Neuntes Capitel.

[102] Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich so durch die Gassen geirrt bin; ich habe nur noch eine undeutliche Erinnerung an gewaltige Häusermassen, die dunkel in das schmutzige Grau der Nacht hinaufragen; an Schneeflocken, die in dem gelben Licht der Laternen aus dem schmutzigen Grau herabtanzen; an Fuhrwerke, die auf dem frischgefallenen Schnee lautlos fast an mir vorüber rollen, und Fußgänger, welche mit vorübergebeugten Köpfen, und sich, so gut es gehen will, vor dem Schneesturm schützend, an mir vorbeihuschen.

Es waren der Fußgänger nicht allzuviele, denn Jeder suchte ein Obdach vor dem bösen Wetter. Was draußen war, mußte eben draußen sein, wie die armen, unglücklichen Geschöpfe, die den Vorübergehenden mit bleichen, starren Lippen Worte zumurmelten, welche warm und einladend klingen sollten; die armen Geschöpfe, deren verlockender Name eine so entsetzliche Ironie ist zu dem Verweilen, Verweilen-Müssen in schneebedeckten, von eisigem Wind daurchschauerten Straßen.

Und eine solche Unglückliche glaubte ich auch vor mir zu haben, als ich durch eine breite Straße des vornehmsten Quartiers irrend, zu einem der kleineren Palais gekommen war, vor dessen Thür soeben im schnellsten Trabe ein von zwei[102] feurigen Pferden gezogener Wagen vorfuhr, dessen Laternen ein blendendes Licht ringsumher warfen. Und in dem Licht dieser Laterne stand das Mädchen, dicht an die Mauer gedrückt, und ich sah, daß sie in dem Augenblicke, wo der Jäger von dem Bock sprang und seinem Herrn aus dem Wagen half, ein paar Schritte vorwärts kam und den Arm aus dem Mantel streckte, als wollte sie den aus dem Wagen Springenden aufhalten. Aber er hatte den Pelzkragen seines Mantels in die Höhe gezogen und bemerkte, eilig die Stufen emporsteigend, die Gestalt nicht. Die Thür, durch welche man in ein hellerleuchtetes Treppenhaus geblickt hatte, schloß sich hinter dem Herrn und seinem Diener; der Kutscher berührte die edlen Thiere mit der Peitschenspitze, der Wagen rollte davon und verschwand in dem weitgeöffneten Thor eines Nebengebäudes.

Es war Niemand mehr draußen, als ich, das arme Mädchen und die Schneeflocken, die aus dem Dunkeln herabtanzten in dem gelblichen Schein der Laternen. Das Mädchen kam auf mich zu, an mir vorüber. Sie sah mich offenbar nicht; aber ich sah sie und der Schein einer der Laternen fiel hell in ihr schmerzverzerrtes Antlitz.

»Konstanze!« rief ich.

Sie blieb stehen und starrte mich mit den brennen den, schwarzen Augen an.

»Konstanze!« wiederholte ich. »Ich bin es; kennen Sie mich nicht mehr? Georg –«

»Mein Drachentödter, der alle Drachen erschlagen wollte, die auf meinem Wege waren! Warum haben Sie den nicht erschlagen, nicht den?« Und sie lachte gell auf und deutete mit zitternder Hand auf die Thür, hinter welcher der Fürst von Prora verschwunden war.

Der Mantel war aufgeflogen und flatterte von dem eisigen Winde gepeitscht um sie her; ich sah, daß sie noch in ihrem Preciosa-Costüm war. Sie mußte, wie sie da war, von der Bühne auf die Straße gestürzt sein. Die Schneeflocken wirbelten ihr in das heiße Gesicht! – arme Konstanze, armes Weib, murmelte ich und ich zog ihr den Mantel dicht über die Schultern, legte ihren Arm in den meinen und suchte sie vor Allem von diesem Orte zu entfernen. Sie folgte mir willig, und so schritten wir beide neben einander dahin durch die langen, vom Wind durchsausten Straßen, indem[103] ich von Zeit zu Zeit auf die Unglückliche herabschaute, die sich jetzt fester an mich klammerte, und sie in theilnehmendem Tone fragte: »wie es ihr gehe? und wohin ich sie führen solle?«

