[14] Ein grauer Nebelmorgen folgte der kalten, windigen Nacht. Es war sechs Uhr, als die »Elisabeth« den Hafen verließ; ich war seit drei Uhr an der Feuerung beschäftigt gewesen. Die Arbeit war mir schnell von Statten gegangen und ich hatte der Unterweisung des brummigen, schwerfälligen Maschinenmeisters kaum bedurft. Ich mußte ein paar Mal unwillkürlich lächeln, als der Mann, wenn ich, ohne ihn zu fragen, diesen oder jenen Dienst an der Maschine selbstständig ausführte, mich mit halb ärgerlichen, halb verwunderten Blicken anstarrte. Ich hatte ihm gesagt – und das war der Wahrheit gemäß – ich sei ganz neu in diesem Dienst; aber ich hatte ihm nicht gesagt, und ihn ging es ja auch nichts an, daß ich in dem Unterricht bei meinem unvergeßlichen Lehrer über das Wesen einer Schiffs-Dampfmaschine vollkommen unterrichtet war und die einzelnen Theile derselben an einem vortrefflichen Modell bis in die kleinsten Einzelheiten studirt hatte. Und lernte ich so den Dienst eines Feuermannes binnen wenigen Stunden regelrecht versehen, so dauerte es kaum so lange, bis ich auch das Aussehen eines[14] regelrechten Feuermannes hatte. Um meinen einzigen Anzug zu schonen, hatte ich mich desselben zum Theil entledigt, und es mir in einer Arbeitsblouse meines verunglückten Vorgängers bequem gemacht. Die Blouse paßte vollkommen – ein Beweis, daß, wenn meine Körpergröße ein Naturfehler war, wie mir nur zu oft vorkam, ich mich wenigstens in diesem meinem Unglück eines Leidensgefährten erfreute. Dazu das Hantiren mit den Kohlen, und die Wirkung eines Rauchstromes, der mir beim Anheizen zehn Minuten lang aus dem widerspenstigen Ofen über das Gesicht gestrichen war – selbst mein Freund, der Doctor Snellius, welcher sich auf sein physiognomisches Gedächtniß so viel zu Gute that, würde mich nicht erkannt haben.
Das war mir freilich jetzt sehr gleichgültig – ich hatte glücklicher Weise andere Dinge in den Kopf zu nehmen.
Glücklicherweise! Denn in meinem Kopfe sah es übel aus, und noch übler in meinem Herzen. Der Tod des Vaters, der aus dem Leben geschieden war, ohne daß ich ihm noch einmal die strenge, gute Hand hätte drücken können, – die Begegnung mit der Schwester, die ihre Kinder vor mir in Sicherheit bringen zu müssen glaubte, – der Gedanke an die Zukunft, die um so dunkler vor mir lag, je länger ich Zeit gehabt hatte, darüber nachzudenken, was in dieser Zukunft aus mir werden solle, – das Alles würde mich für den Moment vollständig niedergedrückt haben, wäre da vor mir der brave Ofen nicht gewesen, in dem die Kohlen so prächtig glühten, und die Flammen so lustig tanzten, und die wackere Maschine, die rastlose, unermüdlich arbeitende. Nur die Arbeit kann uns frei machen, hatte mir mein Lehrer gesagt, die freie Arbeit! Ich hatte es ihm auf's Wort geglaubt, aber ich begriff es doch eigentlich erst heute, als ich fühlte, wie von der tüchtigen Arbeit, der ich hier obzuliegen hatte, die Last auf meinem Herzen leichter und leichter, und die Wolken vor meiner Stirn lichter und lichter wurden. Ja, es kam ordentlich ein freudiger Stolz über mich, daß ich mich hier unten wie zu Hause fand; und ich dachte jenes Tages vor acht Jahren, als ich die verhängnißvolle Fahrt auf dem »Pinguin« machte, meinen Freund Klaus im Maschinenraum besuchte, und meinem weinerhitzten Gehirn die Maschine wie ein Ungeheuer vorgekommen war, das mir zu nichts gut schien, als sich von ihm zermalmen zu lassen.[15] Der gute Klaus! Er hatte damals seine liebe Noth mit mir gehabt und viel schwere Sorge; und etwas Noth und Sorge würde ich ihm auch jetzt wohl wieder machen, wenn ich zu ihm kam, um mit seiner Hülfe ein tüchtiger Arbeiter zu werden. Etwas Sorge – nicht viel; ich hatte heute Morgen erfahren, daß ich fester auf den eigenen Füßen stehen könne, als ich je geglaubt.
Oder auch als mein augenblicklicher Vorgesetzter, der bärtige Maschinenmeister, auf den seinigen. Er stand gar nicht fest, der brave Mann. Die verquollenen Augen, der verschlafen überwachte Ausdruck seines nichts weniger als schönen Gesichtes, das unfeine Parfüm von Alkohol, welches er um sich verbreitete, ließen unschwer errathen, daß sein schwankender Gang durch das Schaukeln des Schiffes nicht allein bedingt wurde. Er war nicht betrunken, der würdige Mann – ein ordentlicher Maschinenmeister betrinkt sich nicht, selbst wenn er bis um zwei Uhr Morgens mit seinen Collegen vom schwedischen Postschiff in der Hafenkneipe gesessen und schwedischen Punsch getrunken hat – aber nüchtern war er auch nicht, gewiß nicht nüchtern, so wenig, daß ich jetzt meinerseits meinen Vorgesetzten mit mißtrauischen Blicken zu beobachten begann, wenn er, an der Steuerung der Maschine stehend, über die Güte des schwedischen Punsches in tiefe Nachdenklichkeit versank, die einem ruhigen Schlummer manchmal auffallend ähnlich sah.
»Eine Wärmplatte, Herr Weiergang, schnell nach dem Verdeck!« rief der Steward in den Maschinenraum hinab. Herr Weiergang nickte, nickte zu mir herüber; es war eine Sache, die mich speciell anging. Und ich wußte, um was es sich handelte. War ich doch oft genug auf Dampfschiffen gefahren bei rauhem Wetter, wenn das Stampfen des Schiffes in den Wellen den Aufenthalt in der Cajüte für Damen, die zur Seekrankheit geneigt, unmöglich und der scharfe Nordost und das Spülwasser das Verweilen auf dem Deck unlieblich, ja unerträglich machen. Ganz unerträglich, wenn der brave Heizer nicht wäre, der mit den auf dem Kessel heiß gemachten, eigens zu dem Zweck gegossenen Eisenplatten kommt, um dieselben den Frierenden dienstfertig unter die Füße zu schieben.
Heute nun war ich der brave Heizer! Es kam mir etwas wunderlich vor; ich hatte solchen Dienst im Leben nie[16] geleistet, nie geträumt, daß ich solchen Dienst jemals würde leisten müssen. Müssen? Mußte ich denn? Ja, ich mußte; ich hatte das Amt des kranken Mannes übernommen, und dies gehörte zu seinem Amt, folglich mußte ich es; und nach fünf Minuten erschien ich auf dem Deck, ein wohldurchhitztes Eisen in den mit Werg verwahrten Händen tragend.
Es war schon gegen Mittag und das erste Mal, daß ich auf Deck kam. Die Luft war grau und dick, man konnte kaum ein paar hundert Schritt vor sich sehen. Der Wind war contrair, so daß, obgleich er nicht heftig wehte, das Schiff doch mächtig stampfte, und ein kalter Sprühregen von den am Bug zerstiebenden Wellen fortwährend über uns weg fegte.
Das Deck war beinahe leer, wenigstens schien es so, da sich die zehn oder zwanzig Passagiere in alle Winkel hinter den Radkasten, den Kajütenhäusern, und wo immer sonst eine vorspringende Ecke einen kleinen Schutz gewährte, zusammengedrückt hatten.
»Hierher, guter Freund, hierher!« rief eine Stimme, die mir wohl bekannt schien, und, mich umwendend, hätte ich beinahe vor Schreck die heiße Platte fallen lassen. Da stand ein Mann, der, wenn er auch jetzt einen grauen, altmodischen Ueberzieher mit hochgepufften Aermeln über den blauen Frack mit den goldenen Knöpfen gezogen hatte und die Mütze diesmal nicht wie sonst, weit aus der Stirn, sondern tief in die Augen gedrückt trug, niemand anders sein konnte, als mein alter Freund und Duzbruder, der Commerzienrath Streber.
