[228] Der folgende Tag war für die Jahreszeit ungewöhnlich heiß und schwül. Schon bei Sonnenaufgang hatten graue Gewitterwolken im Osten gestanden, und sie lauerten drohend am Horizonte, während das strahlende Gestirn machtvoll in den glänzenden Aether stieg. Ich, der ich von Kindheit an sonderbar abhängig gewesen bin von der atmosphärischen Stimmung, empfand die electrische Spannung, welche in der Luft herrschte, in beängstigender Weise. Ein dumpfer Druck lag fortwährend auf meiner Stirn, eine seltsame Unruhe zuckte durch meine Nerven und mein Blut rollte in schweren Wellen. Freilich war es nicht das heraufdrohende Gewitter allein, was mir diesen Zustand zuwege gebracht hatt.
Es lag noch etwas Anderes in der Luft – etwas Anderes, das mir unheimlicher war und das ich nicht definiren konnte: die dumpfe Empfindung vermuthlich der Unerträglichkeit des Zustandes, in welchem ich mich hier befand, und daß derselbe, so oder so, ein Ende erreichen müsse, vielleicht schon ein Ende erreicht habe.
Wie dem aber auch sein mochte: ich hatte heute Zeit genug, darüber nachzudenken.
Niemand war da, mich in meinen Betrachtungen zu stören. Zehrendorf war wie ausgestorben. Die gestern verabredete Partie nach dem Schmachtensee war gegen zehn Uhr aufgebrochen, nicht ohne einige kleine Veränderungen des ursprünglichen Programmes. Sei es, weil der letzte Versuch, aus Fräulein Duff eine Reiterin zu machen, so kläglich mißlungen war, sei es aus einem anderen Grunde – aber Hermine[228] hatte die Absicht, mit ihrer Gouvernante und mit Arthur die Partie zu Pferde zu machen, aufgegeben, und man hatte die ganze Gesellschaft in drei Wagen vertheilt. Der Steuerrath und die Geborene waren mit von der Gesellschaft gewesen. Auch dies war eine Abweichung vom Programme, zu Gunsten der beiden Eleonoren, welche einstimmig – sie waren immer einstimmig – erklärt hatten, daß zwei schutzlose Mädchen an einer für den ganzen Tag berechneten, nur aus jungen Leuten bestehenden Partie unmöglich Theil nehmen könnten. Die beiden Würdenträger hatten sich lebhaft gegen die ihnen zugedachte Ehre gesträubt, aber zuletzt selbstverständlich nachgegeben. Wie sollten sie auch nicht! Eine Gelegenheit wie diese, ihren Lieblingswunsch zu fördern, kam so leicht nicht wieder!
Dann war noch eine dritte Veränderung eingetreten, die ich selbst, wenn ich Fräulein Duff Glauben schenken durfte, veranlaßt hatte. Aber durfte ich ihr Glauben schenken?
Freilich, der Schein sprach für sie, aber auch wohl nur der Schein!
Als ich gestern nach meiner Rückkehr von Rossow bei dem Commerzienrath gewesen war, hatte ich, als ich mich auf mein Zimmer zurück begeben wollte, den Salon passiren müssen, wo sich unterdessen die ganze übrige Gesellschaft versammelt hatte. Hermine saß am Flügel und spielte ein lärmendes Stück, welches sie erst abbrach, als ich, die Versammelten stumm grüßend, den Drücker der Ausgangsthür schon in der Hand hatte. Ich hatte mich unwillkürlich bei dem Mißaccord, mit welchem sie geschlossen, umgewandt, und fast in demselben Momente sah ich sie auch vor mir, mit blassem Gesicht, aus welchem die großen, blauen Augen seltsam leuchteten, und mit zuckenden Lippen, die etwas sagten, was sie noch einmal sagen mußten, bevor ich es verstand: »Man hoffte, ich werde den Scherz heute Mittag genommen haben, wie er gemeint, und die Gesellschaft bei der Partie morgen nicht um das Vergnügen meiner Gegenwart bringen, auf die man sicher gerechnet.« – Die Gesellschaft, welche bis dahin ganz besonders lebhaft conversirt und von meiner Anwesenheit so gut wie keine Notiz genommen hatte, war plötzlich sehr still geworden, und das mochte wohl der Grund sein, weshalb ich meine Antwort mit einer unheimlichen Deutlichkeit hörte, beinahe, als hätte ich nicht selbst, sondern ein[229] ganz Anderer mit einer mir gänzlich fremden Stimme gesagt: »ich danke Ihnen, mein Fräulein; aber Sie haben wirklich Recht gehabt: man darf auf mich bei solchen Gelegenheiten nicht zählen.« – Dann hatte ich draußen auf dem Flure gestanden, an allen Gliedern meines großen Körpers bebend, daß ein Kind mich hätte umstoßen können, und ich hatte einen stechenden Schmerz im Herzen empfunden und ein brennendes Verlangen, laut aufzuschreien, und dann hatte ich beide Hände gegen die Brust gedrückt, und mit einem tiefen, tiefen Athemzuge und mit bebenden Lippen zu mir selbst gesagt: »Gott sei Dank; es ist vorbei!«
Und daran hatte ich festgehalten die lange, lange schlummerlose Nacht, während ich in meinem Teppichzimmer auf- und abschritt, oder mich in das offene Fenster stellte, meine fiebernden Schläfen an der Nachtluft zu kühlen, und mich dann wieder auf den niedrigen Divan warf, um in schmerzliches Brüten zu versinken.
