Zwölftes Capitel.

[125] Die Zuversicht, mit welcher Herr von Zehren dem Abend entgegengesehen, der den schweren Verlust des vorigen Tages mindestens wieder gut machen sollte, hatte ihn doch betrogen. Vielleicht daß ein Vorfall, der sich unmittelbar vorher ereignete, ihm die Kaltblütigkeit geraubt hatte, welcher er an diesem Abend mehr als je bedurfte. Als wir uns nämlich von dem Strande herauf, wo wir zwischen den Dünen ein paar wilde Kaninchen geschossen hatten, über die Haide schreitend, Trantowitz näherten, war plötzlich auf der Landstraße, in die wir eben einbogen, eine Cavalcade, aus mehreren Herren und Damen bestehend, denen ein paar Livreebediente folgten, an uns vorübergesprengt. Ich weiß nicht, wie es kam, aber ich hatte von Allen deutlich nur einen jungen schlanken Mann bemerkt, der ein wundervolles englisches Pferd ritt, und der sein blasses, mit den Erstlingen eines Schnurrbartes verziertes Gesicht in dem Augenblick, als er an mir vorbeikam, lachend zu einer jungen Dame hinbog, die ihr Pferd mit einem Hieb zu rascherm Laufe antrieb. Ich hatte der Schaar noch ein paar Momente nachgeblickt, und als ich mich mit der Frage: »Wer war das?« an Herrn von Zehren wenden wollte, erschrak ich über seinen Anblick. Wir hatten nur noch eben heiter miteinander geplaudert; jetzt lag in seinen Mienen ein finsterer Zorn, und als wollte er den Enteilenden einen Schuß nachsenden, hatte er das Gewehr von der Schulter gerissen und halb im Anschlage. Dann warf er es wieder über die Schulter und ging ein paar Schritte schweigend an meiner Seite, bis er plötzlich in wüthendste Schmähungen ausbrach, wie ich sie von ihm, der doch gelegentlich heftig genug werden konnte, noch nie gehört. »Der Hund«, rief er, »er wagt es, bis hierher zu kommen, auf meines Freundes Trantow Grund und Boden! Und ich stehe ruhig da und jage ihm nicht eine Ladung Schrot in seinen verdammten Leib! Wissen Sie, Georg, wer das war! Der Bube, der einst Herr sein wird auf hundert Gütern, die alle von Rechts wegen mir gehören, dessen Vorfahren die Vasallen meiner Ahnen gewesen sind, und dessen schurkischer Vater zu mir gekommen ist, mir auf meinem eigenen Zimmer zu sagen: er wünsche seinen Sohn[126] standesgemäß zu vermählen und er hoffe, wir würden uns abfinden lassen. Ich habe ihm die verdammte Kehle zugeschnürt und hätte ihn erwürgt, wären sie nicht dazu gekommen. Sehen Sie, Georg, die Geschichte hat in mir gewühlt, unaufhörlich, seitdem ich wußte, daß der Bube sich wieder hier in der Nähe herumtrieb. Und nun wissen Sie auch, weshalb wir, Konstanze und ich, auf einem so schlechten Fuß miteinander stehen. Gott weiß, in welchen Phantasien sie sich wieder einmal wiegt, und mich macht es rasend, zu sehen, daß sie ihre Gedanken noch immer an den Sohn des Schurken hängt, der mich so schmählig beleidigt hat, wie nur ein Mann einen Mann beleidigen kann; der mein Wappenschild beschimpft hat und der mit mir auf Tod und Leben kämpfen müßte, wenn –«

Er unterbrach sich und ging, mit den Zähnen an der Unterlippe nagend, schweigend neben mir her. Dabei strauchelte er, des schlechten, ungleichmäßigen Weges nicht achtend, ein paar Mal; das gab ihm, zusammen mit dem Ausdruck seines Gesichtes, dessen Runzeln, sobald er in Leidenschaft gerieth, tief einsanken, den Anschein eines alten, gebrochenen Mannes, der sich in ohnmächtigem Zorn verzehrt. Nie vorher war er mir so bemitleidenswerth, so hilfsbedürftig erschienen, und nie vorher hatte ich ihn so bemitleidet, hätte ich ihm so gern geholfen. Zugleich sagte ich mir, daß eine so günstige Gelegenheit, das Mißverständniß aufzuklären, welches offenbar in Beziehung auf ihr beiderseitiges Verhältniß zum Fürsten zwischen Vater und Tochter obwaltete, nicht so leicht wiederkehren würde. So faßte ich mir denn ein Herz und fragte:

»Weiß Fräulein Konstanze, wie sehr man Sie beleidigt hat?«

»Wie so? Was meinen Sie?« fragte Herr von Zehren zurück.

Ich erzählte ihm, was ich am Morgen mit Konstanze gesprochen, wie sie keine Ahnung davon zu haben scheine, welchen Frevel man an ihr begangen, wie sie mir im Gegentheil ausdrücklich gesagt habe, daß sie mit dem Fürsten verlobt gewesen, daß die bereits beschlossene Verbindung durch Herrn von Zehren's Schuld nicht zu Stande gekommen sei, daß sie aber nichtsdestoweniger frei und ganz auf jeden Gedanken der Möglichkeit einer Verbindung zwischen ihr und[127] dem Fürsten verzichtet habe. Nur die Frechheit, mit der er es gewagt, sich ihr wieder nähern zu wollen, die Correspondenz, welche zwischen ihnen stattgefunden, verschwieg ich, weil ich fühlte, daß dieser Umstand den Zorn des Herrn von Zehren wieder wach rufen und ihn gegen alle Vernunftsgründe taub machen würde.

Und auch so schon hatte ich vergebens gesprochen. Er hatte mir mit allen Zeichen der Ungeduld zugehört und rief jetzt, als ich, vor Eifer athemlos, schwieg: »Sagt sie das? Was sie nicht Alles sagt! Und das noch jetzt, nachdem ich ihr nicht einmal, nachdem ich ihr hundertmal erzählt habe, was man von mir gewollt hat, wie man meine Ehre, meinen Namen in den Koth getreten hat! Wird sie nicht nächstens behaupten, der Kaiser von China habe um sie geworben und ich sei Schuld, daß sie nicht Kaiserin von China sei! Warum nicht? Turandot ist eine so schöne Rolle, wie Maria Stuart. Machen Sie sich darauf gefaßt, sie nächstens in chinesischem Costüm zu sehen!«

Es war leicht genug, zu hören, wie wenig scherzhaft dem Manne bei diesen Worten zu Muthe war, und ich wagte nicht, ein so peinliches Thema länger festzuhalten. Ueberdies kamen wir in wenigen Minuten auf Trantowitz an, wo uns Hans auf der Schwelle mit seinem gutmüthigen Lächeln begrüßte und in sein Wohnzimmer (neben seinem Schlafzimmer das einzige bewohnbare Gemach des ganzen großen Hauses) führte, in welchem die übrigen Gäste schon versammelt waren.

Der Abend verlief wie schon so viele. Vor der Mahlzeit wurde gespielt und nach der Mahlzeit, bei der man der Flasche überaus eifrig zusprach, wurde das Spiel fortgesetzt. Ich hatte mir vorgenommen, nicht zu spielen, und konnte diesen Vorsatz um so leichter durchführen, als Alle, mit Ausnahme unseres Wirthes vielleicht, den nichts aus seiner Ruhe bringen konnte, von dem ungewöhnlich hohen Spiel gänzlich in Anspruch genommen waren und Niemand Zeit hatte, sich um mich zu bekümmern.

So saß ich denn, etwas von dem Tische entfernt, in der Vertiefung des Fensters und beobachtete die Gesellschaft, deren Treiben mir heute, als ich nicht selbst daran Theil nahm, unheimlich genug erschien. Die stieren Augen in den erhitzten Gesichtern; die nur von den monotonen, immer wiederkehrenden Phrasen des Bankiers, oder von einem kurzen[128] heiseren Lachen, oder zwischen den Zähnen gemurmelten Fluch der Spieler unterbrochene Stille; die Gier, mit der man den Wein flaschenweise hinuntergoß; das ganze Bild eingehüllt in eine graue Tabakswolke, die mit jeder Minute dichter wurde – es war kein erfreulicher Anblick und allerlei seltsame wirre, peinliche Gedanken wälzten sich durch meinen ermüdeten Kopf, während ich so dasaß und mechanisch die Chancen des Spiels verfolgte und zwischendurch auf das Sausen und Brausen des Nachtwindes hörte, der die alten Pappeln vor dem Hause schüttelte und einzelne Regentropfen an die Fenster trieb. Dann fuhr ich aus meinem Halbschlummer jäh empor von einem wilden Lärmen, der plötzlich das Gemach durchtobte. Die Spieler waren von ihren Sitzen aufgesprungen und schrieen mit wilden Mienen und drohenden Geberden aufeinander ein; aber so schnell, wie er entstanden, legte sich der Tumult; sie saßen wieder stumm über ihre Karten gebeugt und ich horchte abermals auf das Rauschen des Windes in den Pappeln und das Klatschen des Regens gegen die Scheiben, bis ich vollends einschlief.

Eine Hand, die sich auf meine Schulter legte, erweckte mich. Es war Herr von Zehren. Der erste Blick in sein bleiches Gesicht, aus dem unheimlich die großen Augen glänzten, sagte mir, daß er abermals verloren habe, und er bestätigte es, als wir durch die dunkle, sausende Nacht den kurzen Weg nach Zehrendorf zurückschritten. »Es ist vorbei mit mir«, sagte er, »mein altes Glück verläßt mich; ich sollte mir je eher je lieber eine Kugel vor den Kopf schießen. Acht Tage freilich habe ich noch; Sylow, der ein guter Kerl ist, hat mir so lange Frist gegeben; in acht Tagen läßt es sich vielleicht arrangiren; nur daß übermorgen der Wechsel fällig ist und mein Herr Bruder natürlich nicht zahlen kann. Indessen man muß sehen, man muß sehen.«

Er hatte mehr mit sich selbst als mit mir gesprochen. Ein paar Mal blieb er stehen, blickte zu den tief herabhangenden Wolken empor, durch welche jetzt von Zeit zu Zeit ein schwacher Schimmer des eben aufgegangenen Mondes fiel, schritt dann wieder weiter und murmelte durch die Zähne: »Aber ich wußte es, wußte es, als ich den Schurken sah; es mußte mir Unglück bringen; sein verfluchtes Geschlecht hat mir noch immer Unglück gebracht. Und nun sehen müssen, wie sie den Schaum schlürfen von dem Becher des Lebens,[129] während uns die bittere Hefe bleibt. Und sich nicht rächen können! ihnen nicht an's Leben können!«

Wir waren, schon nahe beim Hofe, zu einem Gehölz gelangt, das eigentlich nur eine weit vorspringende Ecke des großen Waldes war, aber bereits zu dem Park gerechnet wurde. Der Weg theilte sich hier; ein breiterer führte an dem Rande hin, ein schmalerer, der eigentlich nur ein Fußpfad war, quer durch den Camp. Der letztere war der kürzere, aber auch unbequemere und dunklere, und Herr von Zehren, der in der schlechten Stimmung, in welcher er sich befand, schon ein paar mal über die Dunkelheit und den bösen Weg gemurrt hatte, schlug vor, nicht, wie wir gewöhnlich thaten, durch den Wald zu gehen.

»Ich wüßte gern, ob der Platz-Hirsch, den wir vorgestern gespürt haben, wieder im Süderholz schreit«, sagte ich; »man kann es von hier nicht hören, aber drinnen muß man es hören können.«

»So gehen Sie durch«, sagte er, »aber halten Sie sich nicht zu lange auf.«

»Ich hoffe, noch vor Ihnen auf der andern Seite zu sein.«

Es war nicht so finster im Walde, als ich gefürchtet hatte; manchmal schien der Mond sogar ziemlich hell durch die jagenden Wolken. Ich machte mir Vorwürfe, daß ich Herrn von Zehren in einer solchen Stunde allein gelassen hatte, und wollte umkehren; dennoch schritt ich, von meiner Jagdleidenschaft getrieben, langsam und vorsichtig weiter, blieb auch manchmal stehen, mit verhaltenem Athem in den Wald hineinlauschend, ob ich den Hirsch nicht hören würde! Ein mal glaubte ich, das dumpfe Gebrüll vernommen zu haben; aber ich war meiner Sache nicht gewiß und auf jeden Fall mußte es sehr fern sein und auf einer andern Stelle, als wir den Hirsch um diese Stunde vermutheten. Vielleicht war es ein anderer. Ich hätte es gern herausgebracht und stand wieder still und lauschte. Plötzlich ließ sich hinter mir auf dem Wege, den ich gekommen, ein Geräusch vernehmen, wie von Pferdehufen. Mein Herz stand still und begann dann heftig zu schlagen. Wer konnte der nächtliche Reiter sein, auf einem Wege, der ganz abseits von der großen zu dem Gutshofe führenden Straße lag?

Der im Anfang dumpfe Hufschlag war lauter geworden und hatte dann plötzlich aufgehört. Statt dessen vernahm ich[130] jetzt ganz deutlich den Schritt eines Menschen, der durch den Wald daher kam, auf die Stelle zu, wo ich, etwas abseits vom Wege und in dem tiefen Schatten von ein paar hohen Bäumen, stand. Es konnte Niemand anders sein, als er; mein Herz, das mir in der Brust hämmerte, als wollte es alle Bande sprengen, schrie mir zu, daß es Niemand anders sein könne; ich riß das Gewehr von der Schulter, wie heute Abend Herr von Zehren nach dem Gewehr gegriffen beim Anblick des Verhaßten. Dann aber warf ich es, wie er es gethan, wieder über die Schulter, so daß ich beide Arme frei hatte. Was brauchte ich dem Bürschchen gegenüber, als meine beiden Arme!

Und da sah ich ihn vor mir, ganz deutlich, denn der Mond trat eben über den Rand einer schwarzen Wolke und goß durch die Wipfel ein helles Licht gerade auf die Stelle, über die er schritt: dieselbe schlanke Gestalt, sogar noch in demselben Reitanzug: niedriger Hut, enganliegender pelzbesetzter Rock und hohe bis zur Hälfte der Schenkel reichende Stiefel von geschmeidigem Leder – ein Sprung, ein Griff, und er war in meinen Händen.

Der Schrecken mußte ihn für den Augenblick betäubt haben, denn er hatte weder einen Schrei ausgestoßen, noch kaum eine Bewegung gemacht. Aber es war eben auch nur für einen Augenblick gewesen; dann versuchte er mit einer urplötzlichen Anstrengung, die weit über das Maß der Kraft, die ich ihm zugetraut hatte, hinausging, sich von mir loszureißen. So mag ein Leopard in dem Netz, in das ihn der Jäger verstrickt hat, sich herumwerfen, sich emporschnellen, mit den Pranken schlagen, sich zusammenziehen und wieder emporschnellen. Der Kampf dauerte wohl eine Minute, während dessen von beiden Seiten kein Wort gesprochen, kein Laut hörbar wurde, als nur ein gelegentliches Stöhnen und ein zischender Athemzug. Zuletzt wurden seine Anstrengungen matter und matter, sein Athem ging schneller und schneller, und endlich keuchte er, in sich zusammensinkend: »Lassen Sie mich los!«

»Sobald nicht!«

»In meiner Brusttasche steckt ein Portefeuille mit ein paar hundert Thalern; Sie sollen sie haben, aber lassen Sie mich los!«

»Nicht für eine Million«, sagte ich, indem ich ihn, dessen Kraft vollkommen erschöpft war, in die Kniee drückte.[131]

»Was wollen Sie? wollen Sie mich morden?« keuchte er.

»Ich will Ihnen nur eine Lection geben,« sagte ich, und griff nach der Reitpeitsche, die ihm, während wir rangen, entfallen war und deren silbernen Griff ich eben jetzt neben mir blinken sah.