»Hierher, guter Freund!« rief er noch einmal und deutete mit der rechten Hand – mit der linken hielt er sich krampfhaft an der Ankerwinde fest – auf eine weibliche Gestalt, die, mir den Rücken zukehrend, beinahe auf der äußersten Spitze des Vorderdecks hinter dem hoch aufgestapelten Ankertau auf einem niedrigen Sessel kauerte. Die Gestalt zog den großcarrirten, weichgefütterten Mantel fester um die schlanken Hüften und wandte das von einer mit Schwanendaun gefütterten Kapuze eingerahmte Gesicht zu mir hin.
Es war ein holdes, süßes Mädchengesicht, auf dessen Wangen der Meerwind das zarte Rosa zu einem energischen Roth aufgeküßt hatte und dessen tiefblaue, glänzende Augen gar seltsam und lieblich mit dem grauen Wasser und der[17] grauen Luft contrastirten. Sieben Jahre waren es, daß ich dies Gesicht nicht gesehen hatte. Aus dem Kinde war eine Jungfrau geworden, aber die Jungfrau hatte noch das Gesicht oder doch wenigstens den Mund und die Augen des Kindes, und an diesem Mund, an diesen Augen erkannte ich sie. Ich stutzte unwillkürlich und mußte die Eisenplatte, die jetzt durchaus auf das nasse Deck fallen wollte, sehr fest halten, und zum Ueberfluß fühlte ich, wie mir das Blut stromweis in die Wangen schoß. Es war doch ein verzweifeltes Ding, in diesem Aufzug und mit diesem rußbedeckten Gesicht vor meine kleine Jugendfreundin zu treten.
Aber dieser Aufzug und die Rußdecke waren mein Glück; sie blickte ein wenig erstaunt zu mir empor, ohne mich zu erkennen.
»So, guter Freund,« sagte sie, »hier legen Sie sie hin!« und sie lehnte sich in den Sessel zurück, hob das Kleid ein wenig, und die zwei niedlichsten Füßchen von der Welt, die sich ängstlich von den nassen Planken des Verdecks auf den Hacken hoben, wurden für einen Augenblick sichtbar.
Ich kniete nieder und that meine Schuldigkeit, nicht mehr und nicht weniger; vielleicht ein bischen weniger, als mehr, denn sie sagte: »Sie können mir hernach noch eine bringen, wenn Sie einmal mehr Zeit haben; jetzt scheinen Sie keine zu haben.«
»Ja, bringen Sie gleich noch eine – für mich,« schrie der Commerzienrath.
»Für mich auch, wenn ich bitten darf!« rief eine dünne Stimme aus einer Ecke zwischen dem Cajütenhaus und dem Vordermast, wo aus einem halben Dutzend Shawls und Tüchern eine rothe Nasenspitze hervorblickte und eine vom Wind gepeitschte, dünne, gelbe Locke flatterte, die Niemand sonst gehören konnte, als Fräulein Amalie Duff.
»Mir auch! mir auch!« schrieen ein halbes Dutzend anderer Stimmen ähnlich eingehüllter Wesen, die mit der Schnelligkeit der Verzweiflung die Vortheile einer heißen Eisenplatte auf einem nassen Verdeck begriffen hatten.
»Mir aber zuerst,« schrie der Commerzienrath, dem bei dieser Concurrenz bange wurde. »Sie wissen doch, wer ich bin!«
Ich hielt nicht für nöthig, den Herrn Commerzienrath zu vergewissern, daß er mir nur zu gut bekannt sei, und eilte,[18] von dem Verdeck wegzukommen, wo es mir heißer gewesen war, als vor meinem Ofen.
Ich langte unten in einer grenzenlosen Verwirrung an und der Gedanke, jetzt wieder auf Deck zu müssen, trieb mir den Angstschweiß vor die Stirn; aber wenn ich es recht überlegte, war es nur eine Regung ganz gewöhnlicher Eitelkeit. Ich wollte nicht als das russige Ungeheuer vor dem schönen Mädchen erscheinen, das war es und weiter nichts, und dabei stand ich vor dem Kessel, auf welchem die Platten schon längst den nöthigen Wärmegrad erreicht hatten, und der Steward hatte schon dreimal hinabgerufen, ob ich denn noch nicht mit dem verdammten Eisen fertig sei?
»Pfui, Georg, schäme dich!« sagte ich zu mir selbst, »die armen Dinger oben frieren, weil du in einer zerrissenen Blouse steckst und vielleicht ein paar Rußflecken auf dem Gesicht hast. Schäme dich!«
Und ich schämte mich und stieg die Leiter wieder hinauf, muthigen Schrittes auf den Platz zu, wo die arme, halberfrorene Gouvernante in ihren feuchten Gewändern kauerte. Sie blickte, ihre wasserhellen Augen erhebend, mit dem Ausdruck hilflosen Jammers zu mir empor und sagte, während ihr die Zähne vor Kälte klapperten: »Sie guter Mensch, Sie sind mein Retter!«
»Warum bleiben Sie nicht in der Cajüte?« fragte ich und ich hätte gar nicht platt zu sprechen und meine Stimme zu verstellen brauchen, welche der scharfe Nordost und die Verlegenheit ganz außergewöhnlich rauh und tief machten.
»Ich würde unten sterben,« wimmerte die Aermste.
»So setzen Sie sich wenigstens dort drüben an den Radkasten in den Ueberwind; Sie haben hier den schlechtesten Platz auf dem ganzen Deck.«
»O, Sie Guter,« sagte die Gouvernante; »so ist es doch eine ewige Wahrheit, daß in allen Zonen gute Menschen wohnen.«
Ich mußte mich auf die Lippe beißen.
»Kann ich Ihnen behilflich sein,« sagte ich, »wenn Sie sich vor meinem Arbeitskittel nicht scheuen –«
»Unter Larven die einzig fühlende Brust,« murmelte die Gouvernante, indem sie sich an meinen Arm klammerte.
»Wohin willst Du, liebe Duff?« rief eine fröhliche Stimme hinter uns her, und Hermine, die aufgesprungen[19] war, kam schnell herbei, vermuthlich, um ihrer Erzieherin behilflich zu sein; aber, wenn sie diese Absicht gehabt hatte, konnte sie vor Lachen nicht zur Ausführung derselben kommen. Sie klatschte in die Hände und lachte, daß die weißen Zähne durch die rothen Lippen schimmerten. »Pluto und Proserpina!« rief sie. »Duffchen, Duffchen, ich hab' es ja immer gesagt, daß sie Dich mir einmal entführen werden.«
Und sie tanzte auf dem nassen Deck herum in toller Ausgelassenheit, wie sie vor acht Jahren mit ihrem Wachtelhund auf dem sonnebeschienenen Deck des »Pinguin« herumgetanzt war.
»Nun kommen Sie endlich zu mir, Sie da!« rief der Commerzienrath, der, in eine Ecke gedrückt, mit mißmuthigen Blicken meinen Bemühungen um die Gouvernante zugesehen hatte.
»Es sind noch ein paar Damen da,« sagte ich.
»Aber ich habe es zuerst gesagt!« rief er und stampfte ungeduldig mit beiden Füßen.
»Damen gehen immer vor, Herr Commerzienrath,« sagte lächelnd der Kapitän, der eben von dem Vorderdeck an uns vorüberkam.
»Sie haben gut reden; Sie sind diese schändliche Kälte gewohnt;« schrie der Commerzienrath.
Ich war wieder nach unten gegangen, ohne dort lange bleiben zu dürfen. Der Ruf nach Wärmplatten war ein allgemeiner geworden, und ich hatte meine liebe Noth, so dringenden, von allen Seiten ausgesprochenen Wünschen nachzukommen. Dabei wurde das Wetter rauher und rauher und der Nebel dichter und dichter; ich bemerkte, daß das joviale Gesicht des Capitains immer ernster und ernster dreinblickte und hörte ihn einmal im Vorübergehen zu einem Passagier, der ohne Zweifel auch ein Seemann war, sagen: »Wenn wir nur erst durch das verdammte Fahrwasser hier wären. Bei dem Wind können die größten Schiffe hereinkommen, und man kann keine hundert Schritte mehr vor sich sehen.«
Ich verstand genug von der Schifffahrt, um die Besorgnisse des Capitains vollkommen zu begreifen, und dabei hatte ich noch meine Sorge für mich.
Mein Vorgesetzter nämlich, der Maschinenmeister Weiergang, war offenbar nach jeder Stunde tiefer in das Nachdenken über die unmittelbaren und nachträglichen Folgen des reichlichen[20] Genusses von schwedischen Punsch versunken, und, obgleich er noch immer mechanisch seinen Posten behauptete, und den Dienst an der Maschine verrichtete, an welcher es jetzt, wo das Schiff gleichmäßig im Gang war, wenig genug zu thun gab, so verließ ich doch jedesmal den Maschinenraum mit einiger Unruhe. Wie leicht konnte bei der Enge des Fahrwassers, in welchem wir uns eben befanden, ein complicirtes Manöver nöthig werden, und war die nickende Gestalt an dem Steuerhebel dann im Stande dieselbe auszuführen?
Ich war eben wieder mit einer Platte auf Deck, welche noch dazu für Niemand anders bestimmt war, als für die blauäugige, übermüthige Schöne. Sie hatte ihren alten Platz am Bugspriet wieder eingenommen, und nickte mir freundlich entgegen, als ich herantrat.
»Ich mache Ihnen viel Mühe,« sagte sie.
»Es ist gern geschehen,« erwiederte ich, indem ich mich bückte.
»Sie sind aus Uselin?« fragte sie weiter, als ich das Eisen zurecht rückte.
»Nein,« murmelte ich, im Begriff, mich eilig zu entfernen.
»Aber Sie sprechen ja unser Platt,« sagte sie eifrig und sah mich mit einem erstaunt prüfenden Blick an.
Ich fühlte, daß die Rußdecke auf meinem Gesicht sehr dick sein mußte, wenn sie die Gluth, die mir in die Wangen schoß, verdecken wollte.
»Schiff in Sicht!« rief plötzlich der Mann auf der Vortoprae.
Eine große dunkle Masse schwebte uns aus dem grauen Dunst entgegen. Ein Schrecken – nicht für mich! – durchrieselte mich; auch ich schrie mit der ganzen Kraft meiner Stimme: »Schiff in Sicht!« und stürzte dann, einer blitzschnellen Regung folgend, in weiten Sätzen über das Verdeck nach der Luke zu dem Maschinenraum, – während der Kapitain auf dem Radkasten wie toll: »Stop! Rückwärts!« in das Sprachrohr hineinrief, ein Commando, das offenbar nicht befolgte wurde, denn das Schiff schoß mit unverminderter Geschwindigkeit durch die Wellen.
Wie ich die steile Leiter hinabgekommen bin, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, daß ich, dem trunkenen Maschinenmeister einen Stoß versetzend, den Steuerhebel auf die andere Seite schlug, indem ich zu gleicher Zeit das Ventil öffnete, um vollen Dampf zu geben.
Ein gewaltiger Ruck erfolgte, das ganze Fahrzeug erzitterte[21] wie in Todesangst, und arbeitete in den Strudeln, welche von den nun rückwärtsschlagenden Rädern aufgewühlt wurden. Mein Stoß und vielleicht noch mehr die gewaltsame Erschütterung des Schiffes hatten den Trunkenen erweckt. In seiner Verwirrung mochte er sich die Situation, ich weiß nicht wie, fälschlich deuten, denn er stürzte wie ein Wahnsinniger auf mich zu, mich von der usurpirten Stelle zu verdrängen, so daß ich Mühe hatte, ihn von mir abzuwehren.
Es war eine fürchterliche Minute, während welcher ich in jeder Secunde zehnmal den Zusammenstoß der beiden Schiffe erwartete.
Aber die Minute ging vorüber und mit der Minute die Gefahr, denn länger hätte nach meiner Berechnung der Zusammenstoß nicht ausbleiben können, und jetzt erschallte auch durch das Sprachrohr das Commando: »Stop!«
Ich stellte den Steuerhebel in die Mitte und schloß das Ventil. Meine prompte Ausführung eines Commandos, das er deutlich gehört hatte, brachte den Maschinenmeister mit einem Male zur Besinnung. Erst jetzt schien er zu verstehen, was ich ihm, während wir mit einander rangen, wiederholt zugeschrien hatte; Todtenblässe bedeckte sein bärtiges Gesicht, als Jemand die Treppe herunter polterte.
»Machen Sie mich nicht unglücklich,« murmelte er.
Es war der Kapitän, der herabkam, zu sehen, was denn hier unten vorgegangen sein mochte. Auf seinem hübschen guten Gesicht lag noch der ganze Schrecken der eben überstandenen Gefahr.
»Was heißt das, Weiergang!« schrie er den Maschinenmeister an.
»Ich war – ich hatte –« stammelte dieser.
»Bei der Feuerung zu thun,« fiel ich ihm in's Wort.
»Und da –« fing der Maschinenmeister wieder an.
»Wir werden uns weiter sprechen,« sagte der Kapitän, den Unglücklichen streng anblickend.
Der Kapitän kannte seine Leute.
Er sah, daß der Mann, in welchem Zustande er sich auch befunden haben mochte, jetzt vollkommen nüchtern und diensttauglich war. »Wir sprechen uns nachher,« wiederholte er, und dann sich zu mir wendend: »Kommen Sie mit hinauf!«
Ich folgte dem Kapitän, nicht, ohne mich noch einmal nach dem Maschinenmeister umzublicken, der jetzt mit seinen[22] Meditationen über die Wirkungen des schwedischen Punsches definitiv fertig geworden war, und in tiefer Zerknirschung über das fürchterliche Resultat mir einen flehentlichen Blick nachsandte.
»Was hat es gegeben?« fragte mich der Kapitän.
Ich hielt es für meine Pflicht, ihm die Wahrheit zu sagen, indem ich eine Bitte um Verzeihung für den Mann, falls es möglich sei, hinzufügte.
»Er ist sonst der nüchternste Mensch von der Welt,« sagte der Kapitän, »es ist das erste Mal.«
»Dann ist es hoffentlich auch das letzte,« erwiederte ich.
Er sprach mit mir, wie mit seinesgleichen.
»Sie haben mir einen großen Dienst gethan,« sagte er; »wer sind Sie? mir ist, als müßte ich Sie schon gesehen haben, und auch den Damen oben scheint es so zu gehen.«
»Lassen Sie das gut sein, Kapitän;« sagte ich.
Diese kurze Unterredung hatte stattgefunden, während wir die Leitertreppe zum Verdeck hinaufstiegen. Der Kapitän konnte der Neugier, die ihn offenbar ergriffen hatte, nicht länger Folge geben; er hatte mehr zu thun.
Mein erster Blick, als ich auf das Deck trat, suchte unwillkürlich das Schiff, welches uns mit einem so nahen Verderben bedroht hatte, und das jetzt eben hinter uns im Nebel verschwand; mein zweiter Herminen, die mit ihrem Kammermädchen um die ohnmächtige Gouvernante beschäftigt war. Ein köstliches Gefühl von Zufriedenheit, das nicht ganz ohne Stolz sein mochte, strömte durch meine Brust. So muß einem Feldherrn zu Muthe sein, der eine Schlacht gewonnen, die er ohne Schande hätte verlieren dürfen.
Die arme Gouvernante war nicht das einzige Opfer des Schreckens geworden, mit welchem die fürchterliche, Allen sichtbar herandringende Gefahr die Passagiere der »Elisabeth« erfüllt hatte. Hier und da saß noch eine oder die andere Dame mit todesbleichem Gesicht; auch die Männer schauten blaß und verstört drein und fingen eben erst an, ihre Gedanken über das, was geschehen, auszutauschen. Und in der That mußte die Situation schauerlich genug gewesen sein. Das entgegenkommende Schiff – ein Fahrzeug von den größten Dimensionen – war so unvorsichtig herangekommen, daß die »Elisabeth« trotz der von mir bewirkten Umsteuerung der Maschine und trotzdem ich vollen Dampf gegeben, dem Zusammenstoß nur um die Breite von wenigen Fuß entgangen war. Dazu[23] die Erschütterung des Schiffes, das Knarren und Stöhnen der sich biegenden Planken, das Krachen von einem halben Dutzend gleichzeitig zertrümmerter Schaufeln in den Rädern – wahrlich man brauchte nicht Fräulein Amalie Duff's zarte Nerven zu haben, um in einer solchen Situation die Besinnung zu verlieren.
Angenehm war die Situation auch jetzt nicht.
Das große Schiff schlenkerte in den noch immer hochgehenden Wellen um so gewaltsamer, als die Maschine der zerbrochenen Räder wegen nicht arbeiten konnte. Glücklicherweise war der Wind günstig, so daß vermittelst der schnell aufgehißten Segel die Steuerung möglich wurde. Was von Händen noch übrig geblieben, war jetzt beschäftigt, die Schaufeln nothdürftig wieder herzustellen. Ich hatte während meiner Gefängnißzeit von Zimmermannsarbeiten genug gesehen und mitgethan, um sofort Hand anlegen zu können. Die Augenblicke waren kostbar und es war mir nicht unlieb, auf diese Weise mich den forschenden Blicken Herminens und Fräulein Duff's entziehen zu dürfen, welche letztere das Talent hatte, eben so schnell aus der Ohnmacht zu erwachen, wie sie in Ohnmacht fiel, und jetzt mit ihrer Schülerin und Freundin in einer Unterredung begriffen war, deren Gegenstand wohl mit meiner Person in irgend einer Verbindung stand.