Ich hatte diese Fragen schon mehrmals wiederholt, ohne eine Antwort zu erhalten, als sie plötzlich stehen blieb und durch die bleichen Lippen murmelte: »ich kann nicht mehr!« Es schien mir, als ob sie im nächsten Augenblick in Ohnmacht fallen werde. Ich war in der größten Verlegenheit. Auf der Straße war nirgend ein Wagen zu erblicken, überdies hatten wir uns auf unserer ziel- und planlosen Flucht weit aus dem eleganten Quartier entfernt, in welchem, wie sie mir jetzt auf mein Andringen sagte, ihre Wohnung sich befand. Dafür aber waren wir, ich weiß noch heute nicht wie, ganz in die Nähe meiner Wohnung gelangt. Ich hielt es für das Beste, ja für das Einzige, was sich thun ließ, sie dort hinzuführen. »Sie können sich wenigstens da so lange aufhalten,« sagte ich, »bis Sie sich wieder erwärmt haben und ich einen Wagen herbeizuschaffen im Stande gewesen bin.« Ohne ein Wort zu erwiedern, folgte sie mir. Den Schlüssel zu der Außenthür hatte ich bei mir, so brauchte ich nicht einmal den alten Wächter zu incommodiren, und sein Spitz, der uns knurrend entgegen kam, sprang, als er mich erkannte, freudewedelnd an mir herauf. Ich wünschte mir Glück, auf diesen Ausweg gekommen zu sein, denn Konstanze hing schwer an meinem Arm; ich mußte sie die letzte Strecke über den Hof und die Stufen zu meiner Wohnung hinauf beinahe tragen. Ja, als wir auf meinem Zimmer angelangt waren, und ich sie bei dem matten Schein des Kohlenfeuers im Kamin zu dem großen Sessel geführt hatte, sah ich, nachdem ich schnell ein Licht angezündet, daß ihre Augen starr und halb geschlossen waren, während eine riefe Blässe ihre schönen Züge bedeckte. Meine Verwirrung in dieser für mich so vollständig neuen Situation war weniger groß, als ich selbst vermuthet haben würde. Ich wüßte nicht, daß ich einen anderen Gedanken gehabt hätte, als, wie ich ihr, die der Hülfe so bedürftig war, so schnell als möglich möchte helfen können. Ich schürte das Feuer, daß die Flammen hell aufleuchteten; ich nahm ihr den vom Schnee durchnäßten Mantel ab und hüllte sie in ein Plaid, welches unter meinen Sachen hing, ich schlug ihre Füße in eine Decke und nahm ihre kalten[104] Hände und erwärmte sie in den meinen. Dann fiel mir ein, daß eine Tasse Thee, die ich bereiten konnte, besonders dienlich sein dürfte. So eilte ich denn an meinem Schrank, nahm die Theesachen heraus, und gab ihr, nachdem ich in einem Blechgefäß auf den glühenden Kohlen das Wasser schnell zum Kochen gebracht hatte, von dem labenden Getränk, in das ich nicht vergaß, ein paar Theelöffel guten Cognacs hinein zu thun. Sie schlürfte gierig die Schaale aus, ich reichte ihr noch eine, die sie ebenso schnell leerte.

Der heiße Trank schien ihr besonders wohl gethan zu haben; sie heftete ihre Blicke auf die Bilder an den Wänden, auf die Meubel, endlich auf mich und sagte, mir die kleine zarte Hand reichend, in welcher jetzt wieder warmes Leben pulsirte: »Wie gut Sie sind, wie engelsgut! Sie sind der beste Mensch von Allen, die ich je kennen gelernt; wie viel glücklicher hätte mein Leben werden können, wären Sie nur ein paar Monate früher zu uns gekommen; Sie guter, guter Georg!«

Es war wieder die Konstanze von damals; dasselbe verführerische Geplauder in derselben melodiösen, weichen Stimme; und ich, der ich nun so gut wußte, was von dieser Güte, von dieser Holdseligkeit zu halten war, ich stand da, wie ein großer Hans, der ich war, von dem alten süßen Ton bis in die tiefste Seele durchschauert und von dem Druck ihrer Hand zitternd vom Kopf bis zu den Füßen. Dann freilich machte die Vernunft eine Anstrengung, ihre Herrschaft ein für alle Mal wieder zu erobern. Ich zog meine Hand aus ihrer Hand, trat bis zu dem Kamin zurück und sagte, indem ich, scheinbar mit größter Ruhe, die auf den Rücken gelegten Hände wärmte: »Sie sind sehr gütig; aber ich darf über Ihrer Güte nicht vergessen, daß ich mich anheischig gemacht habe, Sie wohlbehalten in Ihre Wohnung zu bringen. Wenn Sie sich so fühlen und wenn es Ihnen recht ist, gehe ich jetzt, den Wagen zu holen.«

»Sie zürnen mir noch,« erwiederte sie, sich in den Sessel zurücklehnend, und zu mir unter den langen Wimpern aufblickend. »Warum zürnen Sie mir? Was habe ich Ihnen gethan? Was habe ich gethan, das nicht jede Andere an meiner Stelle auch gethan hätte? Ich habe für meine Liebe meinen Ruf, meine Existenz, mich selbst hingegeben; sollte ich da für die Gefühle eines jungen Menschen, der schwerlich[105] wußte, was er wollte, eine so zärtliche Sorgfalt tragen? Haben Sie mich geliebt? Haben Sie mich geliebt?« wiederholte sie, indem sie aufsprang und mir in die Augen starrte. »Sie haben mich nicht geliebt; Sie würden jetzt nicht so ruhig dastehen können, und Sie sind es nie werth gewesen, daß es mir so schwer geworden ist, Ihnen den kleinen Betrug zu spielen. Wissen Sie, daß ich kindisch genug gewesen bin, nicht darüber hinwegzukommen? daß Ihr gutes Gesicht mit den treublickenden Augen immer und immer in meine Seele geschaut und mir Thränen der Reue erpreßt hat? Sie haben kein Recht, mir zu zürnen, Sie am allerwenigsten!«

Und sie warf sich wieder in den Sessel und verschränkte trotzig die Arme über die Brust.

»Wer sagt Ihnen, daß ich Ihnen zürne?« erwiederte ich.

»Sie müssen mir zürnen,« erwiederte sie mit einer Art von Heftigkeit; »ich will, daß Sie mir zürnen, oder soll ich etwa wollen, daß Sie mich verachten? Ein Drittes giebt es nicht. Das Dritte wäre Gleichgültigkeit, und gleichgültig bin ich Ihnen nicht, nicht wahr, Georg? Nicht gleichgültig, trotzdem Sie sich jetzt erstaunliche Mühe geben, ganz gleichgültig zu erscheinen. Wenn sich zwei Menschen einmal so nahe gestanden haben, wie wir uns, und durch solche Erinnerungen mit einander verbunden sind, wie wir, können sie sich niemals ganz in jener Wüste verlieren, die man Gleichgültigkeit nennt. Wissen Sie, daß, als ich vor einigen Wochen in der Ausstellung ein Bild von Ihnen entdeckte, ich erschrocken gewesen bin, als hätte ich einen Geist gesehen, und mich nicht wieder trennen konnte von dem Bilde und hernach noch oft zu demselben zurückgekehrt bin und Ihrem Andenken noch manche Thräne geweint habe? Dann sah ich aus dem Catalog, daß das Bild von meiner Cousine sei, und ich machte mir ein Paar aus Euch Beiden, ein glückliches Paar, und segnete Euch mit meinen innigsten Wünschen. Jetzt freilich sehe ich, daß es anders ist. Was sind Sie? was treiben Sie? wie kommen Sie in diesen sonderbaren Raum?« und sie blickte sich von Neuem in dem Gemache um.

»Ich bin ein einfacher Arbeitsmann,« erwiederte ich; »ein Schlosser in einer benachbarten Maschinenfabrik.«

