Neunundzwanzigstes Capitel.

[314] Als ich nach Hause kam, war es ein Uhr; mir war das unbegreiflich. Ich hatte die Empfindung, als ob nicht Stunden, sondern Wochen vergangen wären, seit ich Hermine zuletzt gesehen. Ich ging auf den Fußspitzen in unser Schlafgemach und beugte mich über ihr Bett. Sie lag so ruhig da, den einen Arm über den Kopf gelegt, den andern auf der Bettdecke,[314] wie ein schlafendes Kind. Und wie eines Kindes war der Ausdruck ihres Gesichtes, als wenn ein glücklicher Traum durch ihre Seele zöge. Es kam mir wie ein Verbrechen vor, mit der Welt von Schmerz und Jammer in meinem Herzen neben dieser seligen Ruhe zu wachen, und wie hätte ich schlafen können! So schob ich denn leise den Schirm wieder vor die Nachtlampe und ging leise aus dem Schlafgemach durch die dunklen Wohnzimmer in das meine, wo ich bereits ein Licht entzündet hatte.

Und in dem düstern Schein dieses Lichtes, das nur hier und da einen der Gegenstände hervortreten ließ, saß ich stundenlang vor dem Kamin, in welchem längst das letzte Fünkchen in der Asche verglimmt war, unsäglich Schmerzhaftes in meiner verstörten Seele wälzend. Vergeblich, daß ich an den alten heiteren Muth appellirte – er schien erkaltet, wie die Kohlen dort vor mir, die auch einst heiß geglüht und frisch geflackert hatten; – vergebens, daß ich mich an all' das Gute, Liebe zu erinnern suchte, das mir das Leben gebracht, woran mein Leben ja noch immer reich war – es wollte mir nichts in dem alten Lichte erscheinen: alles grau und todt und leer, als wäre die Welt eine einzige Brand- und Trauerstätte, auf der jeder Baum verkohlt und jedes Blatt vertilgt war, und als wandelte ich trostlos, verlassen umher zwischen den Ruinen vergangener Herrlichkeit.

Endlich mußte mich doch die Abspannung nach so ungeheurer Aufregung überwältigt haben.

Und mir träumte: es war eine graue Dämmerung, die nicht Nacht und nicht Tag war. Ich schweifte allein auf der kahlen Fläche des Zehrendorfer Vorgebirges, über die ein scharfer, rauher Wind vom Meere her fegte. Es war ganz kahl und öde und nichts außer mir zu sehen, als die Ruine der alten Zehrenburg, die stumm und trotzig in die Dämmerung ragte. Aber als ich herantrat, war es nicht mehr die Burg, sondern ein riesenhaftes Bildniß von Stein, das wiederum niemand anderes war, als der wilde Zehren, der mit den starren, glanzlosen Augen nach Westen schaute, wo im ewigen Meere die Sonne auf immer für ihn versunken war. Und trotzdem kein Licht die graue Dämmerung erhellen wollte, blinkte hell und lustig ein goldenes Geschmeide, das der steinerne Riese, der der wilde Zehren war, um den Hals trug, und so blitzten die goldenen Sporen an den steinernen[315] Füßen und blitzte die nackte Klinge des breiten Ritterschwertes, das quer über seinen steinernen Knien lag. Und als ich noch immer mit Grausen das Bildniß betrachtete, kam eine kleine Gestalt durch den hohen Ginster und näherte sich dem steinernen Riesen, den sie von allen Seiten lauernd umschlich. Die kleine, seltsame Gestalt war aber der Commerzienrath, und er schnitt die drolligsten Gesichter und machte die wunderlichsten Capriolen, als er den Riesen so fest schlafend fand. Plötzlich fing er an, an den Knien hinaufzuklettern, stellte sich auf die Fußspitzen und nahm dem Riesen die goldene Kette vom Halse, die er selbst umhing, sprang dann hinab und nahm das Schwert; zuletzt auch die goldenen Sporen, die er sich an die eigenen Füße schnallte. So schritt er mit lächerlicher Grandezza in des Ritters Schmuck hin und her, versuchte auch das Schwert zu schwingen, das er nicht heben konnte, während er mit den Sporen fortwährend im Ginster hangen blieb, und die schwere Kette ihm die Schultern zusammendrückte, daß er plötzlich ein alter Mann mit krummem Rücken wurde, der sich kaum auf den Füßen halten konnte, und trotzdem versuchte, auf der scharfen Uferkante hart am Rande der Kreidefelsen, die lothrecht hinabfielen zur See, einher zu balanciren, wie ein Seiltänzer auf dem Seil. Ich wollte ihm zurufen, er solle das gewagte Spiel sein lassen, um Herminens Willen, aber ich konnte nicht rufen, ich konnte mich nicht bewegen, und plötzlich taumelte er über den Rand; ich hörte, wie der Körper unten auf den Kieseln des Strandes aufschlug, und der Riese fing an zu lachen, so laut, so dröhnend, daß ich jäh emporfuhr, und mit wildklopfendem Herzen mich in dem Zimmer umsah, in welches durch die Gardinen eine graue Dämmerung hineinfiel, die nicht Nacht und nicht Tag war, gerade wie in dem Traum, und so hörte ich auch noch immer das dröhnende Lachen; aber es waren Schläge, mit denen eine ungeduldige Hand gegen die Hausthür pochte. Ich verließ das Zimmer, um selbst zu öffnen.