»Blick Du nur immer!« sagte ich bei mir; »ich bin trotz dem nicht schlechter als mancher andere, auf den Du Deine schönen Augen schon geworfen hast und noch werfen wirst.«
Dennoch war es mir nicht unlieb, daß ich, als sie jetzt Miene machte, zu der Stelle, wo ich mich befand, herüberzukommen, in den geöffneten Radkasten kriechen konnte, wo es toll genug aussah. Es stellte sich heraus, daß wir, zumal bei dem starken Seegang, uns auf das Nothwendigste beschränken mußten.
In einer Stunde war die Arbeit gethan; und wir wurden nach dem Vorderdeck beordert, wo das Bugspriet des vorbeistreifenden Schiffes einen Theil der Brüstung weggerissen hatte.
Ich war, als ich aus dem Radkasten auftauchte, erfreut gewesen, das Verdeck so gut wie leer, und vor Allem Hermine nicht zu sehen; aber, als ich eben oben um das Cajütenhaus herumkam, stand sie plötzlich mit ihrer Gouvernante vor mir. Die Begegnung konnte keine zufällige sein, denn die Duenna[24] trat sofort zurück; die junge Herrin aber blieb stehen und sagte, mit den großen blauen Augen keck zu mir aufblickend:
»Sind Sie Georg Hartwig, oder sind Sie es nicht?«
»Ja,« erwiederte ich.
»Wie kommen Sie hierher? was wollen Sie hier? sind Sie ein Matrose oder Heizer, oder was? und warum? Können Sie nichts Besseres thun? Schickt sich das für Sie?«
Diese Fragen folgten einander so schnell, daß ich mich begnügte, auf die letzte zu antworten, indem ich sagte: »Warum nicht? Es ist keine Schande ein Heizer zu sein.«
»Aber Sie sehen so – so schwarz – so rußig – so – abscheulich aus; ich mag solche schwarze Menschen nicht leiden; Sie sahen früher viel, viel besser aus.«
Ich wußte nicht, was ich darauf erwiedern sollte und begnügte mich, die Achseln zu zucken.
»Sie müssen von hier fort,« sagte die junge Schönheit eifrig, »Sie gehören hier nicht her!«
»Und doch ist es recht gut, daß ich heute hier gewesen bin;« sagte ich, mit einer Regung von Stolz, deren ich mich alsbald schämte.
»Ich weiß es;« erwiederte sie. »Der Kapitän hat es uns gesagt; es sieht Ihnen gleich; aber darum eben dürfen Sie nicht hier bleiben; Sie sind zu etwas Besserem bestimmt.«
»Ich danke Ihnen, mein Fräulein, für Ihre gütige Theilnahme,« erwiederte ich ernst; »aber wozu ich bestimmt bin, das muß die Folge lehren; vorläufig will ich meinen Weg gehen, wie er mich eben führt.«
Sie blickte mich halb mißmuthig, halb, ich möchte sagen, traurig an, und sagte dann schnell:
»Sie sind arm, vielleicht sind Sie darum hier, und sehen so – so – gar nicht hübsch aus; mein Vater soll Ihnen helfen; mein Vater ist sehr reich.«
»Ich weiß es, liebes Fräulein,« sagte ich; »aber gerade deshalb möchte ich von ihm nicht geholfen sein.«
Eine tiefe Gluth flammte über ihre Wangen; ihre blauen Augen blitzten und ihre rothen Lippen zuckten.
»Nun denn,« sagte sie, »so will ich Sie nicht weiter aufhalten.«
Sie wandte sich mit einer schnellen Bewegung um, und eilte von mir fort.
Ich stand noch ganz verwirrt auf demselben Fleck, als[25] plötzlich hinter der Ecke des Cajütenhäuschens hervor, wo sie jedenfalls eine aufmerksame, wenn auch unsichtbare Zeugin dieser Unterredung gewesen war, Fräulein Duff zu mir trat. Ihre wässrigen Augen, in denen jetzt zum Ueberfluß einige mitleidige Thränen schwammen, waren zu mir empor gerichtet und sie flüsterte in ihrem weichsten Ton: »Suche treu, so findest du!« Dann eilte sie, auf eine Antwort meiner seits klüglich verzichtend, ihrer jungen Herrin nach.