Vorbei, vorbei! trotz des Zettels da, den mir Fräulein Duff noch um Mitternacht durch den mir jetzt ganz ergebenen Wilhelm auf das Zimmer geschickt hatte, und in welchem sie in ihrer wunderlich-phantastischen Weise mich versicherte, daß Hermine sich seit zwei Wochen auf die Partie gefreut, nur, um sie mit mir machen zu können; ja, dieselbe nur in dieser Absicht arrangirt habe; und ob der Gute dem Bösen den Platz räumen wolle, und ob die Liebe nicht Alles glaube und dulde, noch dazu, wenn sie überzeugt sein dürfe, daß, wodurch sie gequält werde, selbst wieder Liebesqualen seien?
Liebe! Ist das Liebe? Kann das Liebe sein? Die Liebe duldet Alles, sie glaubet Alles! Wohl! Aber sie blähet sich auch nicht, und stellt sich nicht ungeberdig und trachtet nicht nach Schaden! Ist das Liebe? Oder ist es nicht vielmehr Selbstsucht, Eitelkeit, Laune – die Laune eines verzogenen Kindes, das ihre Puppe jetzt küßt und im nächsten Augenblick zur Erde schleudert, und für das die ganze Welt nur eine bunte Seifenblase ist, die zu ihrem Vergnügen in der Sonne ihres Glückes schwebt. Nun ja, es ist vielleicht Liebe, eine besondere Sorte Liebe; aber ich mag diese Sorte nicht, und ich will sie nicht, und es ist vorbei!
Ja, hätte ich nie eine andere Liebe gekannt! eine starke, innige, heilspendende, segensreiche Liebe! Daß diese Liebe nicht mir zu Theil geworden – weiß ich deshalb weniger,[230] daß sie möglich, daß sie vorhanden ist? Und wenn sie dich schon nie geliebt hat, wie sie lieben kann, wie sie dereinst vielleicht einen Andern lieben wird – hast du nicht schon an einem Tropfen dieser Quelle, die so rein ist, wie das Herz der Wasser – hast du nicht schon an diesem einen Tropfen Muth, Erquickung getrunken, viel mehr, als aus diesem Strudel, der heute so üppig quillt, um morgen spurlos im Sande zu versiegen? Im Sande ihrer Selbstsucht, ihrer Laune! Nein, und tausendmal nein! es muß vorbei sein, und es ist vorbei!
So hatte es die Nacht in meinem Kopf und in meinem Herzen geglüht und gebraust, und dann war der Tag angebrochen, der sonnige, gewitterschwüle Tag, der den Uebernächtigen fieberhaft und seiner halben Kraft beraubt fand; aber ich hatte mich aufgerafft mit einem mächtigen Entschluß und zu mir gesagt: laß es sein! laß vorbei sein, was vorbei ist! Vielleicht ist es gut, daß Alles so gekommen, daß du dir selbst zurückgegeben bist, dir selbst und deinen Pflichten.
Und ich war still auf meinem Zimmer geblieben, bis es Zeit war, zu dem Kreidebruche zu gehen, wo heute die Maschine zum ersten Male arbeiten sollte. Dann war ich gegen zehn Uhr zurückgekehrt, dem Commerzienrath, wie er gestern gewünscht, Rapport abzustatten, daß Alles über Erwarten gut ausgefallen, daß die Aussicht, die Wasser zu bewältigen, jetzt zur Gewißheit geworden sei.
Die Partie war unterdessen aufgebrochen, wie mir Wilhelm, der zu meiner Bedienung zurückgeblieben, mittheilte, nebst einer Menge von Einzelheiten, wie sie das falkenscharfe Auge des drolligen Schelms zu beobachten verstand und sein indiscreter Mund auszuplaudern liebte. Das gnädige Fräulein war in der muntersten Laune gewesen, bis zuletzt, als Leo, ihre Dogge, durch keine Schmeicheleien und Drohungen zu bewegen war, von der Partie zu sein. »Er ist in der letzten Zeit zu schlecht behandelt worden,« sagte Wilhelm, »na, und so was merkt unser Einer, wollt' ich sagen, so eine Bestie denn doch. Und nun werden in dem Augenblicke ja auch noch Herr und Frau von Granow angefahren kommen, die gar nicht aufgefordert waren und die man doch nun schande-halber mitnehmen mußte. Ich sage Ihnen, Herr Ingenieur, das Ganze sah mehr wie ein Leichenzug, als wie eine Spritzfahrt aus. Aber unsere beiden jungen Damen« –[231] hier lächelte Wilhelm Kluckhuhn – »die hätten Sie sehen sollen, Herr Ingenieur: Ganz weiß mit hoffnungsgrünen Schleifen, die reinen Schneeglöckchen, sage ich Ihnen!«
Ich war wenig in der Stimmung, Wilhelms Bericht bis zu Ende zu hören, und fragte nach dem Commerzienrath.
»Ist vor einer Viertelstunde mit dem alten Justizrath nach Uselin zu einem Termine gefahren und wird vor Abend schwerlich zurückkommen.«
Diese Nachricht setzte mich einigermaßen in Verwunderung. Der Commerzienrath hatte noch gestern Abend nichts von diesem Termin, der ihn den ganzen Tag in Anspruch nahm, gewußt, hatte mir im Gegentheil eine Unterredung für diesen Morgen zugesagt, in welcher die wichtigsten Dinge zu besprechen waren. Hatte doch die Nachricht von dem möglicherweise nahe bevorstehenden Ableben des alten Fürsten, die ich ihm gestern überbracht, den beabsichtigten Verkauf von Zehrendorf in weite Ferne gerückt, ja, sehr unwahrscheinlich gemacht! Was konnte dem jungen Fürsten, wenn er seinem Vater succedirte und in den Vollbesitz des Vermögens kam, an dem einen Gute mehr oder weniger gelegen sein? Es liegt auch dem alten Fürsten im Grunde gar nichts daran, hatte der Commerzienrath immer gesagt; aber der junge Herr soll sich bei dem Ankauf die Sporen verdienen; soll zeigen, daß er solche Geschäfte bewältigen kann. Das weiß der junge Herr recht gut und darum wird er den Hamen doch herunterschlucken, so wenig verlockend auch der Köder ist; verlassen Sie sich darauf!
