam Angst. Mit einem Satz war es aus dem Bette heraus, strich es schnell ein wenig glatt und kroch dann flink darunter.
Es war aber auch die höchste Zeit, denn gleich darauf tat sich die Tür auf, und ein älterer Herr, gefolgt von einigen Dienern, trat ein. Sie redeten allerlei miteinander, was Kasperle nicht recht verstand, und dann trat der Herr an das Bett heran und sagte seufzend: »Ich bin heute sehr müde; ich wollte, der Tag wäre schon zu Ende!« Bei diesen Worten strich er ein wenig über die seidenen Kissen, weil er sich wunderte, daß diese nicht so ganz glatt dalagen. »Was ist denn das?« rief er auf einmal erstaunt. Der erwartete Herzog, denn das war der ältere Herr, zog verdutzt seine Hand zurück. Er betrachtete sie, schüttelte den Kopf, strich wieder über das Bett und rief dann entrüstet: »Friedrich, in – meinem Bett ist – Schlagsahne!«
»Schlagsahne?« Friedrich riß den Mund vor Erstaunen weit auf und kam eilfertig herbei. Er strich auch über das Bett, leckte ein bißchen am Finger und rief verdutzt: »Schlagsahne!« Dann lief er zur Klingel, läutete heftig, und es dauerte nur ein paar Augenblicke, da kam ein Kammerdiener herbeigeeilt. Der verbeugte sich dreimal und fragte, was der Herr Herzog wünsche.
Dieser deutete auf das Bett und sagte: »Was ist das? Drüberstreichen!«
Der Kammerdiener strich erstaunt über das Bett, wich dann erschrocken zurück und strich noch einmal darüber, leckte auch ein wenig am Finger und rief: »Schlagsahne!« Und dann rannte er davon und holte den Haushofmeister,[55] der Graf kam selbst, und alle standen sie um das Bett herum und riefen: »Schlagsahne!«
Der Herzog schüttelte immerzu den Kopf, so erstaunt war er über die seltsame Geschichte. Und bei diesem Kopfgeschüttele sah er auch einmal in den großen Spiegel, der dem Bett gerade gegenüberhing. Darin sah er das ganze Bett und – der Herzog schrie plötzlich laut auf und sank in einen Stuhl: »Da, da, da!« rief er zitternd und deutete unter das Bett und auf den Spiegel, denn in dem hatte er Kasperle erblickt, das neugierig seine große Nase etwas zu weit vorgestreckt hatte.
»Es steckt jemand unter dem Bett«, rief als erster der Haushofmeister. Da krochen schnell zwei Diener hinunter, und das Kasperle konnte sich noch so klein machen, es wurde doch erwischt; an den Beinen zogen es die zwei hervor, und beide riefen entrüstet: »Er ist ganz klebrig! Er ist auch voll Schlagsahne.«
»Ah«, sagte der Herzog verwundert, als das Kasperle vor ihm stand. Nach der Nase hatte er nämlich geschlossen, ein großer, ausgewachsener Räuber stecke unter dem Bett.
»Ah!« rief auch der Graf zornig. »Das ist der, den mein Herr Vetter von Singerlingen mitgebracht hat und der bis jetzt nichts wie Dummheiten machte. Haue muß er haben!«
»Jawohl, und eingesperrt werden!« sagte der Haushofmeister, und der Herzog nickte dazu. Nur weil er gerade sehr müde war, flüsterte er bloß: »Aber erst morgen hauen.«
»Ja, morgen soll er Haue bekommen, jetzt wird er in den Keller gesperrt!« rief der Graf streng.
Die Sache stand schlimm für das Kasperle, arg schlimm. Es war wohl am besten, es bettelte gleich recht eindringlich um Gnade, vielleicht verzieh ihm der Herzog doch. Es war gut, daß Kasperle glitschig war, da gelang es ihm,[56] einen Augenblick den Händen der Diener zu entwischen. Es machte einen Riesensprung auf den Herzog zu und kreischte mit weinerlicher Stimme: »Bitte, bitte, bitte!«
Doch der Herzog war ein etwas schreckhafter Herr. Er lehnte sich ängstlich weit, weit in seinen Stuhl zurück, und auf einmal purzelten Stuhl und Herzog hintenüber.
»Um Himmels willen!« Der Graf, der Haushofmeister, die Diener, alle griffen erschrocken zu, und da schoß das Kasperle plötzlich einen riesigen Purzelbaum über alle hinweg, und draußen war es. Die Tür flog dem einen Diener, der nacheilen wollte, so unsanft an den Kopf, daß er zurückwich. Aber dann lief er doch auf den Flur, der Kammerdiener folgte und schrie laut: »Hilfe, Hilfe! Haltet ihn, haltet ihn!«
Ja, wen sollten die Diener halten, die alle angelaufen kamen? Von dem Kasperle war nichts zu sehen. Es war spurlos verschwunden. Auf dem langen, langen Gang[57] rannte kein Kasperle dahin, die Türen waren alle verschlossen, es hatte also auch in kein Zimmer schlüpfen können. Weg war der Schelm, ganz weg. Die Diener rannten die Gänge entlang, die Treppen auf und ab, das ganze Schloß geriet in Aufregung, alle fingen an zu suchen, und die Gäste wußten gar nicht, was sie suchten. Dazwischen rief der Graf nach dem herzoglichen Leibarzt, weil er dachte, der Herr Herzog hätte sich ein paar Knochen gebrochen, aber der hatte sich glücklicherweise gar nichts gebrochen, nur der Stuhl hatte seine Beine gebrochen. Doch seufzte und stöhnte der Herzog wirklich, als wäre er selbst entzweigegangen. Es war eine schreckliche Aufregung im ganzen Schloß. Schließlich aber sagte der Herzog, nun möchte er zu Mittag essen, er habe Hunger. Und da dachten alle: Gott sei Dank! Sie hatten nämlich alle Hunger, denn es war schon spät: Um diese Zeit tranken andere Leute, die nicht gerade auf einem Schlosse wohnten, ihren Nachmittagskaffee.
Der Graf befahl noch, alle drei Nachtwächter, die er hatte, sollten überall suchen und das Kasperle gefangennehmen, wenn sie es fänden. Und dann wurde zu Mittag gegessen. Das schmeckte allen sehr gut, und alle wurden wieder ganz vergnügt. Sie sagten aber doch alle, mit dem fremden Jungen, das sei sicher nicht mit rechten Dingen zugegangen.[58]
Buchempfehlung
Nachdem im Reich die Aufklärung eingeführt wurde ist die Poesie verboten und die Feen sind des Landes verwiesen. Darum versteckt sich die Fee Rosabelverde in einem Damenstift. Als sie dem häßlichen, mißgestalteten Bauernkind Zaches über das Haar streicht verleiht sie ihm damit die Eigenschaft, stets für einen hübschen und klugen Menschen gehalten zu werden, dem die Taten, die seine Zeitgenossen in seiner Gegenwart vollbringen, als seine eigenen angerechnet werden.
88 Seiten, 4.20 Euro
Buchempfehlung
Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.
430 Seiten, 19.80 Euro