»Um Gotteswillen, thun Sie mir das nicht an,« flehte er, die Hand, in welcher ich die Reitpeitsche gefaßt hatte, krampfhaft festhaltend; »tödten Sie mich auf der Stelle; ich will mich nicht rühren; ich will nicht einen Laut von mir geben; aber schlagen Sie mich nicht!«

Ein solches Verlangen in diesem Ton konnte nicht verfehlen, auf ein Herz wie das meine einen tiefen Eindruck zu machen. Ich sah in meinem Gegner nicht mehr den Erbfeind des wilden Zehren, den Liebhaber seiner Tochter – ich sah nur noch einen Knaben in ihm, der in meiner Gewalt war und der lieber sterben wollte, als eine schimpfliche Behandlung dulden. Unwillkürlich ließ meine Faust, die ihn an der Brust gepackt hielt, los, ja, ich glaube, ich half ihm wieder auf die Füße.

Er fühlte sich kaum frei, als er schnell ein paar Schritte von mir wegtrat und in einem Ton, dessen Leichtigkeit seltsam mit der furchtbaren Angst contrastirte, die er nur noch eben empfunden hatte, sagte:

»Wenn Sie ein Edelmann wären, müßten Sie mir Satisfaction geben, da Sie keiner sind, sage ich Ihnen: nehmen Sie sich in Acht, ich möchte nicht immer wie heute ohne Waffen sein.«

Er berührte den Rand seines Hutes, drehte sich auf den Hacken um und schritt den Weg zurück.

Ich stand wie angewurzelt und blickte der schlanken Gestalt nach, die eben im Schatten der Nacht und des Waldes verschwand. Ich wußte, daß ich ihn mit ein paar Sätzen wieder einholen konnte, aber ich spürte nicht die mindeste Regung, es zu thun. Der junge Fürst hatte den jungen Plebejer richtig taxirt. Ich hätte mir eben so gern die Hand abgehackt, als sie wiederum nach dem ausgestreckt, den ich nun einmal in meiner Weise begnadigt hatte. Und dann dachte ich an Granow's Wort, daß er nicht, wenn er der Fürst wäre, Herrn von Zehren begegnen möchte, und wie um ein Haar diese Begegnung nun doch stattgefunden hätte, in einem Augenblick, wo es offenbar dem Wilden eine Lust gewesen wäre,[132] das Blut seines Feindes zu vergießen und das seinige dazu. Und jetzt hörte ich ein leises Wiehern und dann Hufschlag.

Gott sei Dank, sagte ich tiefaufathmend, es ist besser so! – und eine Lehre wird's ihm doch wohl sein.

Ich dachte jetzt nicht mehr an den Hirsch; ich hörte kaum hin, als er gar nicht weit von mir, links im Walde, zu brüllen begann; ich eilte im Trab weiter, die verlorene Zeit einzubringen, in schwerer Sorge, ob Herr von Zehren den Reiter ebenfalls gehört, denn von dem, was sonst im Walde geschehen, konnte er nichts vernommen haben.

Aber ich hatte unnöthiger Weise gesorgt. Der Wilde war zu tief in seine Unglücksgedanken versunken, als daß seine Sinne so scharf hätten sein können, wie sonst wohl. Er fragte mich nicht einmal nach dem Hirsch; und ich war froh, daß ich nicht zu sprechen brauchte. So gingen wir schweigend neben einander hin, bis wir den Hof erreichten.

Auf dem Hausflur empfing uns der alte Christian, der nie Schlafende. Es seien Briefe angekommen mit einem Expreß, er habe sie dem Herrn auf den Schreibtisch gelegt.

»Kommen Sie mit herein,« sagte Herr von Zehren, »während ich sehe, was es giebt.«

Wir traten ein. »Der ist für Sie, und auch der;« sagte Herr von Zehren, indem er mir von den Briefen, die auf dem Tische lagen, zwei reichte.

Der erste Brief war von meinem Freunde Arthur und lautete:

»Du hast mir das Geld nicht geschickt um das ich Dich neulich bat; aber freilich, wenn wir nur selbst was haben, mögen die Freunde zusehen, wie sie fertig werden. Heute schreibe ich Dir übrigens nur, um den Onkel durch Dich zu bitten, daß er dem Papa doch helfe. Es muß wohl sehr schlecht mit uns stehen, denn als heute der Kaufmann G. – Du weißt schon – dem ich fünfundzwanzig abgeborgt, sich beim Papa meldete, habe ich gar keine Schelte bekommen. Dafür heult die Mama den ganzen Tag, ich wollte, ich wäre, wo der Pfeffer wächst.

P.S. So eben kommt der Papa vom Onkel Commerzienrath zurück mit einem sehr langen Gesicht. Es ist klar, daß der Philister nichts herausrücken will; ich sage Dir, Onkel Malte muß helfen; es geht sonst schlimm.«[133]

Der zweite Brief war von meinem Vater.

»Mein Sohn! Du hast mich, indem Du mir den kindlichen Gehorsam aufkündigtest, gezwungen, meine Hand von Dir zu ziehen. Ich habe mir geschworen, sie Dir nicht eher wieder zu reichen, als bis Du, Dein Unrecht eingestehend, mich selbst darum bittest, und ich werde diesen Schwur halten. Ich habe Dir auch in der Wahl, die Du für Dich getroffen, keinerlei Hindernisse in den Weg gelegt, habe Dir die volle Freiheit gelassen, die Du von jeher beansprucht hast, und bin entschlossen, es auch fernerhin zu thun. Nun aber kann mich das nicht abhalten, von Herzen zu wünschen, es möge Dir auf dem selbstgewählten Wege gut gehen, wie sehr ich auch daran zweifle; und kann mich auch nicht abhalten, Dich zu warnen, wo Warnung nöthig scheint. Dies aber ist jetzt der Fall. Es sind mir über Herrn von Zehren Dinge zu Ohren gekommen, von denen ich zu Gott hoffe, daß sie auf einem Irrthum beruhen, die aber derart sind, daß ich nur mit Schrecken meinen Sohn, wenn er sich auch von mir losgesagt hat, in dem Hause eines Mannes weiß, den ein solcher Verdacht, und wäre er auch fälschlich, trifft. Um was es sich handelt, bin ich Dir zu sagen nicht im Stande, da mir die betreffenden Mittheilungen auf amtlichem Wege zugegangen sind. Ich weiß wohl, daß Du, trotz Deines Ungehorsams, eine schlechte Handlung niemals thun würdest, und daß Du also, sollten auch jene Muthmaßungen, was Gott verhüte, auf Wahrheit beruhen, so weit sicher bist; dennoch bitte ich Dich, so Dir an meiner Ruhe noch etwas liegt, das Haus des Herrn von Zehren sofort zu verlassen, indem ich, was kaum nöthig ist, hinzufüge, daß ich für den gehorsamen Sohn sein werde, was ich ihm immer war, sein strenger aber gerechter Vater.«

Ich hatte diesen Brief zweimal durchgelesen und saß, unfähig, einen bestimmten Gedanken zu fassen, noch immer auf das Blatt starrend, da, als mich Herrn von Zehrens: »Nun, Georg, was haben Sie denn da?« aufschreckte. Ich reichte ihm die beiden Briefe. Er las sie und legte sie auf den Tisch, ging im Zimmer auf und ab, blieb dann vor mir stehen und sagte: »Was wollen Sie thun?«

»Die Gelegenheit ist günstig,« fuhr er fort, als ich mit der Antwort zögerte. »Ich habe einen Brief von dem Steuerrath, der mich noch in dieser Stunde nach der Stadt zu reisen[134] zwingt. Ich nehme Sie mit; jetzt ist es zwölf Uhr, in drei Stunden sind wir drüben; Sie klingeln den alten Herrn heraus, können dann noch ein paar Stunden in der Dachkammer, von der Sie mir so oft erzählt haben, schlafen, werden morgen früh Gott danken, daß Sie den Wilden los sind, und – wieder in die Schule gehen.«

Er hatte die letzten Worte mit einem leichten Hohne gesagt, der die empfindlichste Seite im Herzen eines jungen Menschen, den falschen Stolz, jäh berührte.

»Ich will mit Ihnen gehen, wohin es sei! rief ich, indem ich aufsprang. Ich habe es Ihnen schon heute morgen gesagt und ich wiederhole es jetzt. Sagen Sie mir, was ich thun soll.«

Herr von Zehren schritt in dem Zimmer auf und nieder, dann blieb er vor mir stehen und sagte mit bewegter Stimme:

»Bleiben Sie hier! meinetwegen nur noch ein paar Tage, bis ich wieder zurück bin. Sie leisten mir einen Dienst damit.«

Ich sah ihn fragend an.

»Wenn Sie jetzt zurückkehren, heute zurückkehren,« fuhr er fort, »so würde das nur dazu beitragen, die Gerüchte zu bestätigen, von denen Ihr Vater schreibt. Die Ratten verlassen das Haus, würden die Leute sagen, und mit Recht. Und gerade jetzt liegt mir daran, daß die Leute nichts sagen, daß möglichst wenig über mich gesprochen wird. Verstehen Sie, Georg?«

»Nein,« sagte ich; »warum gerade jetzt?«

Ich sah ihn starr an, er versuchte, den Blick auszuhalten, und es dauerte einige Zeit, bis er, leise und langsam sprechend, antwortete:

»Fragen Sie nicht weiter, Georg, vielleicht würde ich es Ihnen sagen, wenn Sie mir helfen könnten; vielleicht, vielleicht auch nicht. Es geht die Rede, ich nutze die Menschen aus und werfe sie weg, wenn ich mit ihnen fertig bin. Mag sein, ich wüßte auch nicht, daß die Meisten besser behandelt zu werden verdienen. Mit Ihnen möchte ich es nicht so machen; denn ich habe Sie lieb. – Und so, gehen Sie zu Bette und lassen Sie den Wilden weiter spielen. Vielleicht sprengt er diesmal die Bank, und dann, verspreche ich Ihnen, soll es das letzte mal gewesen sein.«

In diesem Augenblicke fuhr der Wagen vor; ich hatte,[135] während ich den Brief meines Vaters las, nicht gehört, daß der alte Christian den Befehl erhalten hatte, das Anspannen zu bestellen. Herr von Zehren kramte in seinen Papieren, steckte einige zu sich und schloß andere in den Schrank. Dann ließ er sich von Christian seinen Jagdpelz anhelfen, setzte die Mütze auf, trat auf mich zu und bot mir die Hand.

Ich hatte in halber Erstarrung allem mechanisch zugesehen.

»Und ich kann nichts für Sie thun?« sagte ich jetzt.

»Nein,« erwiederte er; »oder doch nur dadurch, daß Sie ruhig hier bleiben, bis ich zurück bin. Ihre Hand ist eiskalt; gehen Sie zu Bett!«

Ich begleitete ihn hinaus. Vor der Thür hielt der Jagdwagen; auf dem ersten Sitz saß außer dem Knecht, der das Amt des Kutschers zu versehen pflegte, der lange Jochen.

»Der Wagen wird mich nur bis zur Fähre bringen und dann wieder zurückkehren,« sagte Herr von Zehren.

»Und Jochen?« flüsterte ich.

»Begleitet mich.«

»Nehmen Sie mich statt seiner,« sagte ich dringend.

»Es geht nicht,« erwiederte er, schon mit einem Fuße auf dem Tritt.

»Ich beschwöre Sie,« sagte ich, indem ich ihn an der Hand festhielt.

»Es geht nicht,« erwiederte er, »wir haben keine Minute zu verlieren. Gute Nacht! fort!«

Der Wagen rollte davon; die Hunde heulten und bellten; dann wurde es wieder still. Der alte Christian humpelte mit seiner Laterne über den Hof und verschwand in einem der Nebengebäude; ich stand allein vor dem Hause unter den sausenden Bäumen. Ein heftiger Regenguß entlud sich; ich schauderte zusammen und trat in das Haus zurück, dessen Thür ich sorgfältig verschloß.

In Herrn von Zehren's Zimmer war das Licht brennen geblieben; ich ging, es mir zu holen und zugleich meine Briefe, die dort noch auf dem Tische lagen. Indem ich sie zu mir nahm, erblickte ich auf dem Boden ein Papier. Ich hob es auf, zu sehen, was es sei. Auf dem Blatte standen nur wenige Worte, die ich durchlesen hatte, ehe ich wußte, was ich that, oder was ich las. Die Worte lauteten ungefähr so: Ich bin verloren, wenn Du mich nicht rettest. G. will die[136] Wechsel nicht prolongiren, St. ist unerbittlich; Wechselarrest und Cassation sind unvermeidlich. Ich gebe mich in Deine Hand, Du hast mich zu lange über Wasser gehalten, um mich jetzt ertrinken zu lassen. Auch ist der Augenblick möglichst günstig für die bewußte Partie. Ich kann und werde dafür sorgen, daß uns Keiner in die Karten sieht. Aber was geschehen soll, muß auf der Stelle geschehen. Ich habe das Spiel nicht immer in meiner Hand. Komm' sofort, ich beschwöre Dich bei dem, was Dir das Heiligste ist: Bei unserm alten Namen! Verbrenne dies sofort!

Das Blatt war nicht unterschrieben, aber ich kannte die Handschrift wohl; ich hatte sie oft genug in den Acten auf meines Vaters Arbeitstisch gesehen; ja ich hätte die Unterschrift unter diesen Brief setzen können, hatte ich sie doch oft genug mit sammt dem prahlerischen Schnörkel nachzuahmen versucht!

Der Brief mußte Herrn von Zehren vorhin entglitten sein, als er ihn mit den andern in die Tasche stecken wollte.

Ich hatte eben noch einmal hineingeblickt und noch einmal den wunderlichen Inhalt zu enträthseln versucht, als das Licht, das schon tief im Sockel gebrannt hatte, zu verlöschen drohte. – Verbrenne dies sofort!

Als ob mir eine Stimme von außen, der ich gehorchen mußte, diese letzten Worte des Briefes zugerufen hätte, hielt ich das Blatt in die erlöschende Flamme. Das leichte Blatt loderte auf, in demselben Augenblicke verlosch auch das Licht – noch ein paar eilende Feuerpünktchen zu meinen Füßen – dann war greifbare Finsterniß um mich her.

Ich tastete aus dem Zimmer heraus durch das Speisezimmer auf den Flur, die schmale Treppe hinauf in mein Gemach und warf mich, nachdem ich vergeblich nach den Zündhölzchen getastet, angekleidet auf mein Bett.

Aber vergebens, daß ich, mich auf meinem Lager wälzend, den Schlaf suchte. Jeden Augenblick schreckte ich voll Entsetzen empor, weil meine aufgeregten Sinne eine Menschenstimme, die um Hülfe rief, einen Schritt, der sich eilends nahte, zu vernehmen glaubten. Dann zermarterte ich wieder mein Gehirn, wie ich sie retten könnte, die geliebten Beiden, von dem Verderben, das meine Ahnung mir als nahe bevorstehend zeigte, das die Elemente schon als gegenwärtig mir in's Ohr zu donnern schienen, und fluchte meiner Unentschlossenheit, meiner Rathlosigkeit.[137]

Es war eine grauenhafte Nacht.

Ein fürchterliches Unwetter hatte sich aufgemacht, der Sturm raste um den alten Bau, daß er in seinen Grundfesten erbebte. Die Ziegel polterten vom Dache, die verrosteten Windfahnen kreischten, die Jalousien klapperten und die dritte von rechts machte wahnsinnige Versuche, heute von der letzten Angel, an der sie schon seit Jahren hing, endlich auch loszukommen; die Käuzchen in den Mauerlöchern schrieen jämmerlich und die Hunde winselten, während Guß auf Guß gegen die Fenster klatschte.

Es war, als ob das alte Herrenhaus von Zehrendorf wüßte, was seinen Bewohnern bevorstand, was ihm selbst bevorstand.

Quelle:
Friedrich Spielhagen: Sämtliche Werke. Band 1, Leipzig 1874, S. 125-138.
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