Siebentes Capitel

[43] Oswald war mit Bruno aus den Bäumen, die den Rasenplatz umsäumten, dem Schlosse gegenüber herausgetreten. Sein rechter Arm ruhte auf des Knaben Schulter, der wiederum seinen Arm um Oswald's Hüften geschlungen hatte und lächelnd in das Gesicht des jungen Mannes aufschaute, während dieser angelegentlich zu ihm sprach. Als sie ein paar Schritte auf die Wiese gemacht hatten, blieben sie stehen. Oswald deutete mit der Hand nach der Richtung, aus der sie gekommen waren und Bruno sprang in das Gehölz zurück. Der junge Mann stand, die Rückkehr seines Freundes erwartend und köpfte mit dem Stäbchen, das er in der Hand trug, zum Zeitvertreib einige Gräser, die allzulang emporgeschossen waren. Er hatte keine[43] Ahnung davon, daß fünfzig Schritte von ihm ein Paar eben so schöner, wie scharfer Augen jeden seiner Züge musterte, jede seiner Bewegungen sorgfältig beobachtete.

Wenn das der neue Hauslehrer ist, so ist er ein Beweis mehr für den alten Satz, daß es zu jeder Regel Ausnahmen giebt. Der sieht wahrlich nicht aus, als ob er zu der Familie der Bemperlein's gehörte. Diesen eleganten Sommeranzug haben Sie wohl mit aus der Residenz gebracht. Sehr nett, in der That, für einen Hauslehrer fast zu nett. Sie scheinen etwas eitel zu sein, mein Herr, und lange Conferenzen mit ihrem Schneider zu halten. Aber Sie sind hübsch gewachsen, das muß man Ihnen lassen, und der kleine Schnurrbart steht Ihnen ausnehmend gut. Wollen Sie nicht gefälligst einmal den Kopf in die Höhe heben; ich wünschte Ihre Augen zu sehen. So – sauve qui peut!

Melitta trat, als Oswald jetzt zufällig die Augen aufschlug, schnell zurück, so daß sie hinter der Thür verborgen war. Sie warf einen flüchtigen Blick in einen Spiegel, der sich in der Nähe befand und glättete rasch ihr üppiges Haar. Dann näherte sie sich verstohlen wieder der Thür.

Bruno kam aus den Bäumen herbeigesprungen und zeigte Oswald ein Büchelchen: Hier ist es, rief er, aber Sie bekommen es nicht. Oswald wollte den muthwilligen Knaben haschen, der ihn immer herankommen ließ, um ihm dann jedesmal durch eine blitzschnelle Wendung, oder einen Satz, dessen sich ein Uncas nicht hätte zu schämen brauchen, zu entgehen.

Melitta war, durch das hübsche Schauspiel angelockt, aus ihrem Versteck getreten. Sobald Bruno ihrer ansichtig wurde, rannte er auf sie zu, und Oswald, der, über die unerwartete Erscheinung der Dame verwundert, stehen geblieben war, sah, wie der Knabe ihre Hände ergriff und mit stürmischer Zärtlichkeit an seine Lippen drückte.

Da bist Du ja, mein Wilder! sagte die Dame und streichelte die dunklen Locken des Knaben, wo hast Du denn den ganzen Nachmittag gesteckt?

Ich bin spazieren gewesen – mit Oswald, wollte sagen,[44] mit Herrn Doctor Stein; rief Bruno, und dann zu Oswald sich wendend, der grüßend näher getreten war, dies ist Frau von Berkow, Oswald, von der ich Ihnen nur noch heute Morgen erzählte; dies ist Herr Stein, Tante Berkow, den ich sehr, sehr lieb habe, und den Sie auch ein wenig lieb haben sollen.

Man darf seine Waare nicht zu sehr anpreisen, Bruno, sagte Oswald, sich lächelnd vor der jungen Frau verbeugend, oder der Käufer wird stutzig.

Nicht, wenn der Verkäufer so gut accreditirt ist, wie dieser Wildfang bei mir, sagte Melitta, leicht erröthend. Wie lange sind Sie schon auf Grenwitz, Herr Doctor?