»Was giebt es?«

»Eine Empfehlung an Herrn Hartwig, und – und, ach, Sie sind es ja selbst!«

Es war der Hausknecht aus dem Hotel, in welchem mein Schwiegervater schon seit einer Reihe von Jahren wohnte, so oft er in der Stadt war.

»Ja, ja, was giebt's?«[316]

»Eine Empfehlung,« stammelte der Mann, »von meinem Herrn, und – und der Herr Commerzienrath ist soeben in seinem Bette todt gefunden worden.«

Ich sah dem Mann starr in das Gesicht; er glaubte vermuthlich, daß ich ihn nicht verstanden habe, und stotterte seine ungeschickte Bestellung noch einmal her; aber ich hatte ihn ganz gut verstanden, wenigstens was die Worte betraf. Der Commerzienrath war in seinem Bette todt gefunden worden. Das spricht sich ja ganz leicht, und man versteht es ja auch ganz leicht. Der Herr Commerzienrath ist in seinem Bette todt gefunden worden!

»Ich werde gleich kommen,« sagte ich.

Der Mann eilte davon; ich ging in mein Zimmer zurück, zog meinen Ueberrock an, setzte meinen Hut auf, nahm statt der hellen Handschuhe, die ich gestern Abend getragen, ein paar dunkle – ganz mechanisch, als ob ich zu einem einfachen Geschäftswege auszugehen hätte. Der Commerzienrath ist in seinem Bette todt gefunden worden, wiederholte ich, wie ich die Meldung wiederholt haben würde, wenn sie auf dem Bureau eingetroffen wäre: der Kessel in der und der Werkstatt ist geplatzt.

Dann zuckte ich auf einmal zusammen, als wäre mir ein Stich in's Herz gefahren: Armes Kind, murmelte ich, armes Kind! Wie wird sie es nehmen? aber es giebt so viel Unglück in der Welt, so viel Unglück, und es war ja ein alter Mann!

So verließ ich das Haus, in welchem sich jetzt die Leute zu regen begannen.

»Sie gehen heute früh aus;« sagte der Portier, der eben aus seiner Loge kam. »Es ist doch nichts in der Fabrik passirt?«

Ich antwortete nicht; erst auf der Straße fiel mir ein, was der Mann gesagt hatte. Es war gegen sieben Uhr und bereits vollkommen hell. Der Wind war nach Westen umgesprungen und fegte durch die Straßen. Es regnete; von den Dächern rannen Wasserbäche, und der in der Nacht reichlich gefallene Schnee hatte sich zum größten Theil in grauen Schlamm verwandelt, durch den sich die Brod- und Milchkarren traurig schleppten. Mich fröstelte, und ich sagte mir, daß es ein sehr häßlicher, böser Morgen sei, aber zu einer anderen Empfindung konnte ich es nicht bringen. An einer[317] Ecke begegnete mir ein Leichenwagen ohne Gefolge. Der Kutscher auf seinem hohen Bock hatte sich den dreieckigen Hut tief in das Gesicht gedrückt, die abgetriebenen Gäule gingen halb Schritt, halb Trab, der Wagen glitt in dem grauen Schneeschlamm hin und her und das schwarze, fadenscheinige Bahrtuch, das über den Wagen gedeckt war, peitschte der Wind hinüber und herüber. Das kann doch nicht schon der Commerzienrath sein? sagte ich, dem unheimlichen Fuhrwerk gedankenlos nachblickend.

So kam ich zu dem Hotel.

»Nummero Elf, die erste Thür rechts, wenn Sie die Treppe hinauf kommen!« sagte der Portier.