So hatte der Commerzienrath gerechnet, und, wie die Sachen jetzt lagen, voraussichtlich falsch gerechnet. Meine Nachricht hatte ihn gestern ganz augenscheinlich sehr erschreckt. – Es war höchst sonderbar, daß er gerade heute hatte in die Stadt müssen!
Oder wollte er mir nur einfach aus dem Wege gehen, nachdem er seine Absicht, mich bei Herminen in Ungnade zu bringen, so vollkommen erreicht! Brauchte er mich nicht mehr, nachdem ich ihm die Maschinen aufgestellt und die Angelegenheit mit dem Fürsten sich so gut wie zerschlagen?
Sehr möglich, sehr wahrscheinlich; aber vielleicht brauchte ich ihn noch weniger; vielleicht war ich in der Lage, ihm, bevor er mir den Abschied gab, Lebewohl sagen zu können. Diese Abwesenheit des Mannes, die wie eine Flucht vor mir[232] aussah – kam sie doch just in dem Augenblicke wie eine Mahnung für mich, das verlockende Anerbieten des jungen Fürsten anzunehmen! Was hatte ich bis jetzt für meine eigentlichen Zwecke von dem Commerzienrath erlangt? Versprechungen die Hülle und Fülle, einen Schwall von Complimenten – weiter nichts! Und dabei würde es voraussichtlich bleiben, vor Allem, wenn er Zehrendorf nicht verkaufte, und er so seines Wortes, das er mir bezüglich der Fabrik in der Stadt gegeben, los und ledig war, ja, und möglicherweise auch, wenn der Verkauf trotz alledem zu Stande kam. Es gab wohl sehr Weniges, was dem Herrn Commerzienrath heilig war, und ich hatte Ursache zu glauben, daß unter diesem Wenigen sein Wort sich nicht befand. So hatte er mir versprochen, den Mann in der Schneidemühle, dem er gekündigt, nicht zu entlassen; und als ich heute Morgen an der Mühle vorbeiging, hatte sie gestanden und der Knecht mir gesagt, der Herr sei gestern Abend – während ich in Rossow war – dagewesen und habe den Meister nach einem kurzen Wortwechsel von der Stelle fortgejagt. Das war ein Fall! aber eben nur der neueste; ich hatte ihn schon wiederholt auf dergleichen Wortbrüchigkeiten ertappt! Nein, nein, der Mann schien nicht dazu angethan, sich von mir zur Religion der Humanität bekehren zu lassen.
Und der Fürst? Je deutlicher ich mir die Einzelheiten unsrer gestrigen Unterredung in die Erinnerung rief, je klarer mir das Bild des Mannes vor die Seele trat, desto mehr liebenswürdige und achtungswerthe Züge glaubte ich in ihm zu entdecken, desto mehr glaubte ich zu finden, daß es sich wohl verlohne, mit ihm anzuknüpfen. Es ist eine schwere Aufgabe, gänzlich ungerührt zu bleiben, wenn uns Jemand mit einem ausgesprochenen Wohlwollen entgegenkommt, noch dazu, wenn dieser Gönner eine hochgestellte, einflußreiche Persönlichkeit ist. Nun möchte ich nicht sagen, daß ich damals oder jemals in der Gunst eines Fürsten die höchste irdische Glückseligkeit gefunden hätte, aber ich kann doch auch nicht leugnen, daß, wenigstens zu jener Zeit, die anerzogene Ehrerbietung vor der irdischen Hoheit – ein Nachklang jedenfalls aus meinen Jugendtagen – dazu beitragen mochte, mir das Benehmen des jungen Fürsten in dem möglichst günstigen Lichte zu zeigen. Ich glaubte, jetzt den Schlüssel zu diesem Benehmen, das mir gestern so räthselhaft erschienen war, gefunden[233] zu haben, und ich rechnete ihm die Delicatesse hoch an, mit welcher er, bevor er mir seine eigentliche Absicht entdeckte, aus dem Wege geräumt hatte, wovon er wußte, daß es als ein Stein des Anstoßes zwischen ihm und mir lag. Er hatte der bedenklichen Scene vor neun Jahren im Walde von Zehrendorf mit keiner Sylbe Erwähnung gethan; aber er hatte es mir nicht vergessen, daß und wie ich ihn damals geschont und er hatte in seiner Weise versucht, seine Schuld gegen mich abzutragen. Ich mußte mir sagen, daß die Weise, Alles in Allem, eine edle, ritterliche war. Sodann hatte er mich wiederum über die zweite Begegnung in Paula's Atelier aufgeklärt und mich gewissermaßen wegen seines damaligen Benehmens um Entschuldigung gebeten; und war der Versuch, sich gegen mich abzufinden, den er noch an demselben Tage gemacht, vielleicht übereilt und unpassend gewesen, so hatte er das jetzt durch sein großherziges und bedeutendes Anerbieten in meinen Augen mehr als ausgeglichen.
Ja, es war ein großherziges und bedeutendes Anerbieten: großherzig, wenn ich die offene loyale Weise bedachte, in welcher mir es ohne Winkelzüge, ohne Markten und Feilschen gemacht; bedeutend, indem ich mir sagen mußte, daß, war es wirklich des Fürsten Absicht, mir einen großen Wirkungskreis zu verschaffen, er auch durchaus in der Lage war, seine Versprechungen zu realisiren. Angenommen wirklich, der Commerzienrath war der Mann, für den er sich gab – obgleich meine Zweifel nach dieser Seite keineswegs geschwunden, ja vielleicht jetzt größer waren, als je – aber angenommen, er war der reiche Mann, der einflußreiche Mann, was bedeutete sein Reichthum, sein Einfluß im Vergleich zu der Machtsphäre der Fürsten von Prora-Wiek? Schon als Knabe auf der Schulbank hatte ich, wie jeder andere Useliner, ja, ich glaube, jeder Bewohner unserer Provinz, gewußt, daß auf der Insel allein einhundertzwanzig Güter dem Fürsten gehörten; dann das Städtchen Prora, die Residenz – in welcher jetzt die Aufregung über die Erkrankung des Herrn groß genug sein mochte – die von dem ersten bis zu dem letzten Hause auf fürstlichem Grund und Boden stand: dann das Jagdschloß Wiek mit seinen meilenweiten Forsten; dann die Grafschaft Ralow auf dem Festlande in der Nähe von Uselin – die Useliner pflegten im Sommer Ausflüge nach dem Parke von Ralow zu machen – dann das prachtvolle Palais in[234] der Residenz, an welchem ich oft genug mit sonderbaren Empfindungen vorüber gegangen war; die Herrschaft in Schlesien mit den berühmten Eisenwerken, deren Werth auf ein paar Millionen veranschlagt wurde – was war der Krösus von Uselin im Vergleich mit diesem wirklichen Krösus, dessen Revenüen binnen zweier Jahre vielleicht so groß waren, als das ganze Vermögen des Commerzienrathes zusammengenommen.
Freilich, freilich; ich hatte mir meinen Lebensweg anders gedacht! meine Leidenschaft für die mathematischen Wissenschaften, meine Fortschritte in der Maschinenbaukunst, meine Hoffnung, dereinst mächtig fördernd in die Entwickelung der Eisenbahn-Industrie eingreifen zu können, meine mit dem guten Snellius so oft überlegten Pläne für das Wohl der arbeitenden Klassen – es war kein erfreulicher Gedanke, das Alles aufgeben zu sollen. Aber mußte ich es denn aufgeben? war es im Grunde nicht einerlei, ob ich hier oder dort, in dieser oder jener Weise wirkte, wenn ich nur wirkte, wenn ich nur schaffte in dem großen guten Sinne meines unvergeßlichen Lehrers, meines braven Freundes! O gewiß, gewiß, ich durfte in seinem Sinne das Anerbieten des Fürsten acceptiren; und Paula würde nicht mit mir unzufrieden sein, denn ihr Denken und Trachten war, wie das ihres herrlichen Vaters, nur auf das Gute und Schöne gerichtet; ich fühlte, es würde mir nicht schwer werden, ihr zu zeigen, wie ich in dieser neuen Sphäre vollauf Gelegenheit habe, ihrer werth zu bleiben, ja, es immer mehr zu werden. Und dann! – ich hatte es vor mir selbst verbergen wollen, weil es eine wunde Stelle in meinem Herzen allzu schmerzlich berührte, aber heute, in der schlaflosen Nacht, war es und manches Andere noch in scharfer unabweisbarer Wirklichkeit vor meine Seele getreten: sie hatte mich nicht nur ziehen lassen, weil sich ein größerer Wirkungskreis für mich aufthat; sie hatte mich auch fortgeschickt, weil sie Mitleid mit mir empfand, weil sie wußte, daß in ihrem Herzen meine tiefe, innige, ehrfurchtsvolle Liebe keinen Wiederhall fand; und wie der gütige Mensch nichts nimmt, was er zu nehmen gezwungen ist, ohne etwas zu bieten, wenn er es bieten kann, so hatte sie meinem liebevollen Herzen, das sich nach Gegenliebe sehnte, die Erfüllung meiner Wünsche in einer reizenden lockenden Gestalt gezeigt, in der Gestalt des schönen Mädchens, in der Gestalt der jungen,[235] übermüthigen Bacchantin, die mit mir gespielt hatte, wie sie mit den Tigern, Leoparden und sonstigem Gethier, das sie vor ihren Wagen zu spannen gewöhnt war, schon ein oder das andere Jahr gespielt haben mochte. Ach, Paula's reines Herz, was wußte es von diesem gefährlichen Spiel! was wußte es von den Künsten, wie man mit der einen Hand streichelt und mit der andern die Peitsche schwingt; wie man sich jetzt an den freien Sprüngen des Lieblings ergötzt und wie man ihn im nächsten Augenblicke in den engsten Käfig sperrt! Was wußte sie davon?
Und wenn sie es wüßte, würde sie nicht die Erste sein, die mich zurückriefe, die da sagte: »Du darfst Dich opfern, wenn es sein muß, aber wegwerfen sollst Du Dich nicht und darfst Du Dich nicht; und was ich auch mit Dir gewollt habe und was Du selbst gewollt und erstrebt hast: es ist vorbei, vorbei!«
So hatte es in meinem dumpfen Gehirn gegährt und in meinem Herzen gewühlt, den ganzen Tag, während die Sonne ihre glanzvolle Bahn durch den hohen Himmel zog und hinter ihr her das graue, dunstige Gewölk, das schon bei ihrem Aufgang am Horizonte gelauert. Ich hatte instinctiv oft und oft zum Himmel geschaut, während ich rastlos, gefoltert von meinen peinlichen Gedanken und dem heraufdrohenden Gewitter, durch die Felder, durch die Haiden schweifte, so benommen von dem, was in mir brütete und was draußen braute, daß ich jedes Bewußtsein des Ortes und der Zeit verloren hatte, und mich jetzt in der Dämmerung des Abends auf dem Wege nach Trantowitz fand – demselben Wege, den ich gestern nach Rossow gefahren, und der auch der Weg war, auf welchem die Gesellschaft zurückkommen mußte – ohne wiederum zu wissen, wie ich dort hin gekommen und was ich dort wollte. Sicherlich nicht Hans besuchen, der ja auch von der Partie war. Dennoch schritt ich weiter, bis ich zu der schlecht gehaltenen, lückenhaften Hecke gelangte, welche Hans' vielberühmten Garten, mit den verwilderten Obstbäumen auf den Gras-und Unkrautflächen und den wüsten Kartoffel- und Kohlfeldern von der Landstraße trennte. Ueber die Hecke schauend, glaubte ich in dem Grunde dieses melancholischen Terrains eine mächtige Gestalt zu bemerken, die wohl Niemand anders sein konnte als der gute Hans selbst. Ich durchbrach die Hecke – es war eben nicht schwer – und ging gerade auf die Gestalt zu. Es war wirklich Hans.[236]
»Ich denke, Sie sind auch mit?« sagte ich.
»Werde mich wohl hüten,« erwiederte Hans, den Druck meiner Hand kräftig erwiedernd.
»Aber Sie sind doch aufgefordert?«
»Freilich,« sagte Hans.
»Nun?«
»Nun, als ich sie heute Morgen auf den Hof kommen sah, bin ich da zum Fenster – er deutete auf das Fenster seines Schlafzimmers – hinausgestiegen, und habe mich so lange im Walde umhergetrieben, bis die Luft wieder rein war. Und Sie?«
»Ich hatte auch keine Lust mitzugehen,« sagte ich.
»Das wäre,« sagte Hans.
Wir promenirten eine Zeit lang schweigend nebeneinander in den verwachsenen Wegen auf und nieder. Es war bereits so dämmrig, daß man die Farben nicht mehr unterscheiden konnte. Die Luft war unglaublich schwül und drückend, im Osten wetterleuchtete es von Zeit zu Zeit und aus dem Trantowitzer Wald, von welchem eine Spitze nahe an uns heranschnitt, kam der Gesang der Nachtigallen in klagenden, langgezogenen Tönen.
»Es ist zum Ersticken,« sagte ich, indem ich, als wir eben an eine verfallene Laube, oder etwas der Art gekommen waren, mich auf eine der dort befindlichen morschen Bänke warf und Rock und Weste aufriß.
Hans sagte nichts, sondern entfernte sich schweigend in der Richtung des Schlafzimmer-Fensters, durch welches ich seine riesige Gestalt verschwinden und einige Minuten später wieder auftauchen sah. Er setzte ein paar Gläser und zwei Flaschen, die er unter dem Arme getragen, vor uns auf den morschen Tisch, stellte ein paar andere, die er aus den Rocktaschen zog, in den Sand der Laube, nahm sein Jagdmesser heraus, öffnete die beiden ersten und sagte, indem er mir die eine hinschob: »Trinken Sie vorläufig einmal eine halb oder lieber ganz; es wird Ihnen besser werden.«
Das war der alte Hans, wie er leibte und lebte! und sein altes Universal-Mittel gegen alle Pfeile und Schleudern des Geschicks! Du lieber Himmel! es hatte sich schlecht genug an dem braven Jungen bewährt, und würde mir wohl auch nicht helfen; aber ich fühlte doch, wie gut er es meinte, und die Hand zitterte mir, als ich die Gläser füllte, und[237] meine Stimme zitterte, als ich sein Glas mit den meinen berührend, sagte: »das trinke ich Ihnen, lieber Hans! und einer bessern Zukunft für uns Beide!«
»Wüßte nicht, wo die für mich herkommen sollte,« sagte Hans, sein Glas in einem Zuge leerend, und nun seinerseits das Amt des Schänken übernehmend.
»Hans, lieber guter Hans!« rief ich, »thun Sie mir den Gefallen und sprechen Sie nicht in diesem melancholischen Ton; ich kann es heute Abend nicht hören, mir ist selbst zu Muthe, als ob mir jeden Augenblick das Herz brechen müßte.«
Hans wollte mir wieder die Flasche zuschieben, besann sich aber, daß ich sein Universal-Mittel schon einmal ausgeschlagen hatte, und reichte mir seine gefüllte Cigarrentasche über den Tisch hinüber.
Einen Augenblick später glühten zwei feurige Punkte in der dunklen Laube, und warfen von Zeit zu Zeit einen trügerischen, schnell verschwindenden Schein auf den wackelnden Tisch mit den Flaschen, die sich schnell leerten, und auf die Gesichter zweier Männer, die über den Tisch gebeugt waren, in langer vertraulich-ernster Unterhaltung.
»So ist es;« sagte das eine Gesicht zuletzt.
»Sie werden sich geirrt haben, wie ich;« sagte das andere.
»Ich glaube nicht,« sagte das andere wieder; »wie lange ist es her, vielleicht vorgestern, es kann aber auch vorvorgestern gewesen sein – die Tage laufen mir immer in einander – da traf ich sie auf dem Wege nach Rossow; wir sind eine halbe Stunde neben einander geritten und sie hat mir während der ganzen Zeit von Nichts gesprochen, als von Ihnen!«
»Sie muß um ein passendes Thema sehr verlegen gewesen sein,« sagte das zweite Gesicht.
»Und geweint hat sie auch,« fuhr das erste fort, »das arme Ding! sie hat mir leid gethan; ich wollte Ihnen schon immer sagen, Sie müßten machen, daß die Sache zu Ende kommt.«
Eine lange Stille folgte. Die dritte Flasche wurde entkorkt. Die feurigen Punkte glühten still vor sich hin, während das Dunkel tiefer und tiefer hereinsank, und die lautlosen Blitze immer häufiger und häufiger aufleuchteten.
»Sie trinken ja nicht,« sagte Hans.
Ich antwortete nicht; ich hatte in der That kaum gehört,[238] was der gute Hans sagte; ich wußte kaum noch, daß er da vor mir saß; kaum noch, wo ich war. Aus dem Dunkel heraus, das uns umgab, strahlten mir ihre Augen, aus dem Flüstern des Windes, das in den Blättern rauschte, glaubte ich ihre Stimme zu hören. Und die Augen, die großen, blauen Augen sahen mich vorwurfsvoll an, und die Stimme, die tiefe, leidenschaftbebende Stimme, klang gepreßt, und um den reizenden Mund zuckte es schmerzlich, wie gestern, als sie mich bat, daß ich mit von der Partie sein möchte.
»Wo wollen Sie hin?« sagte Hans.
Ich hatte mich erhoben, und war in den Eingang der Laube getreten, mit heißen Augen in die Finsterniß starrend. Nur am westlichen Horizonte war noch ein schmaler, sehr schmaler, lichter Streifen, sonst lag der Himmel über der Erde schwarz und undurchsichtig wie ein Sargdeckel. Von Zeit zu Zeit ging ein seltsames Stöhnen und Raunen durch die stille, schwüle Luft, und dazwischen schluchzten die Nachtigallen aus dem Walde, wie über den Untergang einer schönen Welt von Licht und Liebe. Dann wieder zitterte durch die Finsterniß ein electrisches Licht und spielte unheimlich an den Rändern der schweren, tiefgehenden Wolken; aber kein Donner folgte, die arme geängstete Creatur aus ihrer dumpfen Angst aufzurütteln, und kein erquickender Regen rauschte hernieder, die verschmachtende Erde zu erquicken.
»Wo wollen Sie hin?« fragte Hans noch einmal.
»Wo sind sie wohl jetzt?«
»Wer kann das wissen,« sagte Hans; »zurück sicher noch nicht, denn sie müssen hier vorbei.«
»Auf der Haide zwischen Ihren Buchen und den Rossower Tannen muß der Weg bei dieser Dunkelheit kaum zu finden sein!«
»Freilich,« sagte Hans, »bin ich doch selber einmal ein paar Stunden darauf umhergeritten, ohne einen Schritt aus der Stelle zu kommen; und die Nacht war nicht so finster, wie diese. Wir hatten allerdings bei Fritz Zarrenthien ein wenig scharf getrunken. Halloh! was giebt's denn?«
Ich war im Begriff gewesen, fortzustürzen, und griff jetzt, als Hans rief, mit beiden Händen an den Kopf, der mir zu springen drohte.
»Sie könnten gerade auf der Stelle sein,« murmelte ich.
»Aber so nehmen Sie mich doch mit!« rief Hans, während ich schon durch den Garten davoneilte.[239]
Ich blieb stehen; er kam hinter mir her und klopfte mir, als er mich eingeholt hatte, mit seiner großen, breiten Hand ein paar Mal leise auf die Schulter und sagte: »ho, ho! so recht, so!« als wenn ich ein Pferd wäre, das er zu beruhigen hätte. Ich griff nach seiner Hand und rief: »Kommen Sie mit, Hans!«
»Nun natürlich;« erwiederte Hans; »aber wir müssen ein paar Leute mit Laternen haben; ich kenne das!«
»Das wird zu lange aufhalten!«
»Keine fünf Minuten!«
Hans schritt neben mir her, quer durch die Kartoffelfelder, und, um jeden Umweg zu ersparen, in sein Kammerfenster hinein durch sein Wohnzimmer hindurch, ich folgte ihm auf dem Fuße – kannte ich doch die Localität gut genug! Auf dem Hofe angelangt, begann Hans aus aller Macht an der zerbrochenen Glocke zu läuten, welche dort in einem baufälligen Gerüste hing, und deren heiserer Schall die Leute sonst zur Arbeit oder von der Arbeit rief. Sie kamen denn auch auf das bekannte Signal aus dem Leutehause und aus den Ställen schnell genug herbei; und es waren noch keine fünf Minuten vergangen, als wir bereits, gefolgt von einer kleinen, mit Stall-Laternen ausgerüsteten Schaar den Hof verlassen hatten, und auf einem Feldwege den Trantowitzer Buchen zueilten. An dem westlichen Horizont war auch der letzte hellere Streifen verschwunden; die Dunkelheit war so groß, daß es im Walde um nichts finsterer wurde, als es bereits auf dem freien Felde gewesen war. Die Schwüle in der Atmosphäre hatte wo möglich noch zugenommen und jetzt begannen auch dumpfe Donner zu rollen und in den hohen Wipfeln der Buchen fing es an zu rauschen und zu sausen; die Nachtigallen waren verstummt vor dem Unwetter, das jeden Augenblick losbrechen konnte. Ich eilte, die Leute mit den Laternen weit hinter mir lassend, durch den Wald dahin; nur Hans versuchte noch, gleichen Schritt mit mir zu halten, blieb dann aber auch zurück, hinter mir her rufend, daß die tolle Eile ja zu nichts nützen könne, wenn wir die Männer mit den Laternen nicht bei uns behielten. Ich sagte mir dasselbe; aber ich wurde von einer Gewalt getrieben, der ich nicht zu widerstehen vermochte. Was ich wollte – ich hätte es nicht zu sagen gewußt, ich dachte daher auch gar nicht darüber nach, ich stürzte nur immer vorwärts in einer Eile, als[240] gelte es Leben oder Tod. Wie ich es fertig gebracht habe, den bösen Weg durch den Wald in der rabenschwarzen Finsterniß so zurückzulegen, ohne Arme und Beine zu brechen oder mir den Schädel an den Bäumen einzurennen, ich weiß es noch heute nicht. War es der bläuliche Schein der Blitze, der von Zeit zu Zeit durch die Waldeshallen zitterte, war es die eigenthümliche Fähigkeit meiner Augen, auch in der Finsterniß noch immer ein wenig sehen zu können, war es die Leidenschaft, die in gewissen Momenten jede verborgenste Kraft in uns wachruft – ich weiß es nicht; ich weiß nur, daß ich in unglaublich kurzer Zeit den Wald durchmessen hatte, und an dem Verstummen des Blätterrauschens um mich her, an dem lebhafteren Hauch des Windes, der um meine glühenden Wangen spielte, an dem anders tönenden Schall der Donner bemerkte und gelegentlich auch in dem grelleren Licht eines Blitzes deutlich sah, daß ich mich bereits auf der Haide befand. Die Haide war ungefähr eine Viertelmeile breit, auf drei Seiten von den Rossower Tannen und den Trantowitzer Buchen umgeben, auf der vierten, nach links, mit den großen Mooren an der Küste zusammenhängend, die hier und da noch mit schmaleren und breiteren Streifen hineinragten. Kein Baum wuchs auf dieser ganzen Fläche; als einziges Wahrzeichen galt ein kleiner, mit Buschwerk bestandener und mit einzelnen großen Steinen umgebener Hügel – ohne Zweifel ein Grabmal aus alten Zeiten – der ungefähr halbwegs lag und als die äußerste Grenze nach dem Moore zu galt. Von einem Wege konnte man kaum sprechen, denn derselbe war zu jeder Jahreszeit, ja bei jedem Witterungswechsel ein anderer; man fuhr, ritt oder ging, wie es eben am zweckmäßigsten schien. Schon mehr als einmal hatte hier ein Unglück stattgefunden; noch zu meiner Zeit war ein Knecht, der mit einem leeren Wagen in der Nacht die Strecke passiren wollte, mit sammt seinen Thieren, in einem der breiten, tiefen Torfgräben ertrunken.
Während ich über die Haide dahinstürmte, kamen mir die Umstände bei diesem Unglücksfall wieder in's Gedächtniß bis in die kleinsten Einzelheiten. Ich erinnerte mich, wie der Mann geheißen, und daß er eine Braut gehabt hatte aus Trantowitz, eine hübsche, blonde Dirne, die sich über den Tod des Geliebten gar nicht hatte zufrieden geben können, und die man noch wochenlang nachher auf dem Hünengrabe[241] hatte sitzen sehen, die starren Augen unverwandt auf die Stelle gerichtet, wo er ertrunken. Es war mir, als ob das hübsche, arme Mädchen eine flüchtige Aehnlichkeit mit ihr gehabt hätte.
Eine ganz wahnsinnige Angst erfaßte mich und plötzlich stand ich still, mit wildklopfendem Herzen in die Nacht hineinhorchend. Ich meinte, ich hätte dumpfes Geschrei aus nicht allzugroßer Entfernung vernommen. Aber aus welcher Richtung? War es vor mir gewesen? rechts, oder links? oder hatte ich mich getäuscht? hatten mich meine aufgeregten Sinne betrogen, und die klagenden Stimmen des Windes in hülferufende Menschenstimmen verwandelt? Da noch einmal! jetzt hatte ich mich nicht getäuscht, und jetzt hörte ich auch, von woher die Rufe kamen: gerade aus der Richtung vor mir! nein von links her; nein von rechts! das war sicher von rechts gewesen! Und jetzt wieder näher, aber wiederum aus einer andern Richtung, als ob auf der öden Haide die Geister der hier und dort, und dort und hier Verunglückten alle auf einmal aus ihren nassen Gräbern heraufgestiegen wären und einander riefen. Und keine Möglichkeit, auch nur einen Schritt vor sich zu sehen, selbst die Blitze hatten seit ein paar Minuten aufgehört; es war, als ob man die Finsterniß greifen könnte. Ich warf einen verzweifelten Blick hinter mich, und sah zu meiner unsäglichen Freude die Lichter aus den Laternen, wenn auch aus einiger Entfernung, auf die Stelle zukommen. Ich rief mit der ganzen Kraft meiner Lunge, sie sollten sich beeilen; dann stürzte ich auf gut Glück weiter, und prallte entsetzt zurück, als ich plötzlich im grellen Licht eines mehrere Secunden anhaltenden Blitzes dicht vor mir die riesige, gespensterhaft weiße Gestalt eines sich hoch aufbäumenden Pferdes erblickte. Ich war auf einen der Wagen gestoßen, dessen Pferde der Kutscher, der muthig ausgehalten hatte, vergeblich abzusträngen versuchte.
»Wo sind die andern Wagen?« rief ich, indem ich, ohne recht zu wissen, was ich that, dem Manne in sei nen Bemühungen half.
»Das mag Gott wissen,« sagte der Mann. »Ich habe genug mit denen hier zu thun gehabt.«
»Es kommen Laternen!«
»Ist auch hohe Zeit! Willst stehen, verdammter Schimmel!«
Da war Hans schon mit einigen der Laternen-Männer.[242] Die Pferde standen, wenn auch vor Angst zitternd, und schnoben mit weit aufgerissenen Nüstern in die Lichter.
Auf dem Hintersitze des Wagens lag eine Gestalt ausgestreckt; der Schein einer Laterne fiel in ein bleiches, verwüstetes Gesicht.
Es war Arthur.
»Was heißt das?« fragte ich.
Hans fragte nicht; er wußte, was das heißt, wenn Leute, die kein Maaß zu halten gelernt haben, auf dem Heimwege von einer Landpartie mit Ananas-Bowle in dem Wagen liegen und kein Rasen der entfesselten Elemente sie aus ihrem schnöden Schlaf zu wecken vermag.
»Den lassen Sie nur,« sagte der Kutscher, »der liegt fest.«
»Einer von Euch muß hier bleiben,« rief ich zu den Laternenträgern gewandt; »Ihr Andern vorwärts!«
Wir gingen weiter, während die Leute – es waren ihrer noch fünf oder sechs – die Laternen hoch hielten, und wir zu gleicher Zeit so laut wir konnten riefen: man möchte versuchen, heranzukommen.
Man antwortete von hierher und dorther; es wurde jetzt klar, daß die ganze Gesellschaft weit auseinandergesprengt war. Nur die Wagen hatten noch einigermaßen zusammengehalten, eine Minute später trafen wir auf den zweiten, der umgestürzt war und von den rasenden Pferden in Trümmer geschlagen wurde, bis es uns nicht ohne Mühe gelang, die Thiere abzuschirren.
Dann kamen wir auf den dritten, der etwas abseits bis über die Achsen in dem sumpfigen Grunde stecken geblieben war, nachdem es dem Kutscher gelungen, die Stränge zu zerschneiden.
Und nun gestaltete sich die sonderbarste, unheimlichste Scene. Die Blitze zuckten so unaufhörlich, daß wir von dem grauenhaften Licht vollständig eingehüllt schienen. Dazu das Rufen und Schreien der geängsteten Menschen, die jetzt von allen Seiten herbeikamen, das Fluchen der Kutscher und Knechte, das Schnauben und Schnaufen der geängsteten Pferde; dazwischen das Grollen und Rollen der Donner, das Sausen und Pfeifen der Windstöße, die mit zum Theil furchtbarer Gewalt über die Haide rasten, und den Regen nicht herabkommen ließen, der uns in einzelnen schweren Tropfen in das Gesicht schlug; die ganze Gesellschaft, so weit sie jetzt[243] versammelt war, einer Schaar gleichend, die zur Hinrichtung geführt werden soll: die Männer mit verstörten Mienen, die Frauen todtenbleich, und alle die Spuren des Umherirrens in der Haide und auf dem Sumpfboden nur zu deutlich an sich tragend.
Aber, wenn es schwer gewesen war, sie zusammenzubringen, so sah ich bald, daß es unmöglich war, sie zusammen zu halten! Alle drängten sie vorwärts, weiter! Wozu man auch nur noch eine Secunde verlieren wolle: man sei ja beisammen! Der Regen werde im nächsten Augenblicke herabströmen, die Laternen vielleicht verlöschen, und was solle dann werden? »Vorwärts, vorwärts! meine Herrschaften!« kreischte der Steuerrath; Herr von Granow rief auch: »Vorwärts, vorwärts! –« und die Gesellschaft setzte sich in Bewegung.
Es war mir bei der unbeschreiblichen Verwirrung, die herrschte, bei dem Rufen, Schreien, Durcheinanderrennen so vieler Menschen unmöglich gewesen, zu constatiren, ob denn wirklich alle, wie behauptet wurde, beisammen seien; das aber wußte ich ganz gewiß, daß ich sie, die ich einzig und Allein gesucht, noch nicht gesehen hatte, ebensowenig wie Fräulein Duff. Ich weiß nicht warum – oder hatte ich es von Einem der Gesellschaft behaupten hören? – aber ich hatte angenommen, daß die beiden Damen in dem vierten Wagen, der noch weiter zurück war, und unversehrt sein sollte, sich befinden mußten; aber in dem Augenblick, als die Gesellschaft mit den Laternen aufbrach, kam jener vierte Wagen auch heran.
Ich stürzte darauf los: in dem Wagen – der großen Chaise des Commerzienraths – war außer einer Menge Mäntel und Shawls, die man in der Eile zurückgelassen hatte, nur Fräulein Duff, die in einer Ecke lehnte, und mich, vor Angst mehr todt als lebendig, mit halb gebrochenen Augen anstierte. Vergeblich, daß ich aus ihr herauszubringen suchte, wo denn Hermine geblieben sei? Sie murmelte nur, wie im Fieber: »suche treu, so findest Du!« und brach dann in krampfhaftes Weinen aus. Nun berichtete Anton, der unterdessen an den Strängen geknüpft hatte, das Fräulein sei vor noch nicht zehn Minuten aus dem Wagen gesprungen, erst, als die Laternen schon ganz nahe waren. Er wisse nicht warum, denn das Fräulein habe sich gar nicht so gefürchtet, wie die Andern und noch kurz vorher zu Fräulein Duff gesagt, sie werde sie gewiß nicht verlassen. Links hin sei sie[244] gegangen, wenn er recht gesehen, aber er wisse es nicht gewiß, er habe mit den Pferden zu viel zu thun gehabt, die bis jetzt ganz gut gewesen seien, aber nun wollten sie ja wohl auch nicht mehr stehen.
Damit war er wieder auf den Bock gestiegen und begann den Andern nachzufahren; ich rief ihm zu, daß er auf jeden Fall bleiben müsse. Hörte er mich nicht, oder wollte er mich nicht hören, konnte er die Pferde nicht länger bändigen, – auf jeden Fall war ich in der nächsten Minute allein, während der Trupp mit den Laternen sich unter Hans' Führung über die Haide nach dem Walde bewegte.
Ausgewählte Ausgaben von
Hammer und Amboß
|
Buchempfehlung
»Es giebet viel Leute/ welche die deutsche poesie so hoch erheben/ als ob sie nach allen stücken vollkommen wäre; Hingegen hat es auch andere/ welche sie gantz erniedrigen/ und nichts geschmacktes daran finden/ als die reimen. Beyde sind von ihren vorurtheilen sehr eingenommen. Denn wie sich die ersten um nichts bekümmern/ als was auff ihrem eignen miste gewachsen: Also verachten die andern alles/ was nicht seinen ursprung aus Franckreich hat. Summa: es gehet ihnen/ wie den kleidernarren/ deren etliche alles alte/die andern alles neue für zierlich halten; ungeachtet sie selbst nicht wissen/ was in einem oder dem andern gutes stecket.« B.N.
162 Seiten, 8.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.
390 Seiten, 19.80 Euro