Seit vierzehn Tagen etwa, gnädige Frau.

Sagte mir die Baronin nicht, daß Sie aus der Residenz kämen? fragte Melitta, die neugierig war, zu erfahren, ob sich ihre Vermuthung wegen Oswald's Anzug bestätigte.

Nicht direct, gnädige Frau; ich lebte zuletzt in Grünwald.

In Grünwald? das interessirt mich. Da könnten Sie mir ja gleich die beste Auskunft geben. Die Sache ist nämlich die – aber ich langweile Sie gewiß mit meinen indiscreten Fragen!

Bitte, gnädige Frau; ich würde mich glücklich schätzen, Ihnen irgendwie dienen zu können.

Sehr gütig. Die Sache ist die. Ich will meinen Sohn – er ist ungefähr in Bruno's Alter –

Oho, Tante, drei Jahre jünger! rief Bruno, der sich jetzt in einiger Entfernung auf einer Schaukelbank wiegte.

Welch' scharfes Ohr der Junge hat, sagte Melitta, ihre Stimme senkend. Also, ich will meinen Julius nach Grünwald auf's Gymnasium schicken. Oder vielmehr, ich muß, denn sein Lehrer, ein Herr Bemperlein, der schon sechs Jahre bei ihm ist, hat eine Predigerstelle bekommen und wird uns in diesen Tagen verlassen. Nun weiß ich nicht – aber da kommt die Baronin – ich muß meine tausend und eine Frage über tausend und ein verschiedene Dinge, die mir so vollkommen fremd sind wie meinem guten Bemperlein, der längst verlernt hat, wie es in[45] der Stadt aussieht, wenn er es überhaupt jemals wußte, auf eine gelegenere Zeit versparen. Hier kommt man ja doch nicht dazu. Wie wär's, Herr Doctor, wenn Sie mich in diesen Tagen mit Ihrem Besuche beehrten, morgen Nachmittag etwa?

Oswald verbeugte sich.

Ich habe den Herrn Doctor gebeten, mir morgen seinen Besuch zu schenken, sagte Melitta, zur Baronin gewandt, die in diesem Augenblick mit Mademoiselle Marguerite wieder in's Zimmer trat. Es ist wegen der Grünwalder Angelegenheit. Ihr habt doch nicht morgen Nachmittag etwas Besonderes vor, denn ich möchte nicht, daß der Herr Doctor Stein mir ein allzugroßes Opfer bringt.

Wir etwas vorhaben? sagte die Baronin; Sie kennen ja unser stilles Leben, liebe Melitta; im Gegentheil, ich denke, eine kleine Zerstreuung der Art wird Herrn Doctor Stein, der die Einförmigkeit eines ländlichen Aufenthalts sicher schon empfunden hat, recht willkommen sein. Ich selbst wollte Sie für morgen schon zu einem Besuche zu bestimmen suchen, Herr Stein; bei unserm Pastor, der schon empfindlich sein wird, daß Sie sich ihm noch nicht vorgestellt haben.

Nun, das läßt sich ja ganz gut vereinigen, sagte Melitta; morgen ist Sonntag, der Pastor Jäger wird entzückt sein, wenn Sie die nicht allzugroße Zahl seiner Zuhörer durch Ihre Person vermehren. Berkow ist von Faschwitz durch den Wald nur ein halbes Stündchen entfernt. Ich würde Sie gleich zu Mittag einladen, aber ich weiß, daß die Frau Pastorin Sie nicht sobald wieder fortlassen wird. Nun, was sagen Sie, Herr Doctor?

Ich kann den Damen nur meinen tiefgefühlten Dank aussprechen, daß Sie die Güte haben wollen, über meine Zeit besser zu disponiren, als ich es auf jeden Fall im Stande wäre, antwortete Oswald mit einer höflichen Verbeugung.

Das heißt: der Weise schickt sich in das Unvermeidliche, sagte Melitta lachend. Und hier kommt der Baron mit Malte, und wir können zu Tische gehen, wonach ich, offen gestanden, großes Verlangen trage.

Die Tafel war auf dem niedrigen Perron, der nach dem[46] Garten zu dem Schlosse in seiner ganzen Länge angebaut war, unter einem Zeltdache gedeckt. Der Abend war herrlich. Die Sonne war im Untergehen. Rosige Lichter spielten in den Wipfeln der hohen Buchen, die den schattigen Rasenplatz umgaben. Schwalben schossen zwitschernd und zirpend durch die klare Luft. Ein Pfau kam, durch das wohlbekannte Klappern der Teller herbeigelockt, aus dem Gebüsch eilig über die Wiese geschritten, und sammelte die Brocken auf, die der alte Baron ihm über das Steingeländer des Perrons zuwarf.

Die Unterhaltung war heute um Vieles lebhafter, als es wohl sonst der Fall war. Die Baronin konnte, wenn sie wollte, eine sehr angenehme Wirthin machen, und sie war, trotz ihrer zur Schau getragenen Abneigung gegen weltlichen Sinn, durchaus nicht so frei von Eitelkeit, daß es ihr gleichgültig gewesen wäre, neben Melitta übersehen zu werden. Melitta aber war in der liebenswürdigsten Laune; sie scherzte und lachte, neckte und ließ necken, unbefangen, harmlos, wie ein Kind. Es fiel Oswald, während er sich dem Zauber von Melitta's reizender Erscheinung willig überließ, nicht ein, zu glauben, seine Gegenwart könne etwas zur Erhöhung ihrer Stimmung beitragen, und doch war dies in einem hohen Grade der Fall. Es giebt wenige Frauen, die vollkommen indifferent dagegen sind, welchen Eindruck sie auf ihre Umgebung hervorbringen, und Melitta gehörte durchaus nicht zu diesen wenigen Frauen, wohl aber zu jenen Naturen von leicht erreglicher Sinnlichkeit, die sich durch gefällige und schöne Formen in einer Weise bestechen lassen, die kälteren Temperamenten unbegreiflich ist. Nun war Oswald, ohne das zu sein, was man einen schönen Mann nennt, von der Mutter Natur nichts weniger als stiefmütterlich ausgestattet, und die gute Gesellschaft, in der er sich stets bewegt, hatte die natürliche Grazie seiner Manieren noch erhöht. Das Alles überraschte Melitta um so angenehmer, als sie es bei einem Manne von einer nach ihren Begriffen so untergeordneten Stellung am wenigsten erwartet hatte. Oswald erschien ihr mit jedem Augenblick bedeutender; sie fing an, ihre brüske Einladung von vorhin doch recht unpassend zu finden, und zugleich entzückte sie der[47] Gedanke, den liebenswürdigen jungen Mann so bald bei sich zu sehen. Es schmeichelte ihr, wenn, was über Tische mehrmals geschah, Oswald's Blicke den ihren begegneten, und doch senkte sie jedesmal die Wimpern vor einem Augenpaar, das bei aller Unbefangenheit so beredt und forschend blicken konnte.

Nach Beendigung der Mahlzeit brachte die Baronin, da Melitta erklärte, noch ein Stündchen bleiben zu können, ein Reifspiel in Vorschlag; Bruno sprang fort, die Reifen zu holen, die weder verlegt, noch außer Stande waren, ein Umstand, der gewiß für die musterhafte Ordnung, die in dem Schlosse Grenwitz herrschte, beredt genug spricht; und bald hatte sich die Gesellschaft auf dem Rasen in einem weiten Kreise aufgestellt und die bunten Reifen flogen lustig durch die weiche, warme Abendluft von Einem zum Anderen. Alle, selbst der alte Baron, legten eine größere oder geringere Geschicklichkeit an den Tag, mit Ausnahme von Malte, der seinen Reif in den meisten Fällen, wo er ihm nicht unmittelbar auf den Stock geflogen kam, fallen ließ, eine Gelegenheit, die Melitta, seine Nachbarin, zum großen Aerger Bruno's, der die Spielregeln eingehalten wissen wollte, jedesmal benutzte, ihren Reif aus der Reihe einem der Mitspieler blitzschnell über den Kopf zu schleudern, wobei Oswald nicht umhin konnte, zu bemerken, daß Melitta ihn häufiger wie die Uebrigen auf diese Weise auszeichnete.

Unterdessen war der Abend tiefer herabgesunken; der alte Baron hatte eine schwache Spur von Thau auf dem Rasen bemerkt; Abendthau aber war nach seiner Meinung reines Gift für Malte, der als kleines Kind eine Zeit lang viel an der Bräune gelitten hatte, und er mahnte deshalb dringend, das Spiel einzustellen. Melitta fand, daß es hohe Zeit für sie sei, aufzubrechen, und bat, ihrem Reitknecht Befehl zu geben, die Pferde zu satteln. Bruno war fortgesprungen, den Auftrag auszurichten; die Baronin mit Mademoiselle in das Zimmer getreten; der Baron beschäftigt, Malte, der sich durchaus erkältet haben sollte, ein dickes Shawltuch um den Hals zu wickeln; Oswald und Melitta waren zum ersten Male seit ihrer unterbrochenen Conversation von vorhin allein geblieben. Melitta[48] hatte von einem Rosenstrauch, der zu den Füßen der Flora wuchs, eine Rose gepflückt und betrachtete sinnend die köstliche Blume.

Verzeihen Sie, mein Herr, sagte sie plötzlich, leise und rasch, aber ohne die Augen aufzuschlagen, daß ich vorhin die Unschicklichkeit beging, Sie ohne weiteres um einen Besuch zu bitten, der Ihnen am Ende beschwerlich fällt, aber –

Kein Aber, gnädige Frau; ich wiederhole im Ernst, was ich vorhin aus bloßer Höflichkeit sagte, daß ich mich glücklich schätzen würde, Ihnen irgendwie dienen zu können.

Sie kommen also morgen?

Wie Sie befehlen.

Nein: wie ich wünsche. – Sehen Sie nur, wie wundervoll diese Rose ist! Lieben Sie auch die Rosen so?

Ich liebe Alles, was schön ist, sagte Oswald, nicht auf die Rose, sondern auf Melitta blickend.

Sie hob die langen Wimpern und schaute dem jungen Mann tief und voll in die leuchtenden Augen.

Da! sagte sie plötzlich und hielt ihm die Rose entgegen, als ob er ihren Duft einathmen sollte; er aber fühlte nur, wie sich die schlanken Finger der Dame leicht wie ein Hauch auf seine Lippen legten.

Die Pferde sind da, Tante! rief Bruno.

Ich komme! antwortete Melitta und eilte von Oswald fort.

Die Rose lag zu seinen Füßen; er bückte sich schnell, hob sie auf und verbarg sie an seiner Brust.

Mademoiselle Marguerite brachte Melitta Federhut, Reitpeitsche und Handschuh.

Ist die Baronin im Zimmer?

Ja.

So will ich gehen, ihr Adieu zu sagen.

Der alte Baron, Oswald und die Knaben gingen durch die Gitterthür des Parks nach dem Schloßhofe, wo ein Reitknecht zwei Pferde am Zügel führte. Oswald bewunderte die Schönheit dieser Thiere, besonders das mit[49] dem Damensattel, ein herrliches Vollblut, Melitta's Lieblingspferd: Bella.

Melitta trat, von der Baronin und Mademoiselle gefolgt, aus dem Portale rasch auf ihr Pferd zu. Der alte Baron hob sie in den Sattel.

Adieu, adieu! rief sie herunter. Allez! Bella! und so sprengte sie aus dem Schloßhof, hinein in den dämmerigen Abend.

Die Anderen waren wieder in's Haus getreten. Oswald stand, die Augen nach dem Thor gerichtet, durch das Melitta verschwunden war, in sich versunken da.

Wollen wir nicht hineingehen, Oswald? fragte Bruno, seine Hand ergreifend; es ist dunkel geworden.

Es ist dunkel geworden, wiederholte der junge Mann und folgte träumend dem Knaben.

Quelle:
Friedrich Spielhagen: Sämtliche Werke. Band 1, Leipzig 1874, S. 43-50.
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