[193] An den äußeren Rand des Sumpfes, wo wir uns jetzt befanden, lehnte sich ein Bruch, aus welchem zwischen mehr oder weniger versumpften, mit langem Riedgras überwucherten tiefern Stellen dichte Gruppen von Erlen, Haseln und Weiden inselgleich hervorragten. Für einen Andern, der nicht wie Herr von Zehren jeden Fuß breit dieses schwierigen Terrains kannte, wäre es unmöglich gewesen, sich hier einen Weg zu suchen; aber der alte Jäger, der jetzt zum Fuchs geworden war, welchem die Hunde auf der Fährte folgten, irrte auch nicht einen Augenblick, weder über die einzuschlagende Richtung, noch über den pfadlosen Pfad, der uns durch diese Wildniß führte. Ich habe nachmals nie begreifen können, wie ein Mann in seinen Jahren, abgehetzt, wie er bereits war, und dazu verwundet – wie er mir später sagte – im Stande gewesen ist, so ungeheure Schwierigkeiten zu überwinden, an denen fast meine Jugendkraft erlahmte; und so oft ich später ein altes Rassepferd gesehen habe, das, zu Schanden geritten und gefahren, dennoch, sobald ihm das edle Blut erregt ist, durch sein Feuer, seine Kraft und Ausdauer die jugendlichen Concurrenten beschämt, habe ich immer an den wilden Zehren in dieser Schreckensnacht denken müssen. Er brach durch fast undurchdringliches Gestrüpp, als wären es Kornähren gewesen; er setzte wie ein Hirsch über die breitesten Gräben und hielt nicht eher inne in dem tollen Lauf, als bis wir aus dem Bruch heraus in die Dünen kamen.[193]
Hier verschnauften wir und hielten kurzen Rath, wohin wir uns jetzt wenden sollten. Rechts von uns lag Zanowitz. Hätten wir es ungehindert erreichen können, so würde uns gewiß einer oder der andere unserer Freunde über das Meer zu retten versucht haben, im schlimmsten Falle war ich Seemann genug, ein Segelboot allein regieren zu können; aber es war nur zu wahrscheinlich, daß das Stranddorf und seine Umgebung mittlerweile bereits von den Soldaten besetzt war, um die dorthin Entrinnenden aufzufangen. Zu versuchen, über die Haide zwischen Zehrendorf und Trantowitz in das platte Land zu einem der Freunde des Herrn von Zehren zu gelangen, wäre jetzt, wo von dem immer noch zunehmenden Brande der ganze Himmel geröthet war und zumal die Haide in Tagesklarheit getaucht sein mußte, offenbarer Wahnsinn gewesen. So blieb uns nur die Eine Möglichkeit: uns am Strande links zu halten, bis zum Vorgebirge, dort, in der Gegend der Ruine, das Kreideufer zu erklettern, um von hier aus in den Buchenwald des Parkes zu gelangen, der nur der letzte Ausläufer eines fast zwei Meilen langen, sich an der Küste hinziehenden Forstes war.
»Wenn ich nur bis dahin komme«, sagte Herr von Zehren; »mein Arm fängt an, mich sehr zu schmerzen.«
Jetzt erst erfuhr ich, daß er am Oberarme verwundet war. Er hatte es selbst im Anfang nicht gewußt, dann geglaubt, er habe sich an einen spitzigen Ast gestoßen, bis jetzt die zunehmenden Schmerzen unter dem stockenden Blut uns eines Andern belehrten. Ich bat ihn, mich nachsehen zu lassen; er sagte, wir hätten zu dergleichen keine Zeit, und ich mußte mich damit begnügen, ihm sein Taschentuch so fest ich konnte um den Arm zu binden, womit freilich nicht viel geholfen war.
Hier zwischen den Dünen war es auch, wo mir zum ersten mal einfiel, daß ich noch Munition in der Tasche habe, und wo ich auf Herrn von Zehren's Geheiß die Pistolen wieder lud. Mich durchzuckte es seltsam, als er mir die seinige reicht und ich das naßkalte Eisen berührte Aber es war kein Blut, obgleich es in dem rothen Dämmerlicht so schien; es war nur die Feuchtigkeit aus der regenschweren Luft.
