Zweites Kapitel

[11] Klotilde schritt die Mauerstraße, in welcher die Wohnung der Meerheims lag, nach der Leipziger Straße zu. In dem Putzladen an der Ecke hatte sie nach einem Fächer zu fragen, der repariert werden sollte. Der Fächer war noch nicht fertig. Während sie vor dem Ladentische wartend saß und eine der Verkäuferinnen die gnädige Frau zu unterhalten sich bemühte, dachte sie an Adelens Kleid für heute abend. Sie hätte ihr doch eigentlich sagen sollen, daß das Kleid für die große Gesellschaft unmöglich war. Sie wird darum doch riesig gefallen. Ich kenne das. Eine neue Erscheinung – danach schnappen sie alle. Und die lachenden Augen, die weißen Zähne, die frischen, roten Lippen – Furore wird sie machen. Daß in dem kleinen, hohlen Schädel auch nicht ein einziger Gedanke steckt – was thut denn das? Wer fragt danach?

Der Fächer wurde gebracht. Klotilde griff nach dem Portemonnaie.

Aber gnädige Frau, lassen Sie doch! sagte die Verkäuferin. Wir schreiben es zu dem übrigen.

Wie Sie wollen.

Der Pferdebahnwagen nach dem Lützowplatz kam nicht gleich. An der Ecke standen nur Droschken zweiter[11] Klasse, die sie grundsätzlich nicht benutzte. So fing sie an, die Leipziger Straße hinabzugehen, die im Laden angesponnene Gedankenkette weiter spinnend.

Wie er sie nur hat heiraten können! Ein so geistvoller Mensch! Darüber ist doch nur eine Stimme. Sie hätten ihn auch sicher sonst nicht in das Kriegsministerium genommen! Und dieses Gänschen! Diese richtige Gans! Ihre paar Groschen können es auch nicht gewesen sein – die hätte er bei mir ebenfalls gehabt. Und was kann ihm der Schwiegerpapa-Oberst a.D. für seine Carriere nützen? Also das hübsche Mäskchen und die Langweile – die grauenhafte Magdeburger Langeweile! Ein bißchen amüsanter ist es hier doch. Doch wenigstens die Möglichkeit einer interessanten Begegnung, eines pikanten Zufalls.

Klotilde war bis zur nächsten Haltestelle, gekommen, gerade als der erwartete Wagen sie einholte. Sie stieg ein. Der Wagen war nur mäßig besetzt, was sie durchaus in der Ordnung fand: ein sehr gefüllter erschien ihr stets als eine persönliche Beleidigung. Wer mag denn mit Krethi und Plethi in dem engen Kasten eingepfercht sein!

Nichtsdestoweniger musterten ihre scharfen Augen gewohnheitsmäßig die Insassen und blieben auf einem Herrn in der entferntesten Ecke der gegenüberstehenden Bank haften. Da war ja so etwas von einem pikanten Zufall! Wenigstens begegnete einem ein so hübscher Mann nicht alle Tage. Man hätte ihn vielleicht sogar schön nennen können, mit seiner geraden Nase und dem offenbar sorgfältig gepflegten, rötlichen Vollbart. Ein Offizier in Civil? Möglich! Nur daß der Anzug dafür[12] vielleicht zu elegant war und vor allem zu gut saß. Auch pflegen Offiziere unterwegs nicht in einem Buche zu lesen. Wenn er doch mit dem dummen Lesen aufhören wollte, daß man wenigstens seine Augen sehen könnte!

In dem Momente senkte der Herr das zusammengeklappte Buch zwischen den behandschuhten Händen auf die Kniee; steckte es dann in die Seitentasche seines Paletots; ließ seine Blicke durch den Wagen schweifen und sah mit der Miene eines, der sich tödlich langweilt, seitwärts zum Wagenfenster hinaus auf die Straße.