»Schlosser – Maschinen – wie sagten Sie? das ist doch sonderbar; wer das geahnt hätte, an jenem Nachmittage, als ich Sie mit den anderen Herren auf die Jagd gehen sah,[106] in Stiefeln, die Ihnen hoch hinauf reichten, und einem kurzen Sammetrock, mit Flinte und Jagdtasche, so groß und stattlich, der größte und stattlichste von Allen! Was mein Vater wohl gesagt haben würde! Sie nahmen immer seine Partei; Sie thun es vielleicht noch jetzt; aber glauben Sie mir, er hat nicht gut an mir gehandelt, und wenn ich zu tadeln bin, und wenn ich ausgestoßen und verflucht bin, es fällt Alles, Alles auf ihn zurück. Wissen Sie, daß der alte Fürst von Prora, als mein Vater über seine Weigerung sich enzürnt stellte, ihm in's Gesicht geschleudert hat: mein Sohn kann ihr uneheliches Kind nicht heirathen, und ich mich mit einem Schmuggler nicht schlagen! da ist mein Vater aufgesprungen und hat den Fürsten erwürgen wollen; als ob ihm das seine Ehre und mir die meine wiedergegeben hätte! Und sehen Sie, Georg: das Alles habe ich nicht damals gewußt; ich habe es erst von Car – von ihm erfahren, in der Stunde, als er es vorzog, mich in einem fremden Lande allein zu lassen. Kann ein Mann wissen, was es für ein Mädchen heißt, von dem Manne, den sie nun, er mag es verdient haben oder nicht, geliebt hat, dem sie sich ganz hingegeben, auf den sie ihr Alles gesetzt hat – wie ein verzweifelter Spieler sein ganzes Vermögen auf eine Karte – wenn sie von ihm mit Spott und Schande hinausgestoßen wird in das Elend? Nicht in das gemeine, das beim Schein eines Arbeitslämpchens oder dem Flimmern der Straßenlaternen sein Brot sucht – ich war nach wie vor von Glanz und Luxus umgeben, und der Marquese von Serra di Falco war so viel reicher denn er, wie das sonnige Sicilien schöner ist, als unsere nebelumwogte Heimathsinsel. Und dennoch war es Elend, grenzenloses, glänzendes Elend, dem keine von uns entrinnt, die um ihre Liebe betrogen wird, man mag ihr dafür zahlen, was man will und wie viel man will. Ich habe es mit dem Haß versucht; aber der Haß ist nur der Zwillingsbruder der Liebe und die Geschwister können die gemeinsame Abstammung nicht verleugnen. Es giebt auch nur ein Mittel gegen die Liebe, das ist die Rache. Rächen Sie mich an ihm! Sie können es; Sie sind so stark; Sie haben ihn schon einmal in Ihrer Gewalt gehabt, in jener Nacht, als Sie ihn im Walde trafen; er hat es mir erzählt und gefragt, wer der Riese gewesen? Warum haben Sie ihn davon kommen lassen? Warum ihn nicht erwürgt? erschlagen? und sind dann zu mir gekommen und haben gesagt: ich bin dein Liebster,[107] denn ich bin stärker als der Andere, und haben mich auf Ihre Arme genommen und davon getragen? Aber Ihr Männer zeigt uns ja nie, daß Ihr Männer seid, und wundert Euch dann, daß wir mit Euch spielen! Als ob wir etwas anderes mit einem Geschöpf sollten, das wir nicht stärker sehen, als wir selbst sind, und wie oft so viel schwächer! Zeigen Sie, was Sie sein können, was Sie sind! Zertreten Sie dieser Schlange den Kopf und ich will vor Ihnen niederfallen und Sie anbeten!«

Sie hatte schon längst, während sie so sprach, den Plaid fallen lassen, in den ich sie gehüllt, und die Decke abgeschüttelt, sich aus dem Sessel erhoben, und war bei den letzten Worten vor mir auf die Kniee gesunken, die Arme zu mir erhebend. Der Flackerschein des Feuers flimmerte auf ihrer phantastischen Zigeunertracht, glänzte auf ihrem dunklen Haar, welches in aufgelösten Strähnen ihr über Wangen und Schultern floß, glühte auf ihrem Gesicht, das mir nie so tödtlich schön erschienen war. Der namenlose Zauber, mit dem sie mich einst umstrickt, überkam mich mit der ganzen alten Kraft; das Herz schlug mir bis in die Kehle und Fieberschauer rieselten mir durch den ganzen Körper, aber ich raffte mich mit der gewaltsamsten Anstrengung auf und sagte, indem ich ihr meine eiskalte Hand reichte und sie vom Boden hob:

»Sie wenden sich an den Unrechten. Uebertragen Sie Ihre Rache an dem Fürsten Dem, welcher ein näheres Interesse daran hat, dem jungen Manne zum Beispiel, an dessen Arm ich Ihnen in der Gallerie begegnet bin, und der heute Abend, wenn ich nicht irre, auch in dem Schauspiel der war, welchen Preciosa mit ihrer Huld beglückte.«

Knstanze hatte sich, die Augen immer fest auf meine Augen geheftet, langsam erhoben, und begann jetzt durch das Zimmer hin und her zu gehen, mit hastigen Schritten, bald vor mir stehen bleibend, bald wieder weiter schreitend, und dazwischen also sprechend: »Wie schlecht Ihr Männer seid, wie entsetzlich schlecht, und roh und gefühllos! Ist es darum, damit Sie mir das Härteste sagen, daß Sie mich hierher gelockt haben? Ist das Ihre Gastfreundschaft? Glauben Sie, Ihr Feuer habe mich allzu sehr erwärmt, daß Sie mich jetzt mit Eiswasser überschütten? Aber Euer Herz ist nur so kalt, weil Euer Verstand so plump ist, weil Ihr zum Beispiel nicht begreifen könnt, daß eine Frau, die man von Jugend auf mit[108] der Hoffnung auf dereinstige Herrlichkeit gewiegt hat, und die den Traum ihres Lebens fast verwirklicht sah, wenn dieser Traum nun zerrinnt wie leichter Nebel, wenn sie mit ihren hochgespannten Empfindungen, mit ihrem verwöhnten Geschmack, mit ihren sorgsam gepflegten Ansprüchen an Schönheit und Luxus einer gemeinen Wirklichkeit ausgeliefert werden soll – daß eine solche Frau mit Nothwendigkeit wenigstens nach dem erbärmlichen Schein der glänzenden Stellung trachten muß, die sie unwiederbringlich verloren sieht! daß die Geliebte von Prinzen nichts Anderes sein kann, als eine Theater-Prinzessin! Und nicht einmal den traurigen Schein läßt er mir ungestört! Wieder drängt er sich herbei, der Verhaßte, und vergällt mir meinen Triumph! Doch was rede ich von dem Allen einem Mann, der das nicht versteht, nie verstehen wird? der das glückliche Loos erwählt hat einer bescheidenen Existenz voll Arbeit und Mühe und ruhigem Schlaf?«

Sie blieb vor mir, der ich mich jetzt anstatt ihrer in den Sessel geworfen hatte, stehen, und fuhr fort mit sonderbar weicher, zitternder Stimme:

»Wenn ich schlafen könnte! wenn ich schlafen könnte! aus dem Quell trinken könnte, der Ihnen täglich quillt, und der Glücklichen quillen wird, die Sie dereinst an diesen trauten Heerd führen! Wenn ich das Fieber bannen könnte, das hier brennt, und hier – sie deutete auf Herz und Stirn – und mir keine Ruhe läßt, keine, keine Ruhe! Ach, so zu schlafen, von Rosmarin und Veilchen umduftet, den süßen Schlaf an einem treuen, starken Herzen!«

Und plötzlich fühlte ich, der ich gesenkten Hauptes, schmerzverloren, dasaß, wie ein paar weiche Arme sich um meinen Nacken schlangen, ein voller Busen sich an meine Brust drängte und ein paar heiße Lippen meine Lippen suchten. Wollte ein Traum, den ich, ein leidenschaftlicher, sinnlicher Knabe, einst geträumt, Wahrheit werden? oder träumte ich wirklich? Und war es nur, wie man aus einem Traum sich aufzuraffen strebt, daß ich sie an mich preßte, und dann aufsprang, und sie aus meinen Armen gleiten ließ, und wieder in meine Arme preßte?

Das Licht, welches uns zuletzt kaum noch geleuchtet hatte, sank in den Sockel und erlosch: nur in dem trügerischen Schein des Feuers sah ich die Umrisse der lieblichsten Gestalt, die sich fest und fester an meine Brust schmiegte;[109] und wie traumverloren hörte ich eine Stimme dicht an meinem Ohr: schlafen süßen Schlaf an einem treuen, starken Herzen!

Quelle:
Friedrich Spielhagen: Sämtliche Werke. Band 2, Leipzig 1874, S. 102-110.
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