Er begleitete mich die Treppe hinauf, wohl mehr aus Neugierde, als aus Theilnahme, und erzählte, der Herr Commerzienrath seien gestern Abend mit dem letzten Zuge angelangt und ganz besonders munter gewesen, und er hätte den Auftrag gehabt, den Herrn Commerzienrath heute Morgen um halb sieben Uhr zu wecken, weil der Herr Commerzienrath ein Billet an den Herrn Hartwig zu schicken habe. Und er habe zur Minute an die Thür geklopft, und der Herr Commerzienrath habe ganz deutlich gerufen: es sei gut, und Louis soll den Kaffee bringen, und als Louis zehn Minuten später den Kaffe gebracht, da habe der Herr Commerzienrath nicht geantwortet, und sei todt gewesen. Wer sollte das gedacht haben, so ein rüstiger, alter Herr! Und es sei auch gleich nach dem Herrn Doctor Snellius geschickt, weil er der Hausarzt von dem Herrn Hartwig sei, und der Herr Doctor werde gewiß jeden Augenblick kommen. Diese Thür, Herr Hartwig, diese Thür!

Die Thür war nur angelehnt. Der Wirth des Hotels, der Oberkellner, und noch ein anderer, wenn ich mich recht erinnere, standen mitten in dem großen, zweifenstrigen Gemach, in welches durch die nur halb zurückgezogenen Vorhänge der düstere Morgen düster hereinblickte. Vor dem Bett, ganz im Hintergrund des Zimmers, brannten auf einem Nachttische zwei Lichter.

»Wir haben Alles so gelassen, wie wir es gefunden haben,« sagte der Wirth mit gedämpfter Stimme, während er mit mir auf das Bett zuging. »Es ist Grundsatz bei mir, in solchen Fällen die größte Discretion zu beobachten. Man braucht sich dann hinterher keine Vorwürfe machen zu lassen,[318] und erspart sich viele Unannehmlichkeiten. Der Herr Commerzienrath liegen noch genau so, wie ihn Louis gefunden hat, und da steht auch noch das Kaffebrett, wie es Louis aus der Hand gesetzt hat.«

Da stand das Kaffebrett, wie es Louis aus der Hand gesetzt, und da lag der Commerzienrath, wie ihn Louis gefunden. Das Licht von den beiden Kerzen, die lange, feurige Schnuppen angesetzt hatten, fiel hell genug in sein Gesicht, auf das ich jetzt herabblickte. Und die Gesichter noch zweier Todten traten mir vor die Seele: das des wilden Zehren und das meines theuren, väterlichen Freundes. In den finstern Zügen des Wilden hatte düsterer Trotz gelegen, wie auf dem eines Indianer-Häuptlings, der am Marterpfahle Spottlieder auf seine Peiniger singt; auf dem milden Antlitz seines größeren Bruders hehre Ruhe, wie eines Heilands, der da weiß, daß er nicht für sich gestorben ist. Wie anders war dies Gesicht! Um den großen Mund etwas wie das hämische Lächeln, das ihm gewöhnlich war, wenn er Jemand überlistet zu haben glaubte; die Augen halb geschlossen, wie er es zu thun pflegte, wenn er nicht sehen lassen wollte – und wann hätte er das je gewollt! – was er im Schilde führte; über das ganze, alte, verschrumpfte, gelbe Gesicht die trügerische Wolke ausgebreitet, in die er sich zu hüllen liebte, – nur daß er die Wolke jetzt noch ein wenig dichter um sich gezogen, nur daß dies nicht eines seiner alten Tintenfisch-Manöver, nur daß es der Tod war.

»Und wir sind gestern Abend noch so munter zusammen gewesen,« flüsterte der Wirth; »wir haben bis halb Zwei im Speisesaal gesessen und drei Flaschen Champagner getrunken; der Herr Eisenbahndirector Schwelle war auch da. Ich habe den alten Herrn genug gewarnt; in seinen Jahren muß man denn doch ein wenig vorsichtiger sein. Und hier liegt ja auch noch das Billet, das heute Morgen an Sie geschickt werden sollte.«

Es war ein Blatt, welches er aus seiner Brieftasche gerissen haben mußte; halb voll geschrieben; der Bleistift, mit welchem er geschrieben, lag dabei. Ich hob das Blatt auf; die Schriftzüge waren sehr leserlich, ja fester, als ich sie in der letzten Zeit von ihm gesehen: »Lieber Sohn, ich bin gestern Abend angekommen und möchte Sie gern sprechen, bevor Sie aus der Fabrik nach Hause gehen. Warten Sie also auf[319] mich, wenn ich bitten darf. Ich muß noch vorher zur Börse, wo ich heute vielen neidischen Gesichtern begegnen werde. Man wird heute sehen, wie schnell ein alter Practicus kleine Scharten auswetzt, doch darüber Näheres mündlich. Laßt doch absagen, falls Ihr heute ausgebeten wäret, ich möchte gern einmal wieder mit Euch essen. Aber ich bitte, keine Umstände! Nur, wenn es sein kann, mein Lieblingsgericht, Magdeburger Sauerkraut und etwa –«

Der Küchenzettel war nicht fertig geworden; und da lag der Gast – ein sehr stiller Mann.