Wir traten aus den Dünen heraus auf den Strand, um auf dem harten Sande schneller fortkommen zu können. Die Helligkeit war jetzt, wo vermuthlich der ganze Hof brannte, so groß, daß selbst über das Meer von dem Wiederschein der[194] rothangestrahlten Wolken ein mattes Purpurlicht ausgegossen war. Ja, auch die hohen, steilen Kreideufer, unter denen wir etwas später dahin schritten, blickten in geisterhaft hellem Schein auf uns herab. Es lag etwas sonderbar Unheimliches darin, trotz der bedeutenden Entfernung, in welcher wir uns von der Brandstätte befanden, trotzdem Berg und Wald dazwischen lag, trotzdem wir unmittelbar unter dem Schutze der mehr als hundert Fuß hohen steilen Uferwand dahinschritten, immer noch von dem Lichte getroffen zu werden, als hätte, was geschehen, die Erde dem Himmel und der Himmel dem Meere gesagt, und Erde, Himmel und Meer riefen uns zu: Für Euch gibt es kein Entrinnen!
Den unglücklichen Mann an meiner Seite mußte dieselbe Empfindung beherrschen; er sagte ein paar mal, als wir die Schlucht hinaufkletterten, in welcher vom Strande nach der Uferhöhe zwischen dichtem Gebüsch ein steiler Pfad emporführte: »Gott sei Dank, hier wenigstens ist es dunkel.«
Er hatte während des Aufkommens wieder über seinen Arm geklagt, der ihm heftige Schmerzen verursache, und zuletzt kaum noch weiter gekonnt, trotzdem ich ihn stützte, so viel ich vermochte. Ich hoffte, daß, wenn wir nur erst oben angelangt wären und er sich ein wenig erholt hätte, seine Kraft, von der er noch eben so ungeheuere Proben gegeben, wiederkehren würde; aber in dem Augenblicke, als wir die Höhe des Plateau erreichten, brach er in meinen Armen zusammen. Zwar raffte er sich sofort wieder auf und erklärte, es sei nur eine momentane Schwäche gewesen und der Anfall vorüber; dennoch konnte er sich kaum auf den Füßen halten, und ich war froh, als ich ihn endlich bis zur Ruine geführt hatte, wo eine halb verschüttete kellerartige Vertiefung zwischen dem Mauerwerk wenigstens einen Schutz vor dem Ostwinde gewährte, der scharf und kalt über den ebenen Rücken des Vorgebirges strich.
Hier bat ich ihn, sich niederzusetzen, bis ich im Stande gewesen sein würde, aus der Schlucht, wo in der Hälfte der Höhe ein ziemlich reichlicher Quell zum Meere floß und wo wir bereits beim Heraufsteigen einen kurzen Halt gemacht hatten, abermals Wasser zu holen, nach welchem er ein brennendes Verlangen äußerte. Glücklicherweise hatte ich am Morgen, um mich gegen den Regen zu schützen, den wachsüberzogenen Schifferhut, mit dem ich nach Zehrendorf gekommen[195] war, und den ich seitdem, da er Konstanze so entschieden mißfiel, nicht wieder getragen hatte, aufgesetzt. Der Hut mußte mir jetzt als Wassereimer dienen, und ich war glücklich, als es mir, obwohl nicht ohne einige Mühe, gelang, ihn bis an den Rand zu füllen. So schnell ich, ohne die kostbare Beute zu verschütten, konnte, eilte ich zurück, das Herz schwer von Sorge um den Mann, zu welchem in dem Maße, als das Unglück über ihn mit so fürchterlichen Schlägen hereinbrach, mich mein Herz gewaltiger als je zuvor zog. Was sollte aus ihm werden, wenn er nicht bald wieder im Stande war, die Flucht fortzusetzen? Nach dem, was am Sumpfesrande geschehen, würde man sicher alles aufbieten, unser habhaft zu werden, und daß man über eine hinreichende Anzahl von Leuten verfügen konnte, war nur zu gewiß. Die zweite Furt war mit Militär besetzt gewesen; ich hatte es deutlich gesehen. Wie lange konnte es dauern, bis sie auch bis hierher kamen? Wollten wir entrinnen, mußten wir, bevor der Morgen kam, mindestens ein paar Meilen von hier entfernt sein, und ich dachte mit Schaudern an sein zweimaliges Zusammenbrechen in meinen Armen und an die wirren Worte, in denen er mich um Wasser gebeten hatte: »das nicht brennen dürfe, das ja nicht brennen dürfe.« Vielleicht erholte er sich, nachdem er getrunken; ich hatte einen so festen Glauben an die Unverwüstlichkeit seiner Kraft!
So suchte ich mir selbst Muth einzusprechen, als ich mich vorsichtig-eilig mit dem Wasser im Hute der Ruine nahete und, aus Furcht zu straucheln, kaum einen Blick nach der Richtung zu werfen wagte, von der die Flammen über den Buchenwald zu uns heraufleuchteten. Schon ans einiger Entfernung glaubte ich Herrn von Zehren's Stimme zu hören, die meinen Namen rief, dann ertönte ein gelles Lachen, und wie ich voller Entsetzen herzusprang, sah ich den Unglücklichen in dem Eingange der Mauerhöhle stehen, das Gesicht dem Feuer zugewendet, indem er heftig mit dem gesunden Arme gesticulirte und bald Verwünschungen ausstieß, bald gell auflachte, oder nach Wasser rief, das nicht »brennen dürfe«. Ich schleppte ihn wieder tiefer zwischen das Mauerwerk, und es gelang mir, ihm aus dem Haidekraut, das dort oben reichlich wuchs, und über das ich dann meinen Rock deckte, eine Art Lager zurecht zu machen; endlich trank er auch, als er aus einer kurzen Ohnmacht, in die er gefallen, zu sich kam, reichlich[196] von dem Wasser. Er dankte mir mit einer Stimme, deren weicher Ton wunderlich gegen das gelle Kreischen von vorhin abstach und mich sehr rührte.
»Es war mir«, sagte er, »als hättest Du mich auch verlassen und ich müßte hier elend verenden, wie ein waidwunder Hirsch. Es ist doch seltsam, daß der letzte Zehren, der den Namen zu tragen verdient, hier von der uralten Burg seiner Väter, die in Trümmern liegt, sehen muß, wie das Haus, das spätere Geschlechter gebaut haben, in Flammen aufgeht. Wie mag das Feuer nur ausgekommen sein? Was denken Sie? Ich habe Dich überhaupt so viel zu fragen (er nannte mich Sie und Du durcheinander); aber mir ist so wunderlich zu Muthe, es gehen mir so seltsame Dinge durch den Kopf, so war mir noch nie, und dabei schmerzt mich der Arm mehr als billig. Ich glaube, es ist aus mit dem wilden Zehren, ganz aus, ganz aus! Laß mich hier liegen, Georg, und ruhig verenden. Wie lange wird es dauern, dann frißt das Feuer sich in dem unterirdischen Gang bis hierher durch und die alte Zehrenburg fliegt in den Mond!«
So spielte in seinem überreizten Gehirn Vernunft mit dem Wahnsinne ein schauerliches Spiel. Bald sprach er zusammenhängend und klar über das, was wir zu thun haben würden, sobald er sich nur erst einigermaßen erholt hätte; dann sah er plötzlich Jochen Swart vor sich auf dem Boden liegen, und dann war es wieder nicht Jochen, sondern Alfonso, der Bruder seiner entführten Geliebten, dem er das Schwert durch's Herz gestoßen. Aber – ich habe später, wenn ich über den Charakter des seltsamen Mannes nachsann, oft genug daran gedacht – diese grausigen Erinnerungen des Fieberkranken waren keineswegs von Worten begleitet, die irgendwie die Reue des Mannes über seine Thaten auch nur angedeutet hätten. Im Gegentheil, es war ihnen recht geschehen und Jedem sollte es so geschehen, der gegen ihn aufzutreten wagte. Wenn sie ihm das Haus angezündet hatten, so sollten auf Meilen in der Runde alle Schlösser und Dörfer brennen! Er wolle doch sehen, ob er seine Vasallen nicht abstrafen könne, wie es ihm recht dünke, wenn sie sich so freventlich gegen ihn vergangen! Züchtigen wolle er sie, bis sie um Gnade heulten! – Diese und ähnliche Aeußerungen eines Selbstgefühls, welches die Gluth des Fiebers, das in seinen Adern brannte, bis zum Wahnsinn gesteigert hatte, stachen schauerlich ab von[197] dem grenzenlosen Elend unserer Lage. Während er durch Dörfer, die sein Zorn in Flammen auflodern ließ, zu jagen glaubte, wurden seine Glieder von Fieberfrost geschüttelt und seine Zähne klappten hörbar auf einander. Auch mich hatte die Kälte, welche jetzt, wo es auf den Morgen ging, immer empfindlicher wurde, bis in's Mark getroffen, und dabei, so oft der Unglückliche, dessen Kopf auf meinem Schooß ruhte, nur einen Augenblick zu rasen aufhörte, sank mein eigener Kopf vornüber oder seitwärts gegen das kalte Mauerwerk, an dem ich lehnte, und mit immer qualvollerer Anstrengung kämpfte ich gegen die Müdigkeit, die mit bleierner Schwere auf mir lag. Was sollte aus uns werden, wenn mich die Kraft verließ? Ja, was sollte auch jetzt nur aus uns werden? Denn so konnte es nicht bleiben; ich mußte fürchten, daß er mir unter den Händen starb, wenn ich keine Hülfe herbeischaffte. Und doch, wie sollte ich Hülfe schaffen, ohne ihn preiszugeben, ohne ihn unsern Verfolgern auszuliefern? Und wie konnte ich ihn überhaupt verlassen, der sich jetzt das Haupt an der Mauer zerschellen, jetzt das Meer austrinken wollte, den Durst zu löschen, der ihn verzehrte!
Ich hatte während der Nacht den Weg zur Quelle noch mehrmals gemacht; Herr von Zehren war mir, wenn ich zurückkam, immer sehr dankbar gewesen, wie er denn überhaupt, je näher die Nacht dem Morgen kam, ruhiger geworden war, so daß ich mich schon der Hoffnung hingab, wir würden trotz alledem bald aufbrechen können. Endlich mußte ich doch, von der ungeheuren Ermattung überwältigt, eingeschlafen sein und längere Zeit geschlafen haben, denn als ich vor der Berührung einer Hand, die sich auf meine Schulter legte, emporfuhr, dämmerte bereits das Zwielicht in die Mauerhöhle. Herr von Zehren stand vor mir; ich blickte ihn mit Entsetzen an. Jetzt erst sah ich, was er in der Schreckensnacht gelitten hatte. Sein sonst so frisches, braunes Gesicht erdfahl, die großen glänzenden Augen tief in die Höhlen gesunken und wie gebrochen, der volle Bart zerzaust, die Lippen bleich, die Kleider zerrissen und mit Schmutz und Blut besudelt – es war nicht mehr der Mann, den ich gekannt, es war das Gespenst dieses Mannes, ein schauerliches Gespenst.
Und jetzt zuckte um seine bleichen Lippen ein seltsames Lächeln, in dem doch noch eine Spur der alten Liebenswürdigkeit war, wie ein Etwas von der einstigen Heiterkeit in[198] dem Klange der Stimme, mit der er sagte: »Es thut mir leid, armer Junge, daß ich Dich wecken mußte, aber es ist die höchste Zeit.«
Ich sprang auf die Füße und zog mir den Rock an, den er mir sorgsam über die Schulter gedeckt hatte.
»Das heißt, es ist Zeit für Dich«, sagte er.
»Wie das?« fragte ich erschrocken.
»Ich würde nicht weit kommen«, fuhr er mit düsterm Lächeln fort: »ich habe eben eine kleine Probe gemacht; aber es ist unmöglich.«
Und er setzte sich auf einen Mauervorsprung und stützte den Kopf in seine rechte Hand.
»So bleibe ich auch«, sagte ich.
»Man wird uns bald genug hier oben aufgefunden haben.«
»Um so mehr werde ich bleiben.«
Er hob den Kopf.
»Du bist ein großmüthiger Narr«, sagte er mit melancholischem Lächeln, »einer von denen, die ihr Leben lang Amboß bleiben. Was in aller Welt hätte ich davon, daß sie Dich mit mir fingen? und weshalb wolltest Du Dich fangen lassen? weshalb wolltest Du die Partie verloren geben? Bist Du auf nichts reducirt, auf weniger als nichts? Bist Du ein alter angeschossener Fuchs, den man zum Bau hinausgebrannt hat und dem die Hunde auf der Fährte sind? Mach', daß Du fortkommst, und laß mich nicht so lange bitten, denn das Sprechen wird mir schwer. Leb' wohl!«
Er reichte mir eine eiskalte Hand, die ich festhielt, indem ich mit Thränen in den Augen rief:
»Wie können Sie das von mir verlangen? Ich wäre der erbärmlichste Schuft, wenn ich Sie so verlassen könnte; mag geschehen was will, ich bleibe.«
»Ich will, daß Du gehst – ich befehle es Dir!«
»Das können Sie nicht; Sie müssen selbst fühlen, daß Sie das nicht können. Sie können mir nicht befehlen, mich mit Schande zu bedecken.«
»Nun denn«, sagte er, »so will ich Dir gestehen: es ist ein Zufall, daß ich nicht fort kann; aber wenn ich auch im Stande wäre, zu fliehen, ich wollte es nicht und will es nicht. Ich will nicht, daß man Steckbriefe hinter mir her schreibt wie hinter einem Vagabunden, daß man mich durch's Land hetzt wie einen gemeinen Verbrecher. Ich will sie hier erwarten,[199] hier, wo meine Vorfahren so manchen Angriff der Krämer zurückgeschlagen haben; ich will mich wehren bis auf's Aeußerste; sie sollen mich nicht lebendig von diesem Platze bringen. Ich weiß nicht, was ich thäte, wenn ich ganz allein stünde. Wahrscheinlich wäre dann dies Alles nicht geschehen. Ich habe die Dummheit, meinem Bruder aus der Noth helfen zu wollen, theuer bezahlt. Und dann habe ich eine Tochter; ich liebe sie nicht, so wenig, wie sie mich; aber gerade deshalb soll sie mir nicht nachsagen können, ihr Vater sei ein Feigling gewesen, der nicht zur rechten Zeit zu sterben wußte.«
»Denken Sie nicht an Ihre Tochter!« rief ich außer mir. »Sie hat das Band zerrissen, durch das Sie sich noch mit ihr verbunden wähnen.« Und ich erzählte ihm in kurzen, fliegenden Worten Konstanzens Flucht.
Es war meine Absicht gewesen, koste es, was es wolle, ihm jeden Vorwand zu entreißen, den er anführen konnte, um nicht das zu thun, was er für eines Zehren's unwürdig hielt. Es war gewiß sehr unüberlegt, ihm dies in diesem Augenblicke zu sagen; aber meine Menschenkenntniß die heute noch nicht eben groß ist, war damals sehr gering; auch war mein Kopf zerrüttet von dem Graus der letzten sechsunddreißig Stunden und der Angst um den unglücklichen Mann, der da vor mir saß.
Und ich schien meine Absicht erreicht zu haben. Er stand auf, als ich meine kurze Erzählung beendigte, und sagte ruhig: »Steht es so mit mir? Bin ich ein Landstreicher und ist meine Tochter eine Dirne – eine Dirne, die sich just dem Manne an den Hals geworfen hat, dessen Hand sie nicht berühren kann, ohne mich zu entehren – nun denn, so darf ich ja wohl auch thun, was andere Leute an meiner Stelle thäten! Aber vorher hole mir noch einen Trunk, Georg! Er wird mich erquicken, und ich darf nicht sobald wieder zusammenbrechen. Geh!«
Ich ergriff den Hut, froh, daß ich ihn endlich überredet. Als ich schon ein paar Schritte gemacht hatte, rief er mich nochmals zurück.
»Sei nicht böse, Georg«, sagte er, »daß ich Dir so viel Mühe mache – habe Dank für Alles!«
»Wie mögen Sie nur so reden«, sagte ich. »Treten Sie aus dem kalten Zugwind; ich bin in fünf Minuten wieder hier.«[200]
Ich sprang davon. Es war keine Zeit zu verlieren; schon legte sich im Osten ein heller Streifen über den andern; die Sonne mußte in einer halben Stunde aufgehen. Ich hatte gehofft, um diese Zeit Meilen von hier im tiefsten Walde zu sein.
Die Quelle in der Schlucht war bald erreicht; doch es kostete mir Mühe, den Hut zu füllen; ich hatte in der Nacht das Erdreich zertreten, Steine waren herabgerollt und hatten den Mund der Quelle verstopft. Als ich mich bückte, das Hinderniß wegzuräumen, drang ein dumpfer Knall zu meinem Ohr. Ich stutzte und fühlte unwillkürlich nach der Pistole, die noch in meinem Gürtel stak. Die andere war bei ihm zurückgeblieben! War es möglich? konnte es sein? Er hatte mich weggeschickt!
Ich war nicht im Stande, abzuwarten, bis das Wasser wieder floß: ich mußte zurück. Wie ein gehetzter Hirsch setzte ich die Schlucht hinauf, lief über das Plateau zur Ruine.
Es war geschehen.
Auf derselben Stelle, wo ich ihn zuletzt gesehen, wo ich ihm zuletzt die Hand gedrückt, hatte er sich erschossen. Der Pulverdampf schwebte noch in der Mauerschlucht. Die Pistole lag neben ihm; sein Kopf war seitwärts an die Mauer gesunken. Er athmete nicht mehr – er war todt. Der wilde Zehren wußte, wo ein Schuß treffen muß, wenn er tödlich sein soll.
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