Klotilde war empört. Sie hatte, als der Herr sie erhob, seine Augen sehr deutlich gesehen: ganz ungewöhnlich große, ausdrucksvolle, blaue Augen; und förmlich körperlich gefühlt, daß diese Augen, im Vorüberstreifen des Blicks, ein paar Sekunden auf ihr geruht hatten. Und konnten jetzt durch das Fenster nach der wimmelnden Menge auf dem Trottoir starren, als ob es hier im Wagen schlechterdings nichts zu sehen gäbe!

Ich habe mich geirrt, sagte sie bei sich; er gehört nicht zur Gesellschaft.

Während der Wagen in vollem Fahren war, hatte sich ein Herr auf den Hinterperron geschwungen, einen Blick in den Wagen geworfen, mit freudig erregter Miene vor Klotilde tief den Hut gezogen und stand jetzt, die Thür eilig aufschiebend, vor ihr, auf den leeren Sitz neben ihr deutend.

Darf ich, gnädige Frau?

Aber, lieber Fernau, was könnte mir angenehmer sein?

Sie sind die Güte selbst, rief der junge Mann, Klotildens dargebotene Hand feurig drückend, während er ihr zur Seite Platz nahm. Seitdem ich weiß, daß[13] gnädige Frau Pferdebahn fahren, werde ich mich nie eines andern, als dieses mir so verhaßten Vehikels bedienen.

Ja, lieber Freund, wir armen Assessorenfrauen –

Wer denkt an arme Assessorenfrauen, wenn er Sie sieht! Wer kann Sie sich anders vorstellen, als in einem goldnen, von Tauben gezogenen Wagen!

Den ich mir sofort anschaffen werde, sobald ich Ihnen in einem Muschelkahn begegnet bin, vor den ein Schwan gespannt ist.

Gnädige Frau waren gestern im Lohengrin?

Ich habe mit Bedauern bemerkt, daß Sie fehlten.

Sehr gütig! Aber, offen gestanden, seit ich im Sommer in Baireuth die Musteraufführung gesehen habe, kann ich mich nicht entschließen, mir den kolossalen Eindruck durch unsern landläufigen Schlendrian hier zu verleiden.

Aber ein Schwanenritter im seidenen Wams, das denke ich mir schrecklich.

Ich versichere, gnädige Frau – das heißt: ich war auch stupéfait; aber nur im ersten Augenblick. Dann ging mir sofort das rechte Licht auf. Und nun gar Sie, mit Ihrer für alles Großartige so empfänglichen Seele – Sie würden entzückt sein.

Klotilde hatte das leise Gespräch mit ihrem Bewunderer eifriger geführt, als sie es sonst vielleicht gethan hätte; aber ihre Absicht, die Aufmerksamkeit des Herrn da drüben zu erwecken, erreichte sie nicht: er blickte jetzt zwar nicht mehr zum Fenster hinaus, aber gerade vor sich nieder, nach dem ernsten Ausdruck seiner Miene in wenig erfreuliche Gedanken versunken.[14]

Kennen Sie den Herrn dort? fragte Klotilde, ihren eifrigen Begleiter mitten in einem angefangenen Satze unterbrechend.

Welchen Herrn?

Klotilde winkte mit den Augen nach dem Nachdenklichen in der Ecke.

Legationsrat von Fernau klemmte das Lorgnon in das Auge, blickte in die von der Dame angedeutete Richtung und erwiderte:

Nein. Warum?

Wofür halten Sie den Herrn?

Das Lorgnon, welches bereits fallen gelassen war, mußte abermals seine Dienste thun, diesmal länger als das erste Mal.

Nun?

Für einen Plebejer, der sich furchtbare Mühe giebt, wie ein Gentleman zu erscheinen.

Der pure Brotneid!

Aber gnädige Frau, Sie können doch unmöglich anderer Meinung sein!

Vielleicht doch!

Dann werde ich mir von morgen an einen Vollbart stehen lassen und mir Mühe geben, wie ein Schulmeister auszusehen.

Und das wäre kein Brotneid?

Ja, bei Gott, er ist es; furchtbarer Neid auf jeden, der nur an den Saum Ihres Kleides rührt; nur in Ihre Nähe kommt; nur –

Bitte, halten! sagte Klotilde zu dem Schaffner, der eben gerade durch den Wagen ging.

Gleich, meine Dame, sagte der Schaffner.[15]

Klotilde saß in ihre Ecke zurückgelehnt; ihr Gesicht war lebhaft gerötet. Fernau erschrak; offenbar war er zu weit gegangen und hatte die schöne Frau ernsthaft beleidigt.

Aber das war es nicht. Es war nur, daß gerade in dem Moment, als der junge Mann, soweit es die Schicklichkeit irgend erlaubte, sich zu ihr hinabbeugend, leidenschaftlich hastig die letzten Worte flüsterte, der Herr drüben den Kopf gewandt und sie, wie ihr schien, scharf ins Auge gefaßt hatte. Sie sagte sich sofort, daß es nur zufällig gewesen sein könne; überdies hatte sie vom ersten Augenblick etwas der Art gewünscht, die kleine Komödie wesentlich deshalb gespielt und fühlte sich jetzt beschämt wie ein Schulmädchen, das der Lehrer an der Straßenecke im têtê-à-tête mit dem hübschen Primaner ertappt.

Sie zürnen mir, gnädige Frau, sagte der junge Mann bedrückt.

Ach, lieber Freund, da hätte man viel zu thun, wenn man Euch Kindern so oft zürnen wollte, wie Ihr es verdient. Wir sehen uns doch heute abend bei Sudenburgs?

Gewiß, gnädige Frau.

Dann also au revoir!

Darf ich bitten, mich dem Herrn Gemahl zu empfehlen?

Wenn ich's nicht vergesse!

Der Wagen hielt. Fernau wäre für sein Leben gern mit der schönen Frau ausgestiegen; aber er wagte es nicht. Dafür warf er, während der Wagen weiter fuhr, dem Herrn in der Ecke mehr als einen wütenden Blick zu, welchen dieser, der wieder vor sich nieder sah, glücklicherweise nicht bemerkte.[16]

Das ist doch seltsam, sagte Klotilde bei sich, während sie in der Querstraße auf ihre Wohnung zuschritt. Was war das nur eigentlich mit dem Herrn? Er war nicht einmal so schön wie Fernau; und Fernau hatte recht: trotz seiner Eleganz sah er doch eigentlich wie ein Spießbürger aus. Dennoch – wunderlich! ich glaube wahrhaftig, das Herz hat mir ordentlich geschlagen. Es ist nur die wahnsinnige Langweile. Es ist nur, weil –

Sie brach ihr Selbstgespräch jäh ab. Auf der andern Seite der Straße, um ein weniges ihr voraus, ging ihr Mann. Sie hätte ihn mit ein paar Schritten einholen, auf der fast menschenleeren Straße leichtlich mit einem halblauten: Viktor! abrufen können. Wozu? Er würde sich nicht freuen, sie zu sehen; und sie brannte nicht darauf, sein gleichgültiges: Ach, sieh da, Klotilde! zu hören. Wenn ihr doch ein Mensch sagen könnte, weshalb sie diesen, gerade diesen geheiratet hatte! Und weshalb Menschen, die sich nicht mehr lieben, vielleicht einander nie geliebt haben, nun so miteinander weiter leben müssen!

Ein bittres Lächeln zuckte um ihre Lippen. Wie hatte sie zu Adele gesagt: er geht seinen Weg, ich den meinen! Nun ja: da ging er; und sie ging hier!

Viktor war an dem Hause angelangt. Er hatte geschellt, blickte, auf das Öffnen der Thür wartend, sich zufällig um und sah seine Frau über den Straßendamm kommen.

Ach, sieh da, Klotilde! Aus der Stadt?

Ja. Ich muß an Dir vorübergefahren sein.[17]

Quelle:
Friedrich Spielhagen: Zum Zeitvertreib. Leipzig 1897, S. 11-18.
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