»Der Tod hat ihn mitten im Schreiben überrascht,« sagte der Wirth, dessen Discretion ihm doch erlaubt hatte, an meiner Schulter vorbei in das Blatt zu blicken. »Wie schnell das manchmal –«

Plötzlich stand der Doctor an unserer Seite; ich hatte ihn nicht kommen hören. Er nickte mir nur stumm zu, und beugte sich über den Todten. Das dauerte einige Zeit. Dann richtete er sich auf – er brauchte nicht lange Zeit dazu, der kleine, gute Doctor – und sagte zum Wirth gewendet; »möchten Sie mir wohl ein Weinglas reinen Jamaica-Rums zum Sieden bringen lassen; aber zum Sieden und reiner Rum muß es sein! Sie thäten vielleicht besser, selbst nachzusehen.«

»Gewiß, gewiß!« sagte der Wirth; »ich halte es für meine Pflicht, bei dergleichen Fällen Alles zu thun, was in meinen Kräften steht.«

»Und Sie gingen wohl und sorgten dafür, daß ich es gleich bekomme; und Sie, junger Herr, sagten meinem Kutscher, daß er warten solle.«

»Zu Befehl, zu Befehl!« riefen die Kellner, und eilten ihrem Chef nach.

»Haben Sie denn Hoffnung?« fragte ich.

Der Doctor antwortete nicht. Er hatte noch einen schnellen Blick auf die Thür geworfen. Dann trat er rasch an's Bett schlug die Decke zurück, die der Todte sich über Brust und Arme bis an's Kinn gezogen hatte, und dann sah ich, wie er ein kleines Fläschchen, das er irgend wo unter der Decke, aus den erstarrten Händen des Todten vielleicht, genommen hatte, zuerst vorsichtig an die Nase führte, es dann in ein Blatt Papier wickelte und in die Westentasche steckte.

»Es hat zu schnell gewirkt;« sagte der Doctor; »er hat das nicht einmal mehr hinter's Bett werfen können. Wenn[320] es nicht anderweitig nothwendig ist, braucht Ihre Frau ja wohl nicht zu erfahren, daß ihr Vater sich vergiftet hat!«

Ich stöhnte laut.

»Muth, Muth!« sagte der Doctor, »es ist dies eine Welt, in der es manchmal verzweifelt dunkel wird. Aber das läßt sich nicht ändern, und Sie haben jetzt an Weib und Kind zu denken.«

Als ich eine Stunde später nach Hause ging, heulte der Frühlingswind noch gerade so durch die verregneten Straßen wie vorhin, und genau an derselben Ecke, wie vorhin, begegnete mir derselbe Leichenwagen, der jetzt in demselben schlotternden Trabe zurückkam. Ich sah ihn an, ohne die leiseste Regung einer Empfindung, die für immer in meiner Brust ausgestorben schien. Ja, ja, der Doctor hatte Recht: es wird manchmal um uns her verzweifelt dunkel in dieser Welt; und ich glaube nicht, daß sie mir noch dunkler erschienen sein würde, hätte ich gewußt, was ich nicht wußte, daß in dem Palais des Fürsten, an welchem ich auf meinem Wege nach Hause vorüber mußte, seit einer halben Stunde hinter den heruntergelassenen Vorhängen der Letzte aus dem Mannesstamm der Fürsten von Prora-Wiek, Grafen von Ralow, sein junges Leben unter den Händen der Aerzte aushauchte.

Quelle:
Friedrich Spielhagen: Sämtliche Werke. Band 2, Leipzig 1874, S. 314-321.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Hammer und Amboß
Hammer Und Amboss; Roman. Aus Hans Wachenhusen's Hausfreund, XII (1869 ) (Paperback)(English / German) - Common
Friedrich Spielhagen's sämtliche Werke: Band X. Hammer und Amboss, Teil 2
Hammer Und Amboss; Roman in 5 Banden Von Friedrich Spielhagen
Hammer Und Amboss: Roman... Volume 2
Hammer & Amboss (German Edition)

Buchempfehlung

L'Arronge, Adolph

Hasemann's Töchter. Volksstück in 4 Akten

Hasemann's Töchter. Volksstück in 4 Akten

Als leichte Unterhaltung verhohlene Gesellschaftskritik

78 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon