13. Szene.

[17] Ithuriel aus Wolken hervortretend. Doktor Faust.


ITHURIEL Steh' auf!

DOKTOR FAUST. Wer ruft mir?

ITHURIEL. Ithuriel.

DOKTOR FAUST. Wer bist du?

ITHURIEL. Dein Schutzgeist![17]

DOKTOR FAUST. Mein Schutzgeist? Engel des Himmels! Dich ahndete ich längst. O warum sah ich dich nie? Und jetzt?

ITHURIEL. Nie verließ ich dich.

DOKTOR FAUST. Wo warst du so oft, wenn Unmut meine Seele zerfleischte, wenn mein Fuß wankte am Abgrund, wenn die Furie der Sehnsucht nach fernem verschleierten Ziel mich umhertrieb, wenn meine zagende Seele schwebte zwischen dem Gewölke des Himmels und dem Erdball, zwischen Raum und Zeit, Gegenwart und Zukunft, Ewigkeit und Vernichtung? Wo warst du, holdes, liebliches Wesen, sprich, wo warst du?

ITHURIEL. Im innersten Heiligtum deines Herzens.

DOKTOR FAUST. Und doch hört' ich dich nicht.

ITHURIEL. Du hörtest mich. Aus ewigem Kampfe mit Leidenschaft stieg ich stets besiegt, aber stets kraftvoller in dir wieder auf: Ein ewiger Jüngling! Das Gewissen altert nicht.

DOKTOR FAUST. Das Gewissen? Ja, lieblicher Genius, ja ich besinne mich, ich hörte deine Stimme.

ITHURIEL. Du hörtest sie. Sie wütet nicht, sie stürmt nicht. Anmut ist die Gewalt ihres Adels, Wahrheit, Wahrheit ihr unwiderstehlicher Zauber, Innigkeit der Charakter ihrer Töne. Sie riß dich oft aus den Armen einer Buhlerin.

DOKTOR FAUST. O wahr!

ITHURIEL. Überraschte dich am Morgen einer durchschwelgten Nacht und spannte mit der Magie ihrer Musik deine horchende Seele zur einsamen Betrachtung. Der Tugend Mutter!

DOKTOR FAUST. O Wonne! Wonne! Ich bin gerettet! Geliebter, warum erscheinst du mir erst jetzt?

ITHURIEL. Alles verließ dich. Dann erst erscheint der Freund.

DOKTOR FAUST. O wahr!

ITHURIEL. Und Ithuriel ist dein treuster Freund, dein unzertrennlicher Gefährte.

DOKTOR FAUST. Sei es auf ewig!

ITHURIEL. Unauflöslich an dich durch das Schicksal gekettet, begleitet er dich über Felsen und Abgründe; unbeweglich[18] schlingt er sich an dich, haftet an dir, bis du gewaltsam ihn ermordest.

DOKTOR FAUST. Lieber, ich will dich in meinem Herzen tragen.

ITHURIEL. Faust, und doch warst du so nah mich auf ewig zu verscheuchen.

DOKTOR FAUST. Ich?

ITHURIEL. Was wolltest du beginnen?

DOKTOR FAUST. Wenn hier Bosheit mich angrinst, dort Dummheit mich angafft, wenn ich einsam wandle unter lebenden Leichen, verschlagen auf einen wüsten, nackenden Strand; wenn das Gewühle von Narren und Bösewichten mich anekelt; wenn ich müde bin am allgemeinen Rade des Egoismus mitzudrehen; wenn meine dürstende Seele den Vorhang heben will, der mich trennt von der mir verwandten Geisterwelt – so wäre das Verbrechen?

ITHURIEL. Es ist's!

DOKTOR FAUST. Wär's möglich?

ITHURIEL. Bedenkst du, unglücklicher Freund, was dich's kostet?

DOKTOR FAUST. Wie das?

ITHURIEL. Alles! Die Glorie deines zur Veredlung geschaffenen Wesens, den Adel deiner Seele.

DOKTOR FAUST. Gott!

ITHURIEL. Ewigkeit zahlt den Bund mit der Hölle und tilgt ihre Schuld nicht. Bedenk's, Ewigkeit!

DOKTOR FAUST. O halt' ein, Furchtbarer! Nimm mich hin! Aber rette meine Freiheit, rette meinen gebrandmarkten Ruf, rette meinen unglücklichen Vater!

ITHURIEL. Ich vermag's nicht.

DOKTOR FAUST. Ohnmächtig, und ein Bürger der Geisterwelt?

ITHURIEL. Der Schluß des Schicksals fesselt meine Macht; er kettete mich an dich. Ich bin nur mächtig in dir und durch dich.

DOKTOR FAUST. In mir, und durch mich? Tiefen der Weisheit, ich werd' euch nachforschen. Nach langem verzweiflungsvollem[19] Sinnen. Aber was vermag ich jetzt? O, zerfließt in Anrorens Nebel, purpurne Träume der Größe! Hoffnungen! Ahndungen! Erwartungen! Doch nein! Umsonst spannst du meinen ausgestreckten Arm. Ich zerreiße den Faden des Schicksals! Mein Name, mein Vater werde gerettet!

ITHURIEL. Armer Freund! Sieh, welches Schicksal ihm dann dein Entschluß bereitet! Traurige Musik. Im Hintergrund erscheint Fausts Vater in seiner Hütte, seine Haare ausraufend, am Strohlager seiner Mutter; Liese, sich ins Wasser stürzend. Hier dein Vater, dir fluchend, am Sterbebette deiner von dir gemordeten Mutter! Dort Liese, der Engel der Unschuld, wahnsinnig, sich in den Teich an deines Vaters Hütte stürzend.

DOKTOR FAUST niedersinkend. Engel des Himmels, ich bin überwunden!

Quelle:
Soden, Julius von: Doktor Faust. Neustadt a.d. Aisch 1931, S. 17-20.
Lizenz:
Kategorien: