[73] »Wie sieht Bob aus?« fragte das Kasperle neugierig, als der Wagen mit den Reisenden weiterrollte.
»Dick ist er und dumm«, sagte Mister Stopps.
»Oh!« Kasperle machte kein sehr erfreutes Gesicht, und Mister Stopps verwunderte sich, als Kasperle kläglich sagte: »Dann gefällt er mir nicht.«
»Er uird dir schon gefallen, er ist sehr unangenehm«, erklärte Mister Stopps. Dick, dumm, unangenehm, und dann soll er einem gefallen? Das Kasperle schüttelte den Kopf und rief ein bißchen patzig: »Nä, dann gefällt er mir überhaupt nicht. Dann mag ich ihn nicht.«
Kasperle hätte sicher noch mehr gesagt, wenn nicht die Kutsche gerade wieder an dem Wagen mit dem lieblichen Mädchen vorbeigerollt wäre.
»Na, immer noch so langsam?« rief der Postillon dem alten Kutscher zu, der den anderen Wagen lenkte.
Doch der gab keine Antwort, griesgrämig sah er vor sich hin, und das schöne, blasse Mädchen weinte sogar.
Kasperle winkte ihr zu und schnitt allerlei Gesichter, aber diesmal lächelte das Mädchen kein bißchen. Da nahm Florizel seine Geige und spielte gar süß darauf.
Da weinte das schöne Mädchen noch heftiger, aber sie winkte doch wieder mit dem Tüchlein herüber. Kasperle regte sich über die Tränen des lieblichen Kindes ordentlich auf. Es gab Mister Stopps einen Rippenstoß und sagte: »Die mußt du auch mitnehmen.«
»Uen soll ich mitnehmen?«[73]
Es dauerte ein Weilchen, ehe Mister Stopps Kasperles Wunsch begriffen hatte, dann sagte er freilich, das ginge doch nicht, einfach ein fremdes Mädchen mitzunehmen
»Aber sie weint doch!« schrie Kasperle ganz böse.
»Sie hört auch wieder auf.« Mister Stopps war ein bißchen ärgerlich, denn das Kasperle verlangte noch zehnmal, die Fremde solle mitreisen. Es war ganz ungebärdig, wollte gerade heulen, als ganz nah die Türme und Häuser einer großen Stadt auftauchten. In einer größeren Stadt als Torburg war Kasperle noch nie gewesen. Es riß den Mund weit auf und grinste alle Vorübergehenden an, und ein lautes Rufen und Verwundern entstand. Was war das für ein schnurriger Mensch, der da im Wagen saß?
»Lassen Sie Kasperle nicht 'rausgucken, sonst gibt's was«, mahnte der Kutscher. Aber seine Mahnung kam zu spät, denn gerade rollte der Wagen an einer Schule vorbei, und die war eben aus. Kasperle steckte den Kopf weit zum Fenster hinaus, schnitt sein Räubergesicht, dann eines, das blitzdumm aussah, und schon umringten die Kinder die Postkutsche so, daß die Pferde erschrocken stehenbleiben mußten.
»Kahspärle!« Mister Stopps packte Kasperle am Hosenboden und zog es in den Wagen hinein. Aber da wurde es draußen ganz schlimm. Die Buben sprangen auf das Trittbrett, die Mädel bettelten unten, sie wollten alle den komischen Jungen sehen.
»Das gibt's nicht!« rief Mister Stopps.
»Ich bin müsemausetot!« schrie Kasperle aus dem Wageninnern heraus.
Ein jauchzendes Geschrei war die Antwort. »Holla he, er sagt, er wäre tot, müsemausetot!« brüllten ein paar Buben.
»Zeig doch, wie tot du bist!« Kasperle streckte flugs die Zunge heraus und machte flink ein Mister-Stopps-Gesicht.[74]
»Mehr«, kreischten die Kinder, »er sieht wie der häßliche Mann im Wagen aus.«
Das war selbst dem gutmütigen Mister Stopps zuviel. Klitsch, klatsch bekam Kasperle eines hinten drauf, und Mister Stopps rief streng: »Ueiterfahren!«
Aber wie soll ein Kutscher fahren, wenn hundert Kinder um ihn herumwuseln und diese hundert Kinder noch dazu ein Geschrei vollführen wie auf einem Jahrmarkt.
»Es geht nicht«, brummte der Kutscher hilflos und kratzte sich verlegen hinterm Ohr.
Da nahm Florizel seine Geige und spielte heiter und sacht, es klang wie einer Mutter liebes Mahnen:
»Geht nach Haus,
Geht nach Haus,
Mädel und Buben!
Seid nicht wild!
Vater schilt
Und Mutter bang
Wartet schon lang.
Gehet heim,
Gehet heim,
Buben, Mägdelein!
Kasperlein
Will schlafen ein.
Müd' ist der Wicht,
Stört ihn nicht.«
Da schloß Kasperle gleich seine Augen und tat, als ob es schliefe.
Das wollten die Kinder aber noch sehen, doch da mahnte Florizel wieder:[75]
»Geht doch heim,
Geht doch heim,
Mädel und Buben!
Mittagszeit,
Essen bereit,
Sorgende Eltern schauen aus.
Nach Haus, nach Haus!«
Es war wunderbar, Florizels Lied trieb die Kinder heim, und Kasperle schlief wirklich ein. Es wachte erst wieder auf, als der Wagen vor einem stattlichen Hause hielt, dem vornehmsten Gasthof der Stadt. Über der Tür hing ein dicker, silberner Mond, und Mister Stopps schüttelte Kasperle und sagte: »Uir sein da, und hier sein der ›Mondschein‹.«
Kasperle rieb sich die Augen aus, sah hinaus und sagte verdutzt: »Ih, nein, die Sonne scheint.«
»O no, Mondschein.«
»Das ist doch die Sonne.«
»No, ich uill in den Mondschein.«
Da hätten sich Kasperle und sein Herr beinahe gestritten, aber Florizel sagte: »Dummes Kasperle, ›Mondschein‹ heißt der Gasthof.« – »Ach so, ja, das muß man aber erst wissen.«
»Und da sein Bob, mein lieber Bob.«
Ja, da stand Bob. Neben einem schlanken, großen jungen Mann, der gutmütig aussah, stand einer, der war klein, dick, kugelrund, und sein Gesicht sah aus, als hätte er das schlechte Wetter vom ganzen Jahr eben verschluckt. Oh, Bob gefiel Kasperle nicht. Klein, dick, unangenehm, es stimmte alles. Aber Kasperle dachte, ich will Freundschaft mit ihm schließen, denn wenn ihn Mister Stopps gern hat, kann er so übel nicht sein. Es lief auf den Dicken zu, platschte ihn auf den Magen und rief: »Guten Tag, Bob! Ich bin Kasperle.«[76]
»Daß du ein frecher Kasper bist, sehe ich«, brummte der Dicke, »aber mich Bob zu schimpfen, das verbitt ich mir. Da hast du deinen Lohn dafür!«
Wutsch, spürte das Kasperle eine kräftige Maulschelle im Gesicht, und vor Schreck kugelte es in den Wagen zurück.
Der Schlanke sprang herbei, Mister Stopps schlug ihm vertraulich auf die Schulter und sagte: »Guten Tag, Bob. Uie geht's dir? Und da sein Kahspärle. Oh, so dumm! Kahspärle, uarum hast du mit dem fremden Mann geredet?«
»Das hat gemeint, ich wäre es«, antwortete Bob vergnügt. »Und er hat es übelgenommen. Aber was ist das für ein sonderbarer Junge, Mister Stopps?«
»Das sein Kahspärle.«
Kasperle heulte. »Ich hab doch nur Bob guten Tag gesagt.«
»Das hier sein Bob.«
»Nä«, rief Kasperle, »Sie haben gesagt, er wäre dick, dumm und unangenehm, und das ist der da.«
Der Dicke hatte die Worte gehört, wütend kam er herbei und schrie: »Was, ich soll dick, dumm und unangenehm sein?«
»Nein, Sie sind dünn, klug und angenehm!« rief Mister Stopps sehr streng und sehr würdevoll.
»Ach so, ja das bin ich.« Der Dicke blähte sich auf. Kasperle schaute verwirrt Mister Stopps an. Was redete der nur? Aber da lachten Florizel und Bob alle beide, denn sie merkten, der gute Mister Stopps hatte die Worte verwechselt. Bob, der kein Engländer war, wußte gleich, was sein Herr meinte. Er beugte sich zu Kasperle, hob es auf und erklärte ihm alles, und Kasperle lachte wie toll. Es schloß gleich gute Freundschaft mit Bob, denn den konnte man wohl leiden. Er lachte mit Kasperle um die Wette, und als[77] beide an dem Dicken vorbeigingen, sagte der kleine Schlingel vergnügt: »Herr Dummklug von Angenehm!«
Weil Kasperle aber gar so arg lachte, machte der Fremde doch ein verdrossenes Gesicht und brummte: »Ich bin der Herr von Löwenzahn, merk Er sich das!«
»Ich bin der Graf Kasper von Torburg, und das ist der Prinz Stopps, merk Er sich das auch«, schwätzte Kasperle, denn es nahm das Gerede des Fremden nicht für Wahrheit.
Der aber war wirklich dumm. Er sah nicht, wie Kasperles Äuglein zwinkerten. Er verneigte sich ganz tief und sagte ehrerbietig: »Oh, verzeihen Sie, Herr Graf, daß ich –«
»Ja, ich bin bitterböse, daß Sie mich geschlagen haben, und der Prinz sagte, Sie wären dick, dumm und unangenehm.«
Herrn von Löwenzahn brannten die Ohren. Von einem englischen Prinzen für dumm und unangenehm erklärt zu werden, war höchst beschämend. Er hielt Kasperle, das davonlaufen wollte, am Ärmel fest und bat: »Ach lieber kleiner Graf, Sie sind ein sehr spaßiges Herrlein, seien Sie mir nicht mehr böse!«
»Doch!« schrie Kasperle den Herrn von Löwenzahn an. Dem gellte die Stimme schrecklich in den Ohren, und er prallte ordentlich zurück. Da war Kasperle schon auf und davon, ehe sich der Herr von Löwenzahn noch recht besonnen hatte, und weil Kasperle Mister Stopps, Florizel und Bob bereits im Flur des Gasthauses stehen sah, schlug es flink einen Purzelbaum und stand plötzlich vor dem Wirt vom »Mondschein«.
»Alle guten Geister, was ist denn das für ein komisches Wesen?«
»Das ist der weltberühmte, letzte Graf Kasperle von Torburg!«[78] schrie Kasperle den Wirt an. »Wir reisen um die ganze Welt herum, mein Herr, der Prinz Stopps –«
»Ein Prinz?« Der Mondscheinbesitzer verneigte sich tief, ein Kasperle, das ein Graf war, und ein Prinz waren noch nie bei ihm eingekehrt. Und ehe Mister Stopps noch etwas sagen konnte, rannten alle, Kellner, Hausdiener und Stubenmädchen durcheinander, und alle riefen: »Die besten Zimmer müssen gerichtet werden!«
»Ich habe doch schon Zimmer bestellt«, sagte Bob.
»Gilt nicht, gilt nicht«, rief der Wirt, »die sind nicht gut genug für so vornehme Gäste!«[79]
»Kasperle, du bist ein Strick«, sagte Bob. Er nahm Kasperle und wollte es an den Ohren ziehen, aber da sah ihn das Kasperle treuherzig an, und Bob sagte: »Ich mag dich aber doch gern.«
Mister Stopps sagte gar nichts, er war nur verwundert über das Geschrei um sich her, er ließ sich schieben und drängen, und wenn einer eine Verbeugung vor ihm machte, fragte er jedesmal: »Bob, uas uill er?« Und dann verneigte Bob sich und machte auch eine tiefe Verbeugung, und der Wirt nannte ihn: »Herr Kammerherr!«
Die Gäste wurden wirklich in die besten Zimmer geführt, und Mister Stopps wollte sich gerade umziehen, als der Wirt in das Zimmer gerannt kam. Er verbeugte sich fortwährend und wollte sich gerade erkundigen, wie es seinem Gast gefalle, als Kasperle ihm mit dem linken Bein an die Nase fuhr. Na, das mach ich nach, dachte Bob, und ritsch! bekam der Wirt von rechts auch eins. Der rannte erschrocken aus dem Zimmer und schrie draußen seiner Frau zu, sie solle ja nicht in die Nähe des Prinzen gehen, der hätte sehr sonderbare Begleiter. Dies hörte Bob, und Bob war beinahe derselbe Schelm wie Kasperle. Er nahm den Kleinen zur Seite und tuschelte ganz geheimnisvoll mit ihm.
»Fein!« schrie Kasperle und purzelbaumte durch das Zimmer, und dabei kugelte es Mister Stopps beinahe um.
»Oh Kahspärle«, sagte dieser stöhnend, »ich uollte mich gerade ausruhen.«
»Ich auch!« Kasperle kuschelte sich an Mister Stopps, und der sagte: »Du sein ein gutes Kahspärle.«
»Es ist Essenszeit!« Der Kellner Fritz, der sich sehr fein benehmen wollte, stürzte in das Zimmer, verneigte sich, und – wupp! hatte er seinen Nasenstüber von Bob.
»O Bob, uas sein das?« rief Mister Stopps erschrocken,[80] indessen Fritz heulend und jammernd aus dem Zimmer rannte.
»Kasperlemode.« Für lange Antworten war Bob nicht, aber diesmal wollte Mister Stopps doch mehr von der Mode wissen.
Da kam Herr von Löwenzahn, der auch im »Mondschein« wohnte, in das Zimmer, und ehe er noch wußte, was los war, hatte er von rechts und links einen Nasenstüber. Bob und Kasperle standen gleich darauf steif wie zwei Säulen da.
»Was ist das?« rief Herr von Löwenzahn entrüstet.
»Sitte!« antwortete Bob.
»Wo?«
»Bei uns!«
Bob stand steif wie ein Pfahl und beantwortete wie ein Leierkasten die Fragen.
»Das ist dumm, ganz dumm!« rief Herr von Löwenzahn, indessen Mister Stopps, der ruhig auf dem Sofa lag, den fremden Herrn durch ein Augenglas betrachtete.
»Uer sein das?«
»Herr von Löwenmaul«, erklärte Bob.
»Zahn, Zahn!« schrie der kleine Herr aufgeregt.
»Von Maulzahn«, sagte Bob.
»Löwenzahn, Dummkopf.«
»Herr Löwenmaulzahn von Dummkopf.«
Herr von Löwenzahn wollte beinahe vor Ärger platzen, aber da lachte plötzlich das Kasperle, wie eben nur ein Kasperle lachen kann, und da wäre Bob auch beinahe geplatzt – vor Lachen. Er machte aber noch die Türe weit auf, durch die Herr von Löwenzahn hinausschoß wie eine feurige Rakete.
»Uff«, stöhnte Mister Stopps, »uas sein hier für komische Leute! Ich uill jetzt essen.«[81]
Darüber freuten sich Kasperle und Florizel. Bob lachte vergnügt dazu, und dann ging er steif und feierlich, um unten das Mittagessen für seinen Herrn, den Prinzen Stopps, zu bestellen. Dabei kam er in einen Seitenflur, dort stand Herr von Löwenzahn und fuhr mal mit dem linken, mal mit dem rechten Bein in der Luft herum. Er wollte den Gruß, der bei dem Prinzen Stopps Sitte war, lernen, denn der gute Herr von Löwenzahn war schrecklich einfältig.
»So macht man das«, sagte Bob und fuhr Herrn von Löwenzahn mit dem Bein an die Nase.
»Frech!« schrie der.
»Sind Sie selbst, Herr von Löwenmaulzahn«, und damit verneigte sich Bob, ging den Flur entlang, und weg war er.
Ein paar Minuten später gab es ein vergnügtes Mahl in dem Wohnzimmer von Mister Stopps. Kasperle aß wie ein Scheunendrescher. Bob legte ihm immer die größten Stücke vor. Florizel war auch vergnügt, aber als Mister Stopps um ein Lied bat, da sang er doch eine traurige Weise:
»Steh im hellen Mondenschein,
Seh mich um und bin allein.
Mein Liebchen ist vorbeigefahren,
Nach hunderttausend Jahren
Treff ich sie erst auf einem Stern
Und sag: Feinslieb, ich hab dich gern.«
»Sehr merkuürdig, nach so langer Zeit«, brummte Mister Stopps, und dann schlief er sanft ein.
Kasperle wäre auch gern eingeschlafen, aber Bob nahm es bei der Hand und sagte: »Komm mit, du mußt mein Lehrmeister sein.«
Und während Mister Stopps schlief und Florizel mit seiner[82] Geige durch die Stadt spazierte, kasperten Bob und Kasperle in Bobs Zimmer. Kasperle fand, Bob sei beinahe ein richtiges Kasperle, aber nur beinahe. Zu einem ganz richtigen Kasperle mußte man geboren sein. Und Bobs Vater war eben nur ein Schneider gewesen, der zeitlebens auf dem Tisch gesessen hatte.
An diesem Nachmittag schlossen die beiden eine dicke, dicke Freundschaft, und Bob versprach dem Kasperle, er würde ihm auch helfen, seine Kasperle-Insel zu suchen.[83]
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