Eine Stunde darauf legten wir an der Landungsbrücke in dem Hafen von St. an.
Ich war unten im Maschinenraum, wo es jetzt genug zu thun gab. Und das war mir lieb. Ich hörte so doch nur halb das Rumoren auf dem Deck, welches die Passagiere, die hier so böse Stunden durchgemacht, zu verlassen eilten. Auch sie verließ es – vielleicht in diesem Augenblick. Es war nicht sehr wahrscheinlich, daß ich sie jemals wiedersehen würde. Warum sollte ich sie auch wiedersehen?
Die Frage schien mir selbstverständlich; dennoch seufzte ich, als ich sie mir vorlegte.
Mein Abschied von dem Maschinenmeister war kurz, aber nicht unfreundlich. Er hatte mir schon vorher gesagt, daß die Sache mit dem Kapitän ausgeglichen sei. Es schien im Grunde ein braver Mensch und so ging ich beruhigt von ihm.
Ich hatte gehofft, im Uebrigen unbemerkt von dem Schiffe wegzukommen, aber der Kapitän rief mich an, als ich mit meinem Bündel über das Vorderdeck schritt. Er sagte mir, er habe erfahren, daß ich der Sohn des verstorbenen Steuerrendanten Hartwig in Uselin sei, den er wohl gekannt habe. Auch von meinen Schicksalen habe er gehört; aber das gehe ihn nichts an. Ich hätte heute seiner Gesellschaft und ihm persönlich einen wichtigen Dienst gethan. Es sei seine Pflicht, mir dafür zu danken und zu fragen, ob die Gesellschaft und er selbst sich mir nicht anderweitig erkenntlich zeigen könnten?
Ich sagte: »Ja, das könnten Sie, wenn Sie für den Mann, dessen Stelle ich heute vertreten, und der jedenfalls, was ich gethan, auch gethan haben würde, eine noch mehr als gewöhnliche Sorge tragen wollten.«
Der Kapitän sah wohl, daß es vergeblich sein würde, weiter in mich zu dringen. Er versprach mir, meinen Wunsch treulich zu erfüllen, und drückte mir die Hand, indem er sagte,[26] daß er es sich zur Ehre schätzen würde, wieder einmal mit mir zusammenzutreffen.
Das hatte einige Zeit in Anspruch genommen; dennoch hielt eine Hotelequipage, welche ich bereits bei der Ankunft es Dampfers bemerkt hatte, noch immer an dem Zugang der Landungsbrücke. In dem Augenblicke jedoch, als ich, zögernden Schrittes die Brücke hinaufgehend, mich den Wagen näherte, setzte sich derselbe in Bewegung.
Ich sah nur noch eben, wie ein jugendliches Gesicht in einer Schwandauncapuze eilig vom Fenster verschwand, aus welchem es nach irgend etwas oder irgendwem auf der Brücke ausgeschaut hatte.
Da rollte der stattliche Wagen dahin; ich blickte ihm seufzend nach. Nicht, als ob mich nach einem Wagen mit zwei muthigen Braunen verlangt hätte! Der Weg von St. nach der Hauptstadt betrug freilich noch zwanzig Meilen und ich mußte die kleine Summe, die ich mir im Gefängnisse erspart hatte, zu Rathe halten. Aber ich wußte von früher, daß ich meine sechs, sieben Meilen den Tag marschiren konnte, ohne mich zu überlaufen, und ich fühlte mich frischer und kräftiger als je.
Nach einem Wagen mit zwei muthigen Braunen war es also schwerlich, wonach mein seufzendes Herz verlangte.
Ausgewählte Ausgaben von
Hammer und Amboß
|
Buchempfehlung
»Was mich einigermaßen berechtigt, meine Erlebnisse mitzuteilen, ist der Umstand, daß ich mit vielen interessanten und hervorragenden Zeitgenossen zusammengetroffen und daß meine Anteilnahme an einer Bewegung, die sich allmählich zu historischer Tragweite herausgewachsen hat, mir manchen Einblick in das politische Getriebe unserer Zeit gewährte und daß ich im ganzen also wirklich Mitteilenswertes zu sagen habe.« B.v.S.
530 Seiten, 24.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro