Der Bekehrte

[372] Mit dem Augenblicke, da sich ihm Pseuda in Imago verwandelte, mußte sie ihm in göttlichem Lichte erscheinen. Denn Imago war ja ein übersinnlich Wesen symbolischer Abkunft: die erlauchte Tochter seiner Strengen Frau, die heilige Sängerin der weihevollsten Stunde seines Lebens. Viktors Liebe wurde als Religion geboren. Und, o Wunder! seine Gottheit wohnte in seiner Nähe, sichtbar und erreichbar.

Freilich schmähte bübisches Gelächter seinen Glauben. »Wahnwitz! Albernheit! Schande! Die gewöhnliche Frau Direktor Wyß, die Ehrenpräsidentin der Idealia, urplötzlich in göttlicher Beleuchtung! Lauf zum Arzte, Viktor! Bestell dir rechtzeitig ein Bett in der Irrenanstalt!« Und tausend Erfahrungen erhoben wider ihn ein ohrbetäubendes Geschrei: »Halt! Obacht! warte! wir bringen unumstößliche Beweise!« Allein hat sich jemals ein Gläubiger durch das Geschrei der Beweise irre machen lassen? »Geben Sie acht, vor der Haustür kommen noch drei Stufen«, jauchzte sein Herz, und eine Springflut inbrünstiger Liebesandacht schwemmte all den Pöbel aus dem Bewußtsein: Erfahrungen, Zweifel, Bedenken und Beweise, die ganze hämische Rotte. Jeder Einspruch mit Hallo von dannen gejagt wie ein Hund aus der Kirche.

Ihre Nähe! Berge und Wälder, der ganze Horizont rundum verklärt durch ihren Blick; alle Straßen und Wege dieser Stadt geheiligt durch ihren Wandel, die Umgebung durch die Möglichkeit ihres Wandels. Sein Daseinsgefühl schwebte auf Wolken; jeder Atemzug schlürfte Offenbarungsodem; es keimte und blühte um ihn, sein Auge vernahm farbige Arabesken, sein Ohr Orgelrauschen; das kleinste äußere Vorkommnis, der Hammer eines[373] Schmiedes, der Ruf eines Kindes, eine Krähe auf dem Zaun wirkte wie ein kosmisches Gedicht. So reich bevölkerte ihn die Andacht ihrer Nähe, die Vorstellung ihres sichtbaren Vorhandenseins, daß er gar nicht einmal das Bedürfnis verspürte, sie zu sehen; im Gegenteil: er zog vor, sie aus dem Hinterhalt anzubeten, nahe, aber um die Ecke.

Doch ein unleidlicher Gedanke durchquerte seine Andacht: ihr Urteil verdammte ihn nach wie vor, indem sie ja von seiner Bekehrung nichts ahnen konnte. Diesen Gedanken ertrug er länger nicht. Zwar der körperlichen Frau Direktor Wyß seine Bekehrung mündlich oder brieflich mitzuteilen – niemals! sonst hätte er ihr ja zugleich seine Liebe gestehen müssen; dazu aber war er viel zu stolz; auch zu klug; denn da sie ihn doch nicht liebte – oh, nichts weniger als liebte! – hätte ihn ein Liebesgeständnis in die klägliche Rolle eines schmachtenden Liebhabers hinuntergedrückt; er aber wollte zwar ihr andächtiger Gottesdiener, nicht jedoch ihr bemitleideten Liebhaber sein. Glücklicherweise hatte er den Umweg der gemeinen Mitteilung auch nicht nötig; er wußte eine bessere, sowohl geradere als würdigere Verbindung zu ihr: den Weg der Vision von Seele zu Seele.

Also befahl er jetzt seiner Seele: »Gehe hin zu Theudas Seele, die da ist Imago, und melde ihr: ›Der Nichtswürdige, mit Blindheit schmählich Geschlagene, welcher dich befeindete und verfolgte, ist tot; ein Neuer steht vor dir, ein Bekehrter, welcher, demütig deine Hoheit und Güte bekennend, dich Imago grüßt und dein Schönheitsantlitz als Symbol der Gottheit andächtig verehrt.‹ Melde ihr das, und bring mir ihren Bescheid.«

Der Bescheid kam: »Ich traf ihre Seele ans Fenster gelehnt, in die Klarheit des gestirnten Himmels emporbetend. Zurückschauend erteilte sie mir die strenge Antwort: ›Ich bin ein Weib, Zucht ist mein Stolz, Reinheit meine Ehre. Hinweg, Ruchloser, der du alle Zeit das Weib mit frechem Spott verunglimpfst; eh[374] daß ich an deine Bekehrung glaube, tue Buße und bekenne den Wert des züchtigen Weibes.‹«

Auf diesen Bescheid schickte er abermals seine Seele zu ihr: »Die Buße, die du von mir forderst, ist volltan; denn ich sah in deine Augen: sie straften mich; ich schaute die Hoheit deiner Stirn: sie verdammte mich. Vernimm mein Bekenntnis: Ein Tempel tat sich auf, eine königliche Priesterin trat hervor, hinter ihr die Frauen der Erde, so die gegenwärtigen wie die dahingegangenen, so die wirklichen wie die vom Wunsch gezeugten. Ich aber schaute, glaubte und bekannte: ›Ich glaube an ein reines, keusches Weib; ihr Gedanke ist Gesang, ihre Werke heißen Hingebung und Aufopferung; auf ihrem Antlitz spielt der Abglanz der Gottheit; auf der Spur ihrer Füße sprießen Hoheit und Adel; sie erhebt die Hand: und das Gemeine entflieht in die Finsternis; sie bewegt sich: und die Sonne jubelt: o Weib, wie bist du schön! Da beugte sie sich tröstend über einen Kranken, der am Wege lag, und ich rief: Weisheit, verhülle dein Haupt; kniet nieder, ihr Tugenden alle, denn Königin ist das Erbarmen.‹ Gehe hin und überbringe ihr dies Bekenntnis.«

Ihm kam der Bescheid: »Ich traf ihre Seele über die Wiege ihres Kindes gebückt. Aufschauend erteilte sie mir die strenge Antwort: ›Ich bin eine getreue Tochter, in Lieb und Ehrfurcht den Meinigen ergeben. Hinweg, Ruchloser, der du meinen Vater verachtest und meinen Bruder beleidigst! Eh daß ich an deine Bekehrung glaube, lerne Ehrfurcht vor meinem Vater und versöhne dich mit meinem Bruder.‹«

Ob diesem Bescheid begann Viktor zu seufzen und zu grollen: »Ich will ihren Vater nicht ehren, ich will mich mit ihrem Bruder nicht aussöhnen; denn sie sind Feinde des Geistes, Widersacher der Wahrheit. Ich aber throne auf meinem Rechte, ihnen hoch überlegen.« Und murrte und knurrte in seinem Groll. Da sprach zu ihm die Vernunft: »Darf ich auch etwas reden?«

»Rede.«[375]

»Man ist einem Menschen erst dann hoch überlegen, wenn man ihn nach seinem Wert einschätzt, und wie windig schon der Kurt sein mag, solange er dir etwas verzeihen darf, setzest du ihn über dich. Frisch! hier ist Feder, Tinte und Papier; schreib dem Kurt ein Wort des Bedauerns, so sinkt er in die Versenkung, und du bist einer häßlichen Last ledig.«

Und das Herz schmeichelte: »Er bleibt trotz allem ihr Bruder.« Und der stolze Ritter mahnte: »Dem königlichen Hauptmann der Strengen Frau tut es keinen Abbruch, wenn er freiwillig einen Fehler eingesteht und ihn wieder gut macht.«

»Ich kann nicht; ich will nicht«, knirschte sein Grimm. Siehe, da erschien im Zimmer ein himmelblauer Fleck, der Fleck vergrößerte sich, Harfenrauschen ertönte, und durch die Harfen rief eine Stimme, ihre Stimme: »Geben Sie acht, vor der Haustür kommen noch drei Stufen.«

»Imago«, schrie seine Liebe, »du Hohe, du Gute, du Edle! ich glaube.« Und schrieb in fieberhafter Hast dem Kurt eine Entschuldigung; kurz und stolz, aber auch redlich und aufrichtig, wie man soll; ohne sich um das gebührende Wort zu drücken.

Tags darauf erhielt er eine mit Bleistift geschriebene Postkarte ohne Unterschrift:

»Geräuschvoller Hühnerflug der Begeisterung!

Philosophen die Clowns der Universitäten!!

In die Oberste die Taube gefahren! Famos!!!«

Frau Keller, welcher er den Wisch vorzeigte, löste ihm das Rätsel: das war die Handschrift des Kurt; die sonderbaren Sätze waren Zitate aus Viktors Kraftsprüchen, die offenbar dem Kurt unbändiges Vergnügen gemacht hatten; das Ganze bedeutete eine Art Versöhnungsurkunde.

»Nicht wahr, originell? genial?« meinte sie begeistert.

»Siehst du jetzt, Viktor?« belobte die Vernunft. »Ist dir nun nicht leichter und freier zumute? ich bitte um Antwort.« Viktor[376] antwortete: »Mir ist nicht bloß freier und leichter zumute, sondern auch höher und vornehmer.«

»Drum also fahre fort. Die erste Hälfte ist getan, vollbringe auch die zweite; lerne Ehrfurcht vor ihrem Vater.«

Da sprach Viktor zu sich selber: »Er war ihr Vater; die Sprache seines Angesichtes ist demnach verwandt mit der Sprache aus Theudas Angesicht. Gut; vor seinem Angesicht mag ich die Ehrfurcht lernen.« Ging hin und kaufte sich in der Buchhandlung das Kopfbild des Staatsmannes Neukomm, um es als Vorbild an die Wand zu heften. Allein, wie er nun den zuversichtlichen, überzeugungsbuchenen Charakterkopf mit dem inhaltlosen Feuerblick darin näher betrachtete, übermannte ihn plötzlich der alte Hohn, so daß er hurtig das Bild unter eine Lage Papier versteckte, mit einem wuchtigen Briefbeschwerer darauf, damit der Charakterkopf nicht etwa heimtückisch hervorkrieche.

»Immerhin, er bleibt halt trotz allem ihr Vater«, bettelte das Herz. »Er wird schwerlich ohne Verdienste sein, daß sein Denkmal in Marmor vor dem Rathaus steht«, überredete die Vernunft. Da hob er den Briefbeschwerer ab und holte den Staatsmann in Gnaden wieder hervor, den er jetzt wirklich an die Wand heftete, allein verkehrt, die Bildseite nach innen, gegen die Tapete, die leere Rückseite nach außen; denn so oft er versuchte, das Blatt umzudrehen, jubelte ihm der Hohn die Ehrfurcht von dannen.

»Ich möchte aber doch«, schalt sich Viktor bekümmert, »dem Gebote Theudas gehorchen; denn Theuda ist Imago. Siehe, ihr Vater liegt im Grabe; das Grab ist ernst; wohlan, an seinem Grabe will ich mir den Hohn abgewöhnen.« Und ließ sich auf dem Friedhof das Grab des Staatsmannes Neukomm zeigen. Wie er vor dem Grabe angekommen war, grüßte ihn eine Stimme aus dem Boden: »Wen suchst du?«

»Den Geist des Staatsmannes Neukomm.«

»Es gibt hier keine Staatsmänner«, erwiderte die Stimme,[377] »und keine Geister mit Namen. Ich war, als ich noch über dem Boden wandelte, ein hilfloser Mensch wie alle Menschen, ein machtlos Geschöpf, das da geboren ward, seufzte, sorgte und starb wie die übrigen Geschöpfe. Verzeihung jenen, die mir wehe taten, Heil denen, die mich liebten. Zwei treue Menschen, meine Ebenbilder, meine beiden Kinder, schritten weinend hinter meinem Sarge, mein Andenken mit ihrer Trauer heiligend; Segen über den, der ihnen wohl will. Bist du ein Mensch, in Lebenskraft auf Erden wandelnd, so schenk mir Nachricht von meinen Kindern.«

Da sprach Viktor: »Deinen Kindern ergeht es wohl; sie sind geliebt und geachtet bei den Menschen; und der vor deinem Grabe steht, will ihnen beiden gut Freund sein.« Bei diesem Wort verwandelte sich plötzlich das Denkbild des Kurt und wurde fein und anmutig.

Da seufzte die Stimme: »Dafür, daß du mir von meinen Kindern Nachricht gebracht, schließe ich mit dir den Bund des Dankes; und dafür, daß du meinen Kindern gut Freund sein willst, den Bund des Segens.«

Nachdem Viktor wieder zu Hause angelangt war, konnte er das Bild umdrehen. –

Und wieder schickte Viktor seine Seele zu Theudas Seele: »Dein Gebot ist erfüllt; ich habe mich mit deinem Bruder ausgesöhnt, ich habe mit deinem Vater einen Bund geschlossen. Glaubst du nun an meine Bekehrung?«

Ihm kam der Bescheid: »Ich traf ihre Seele auf der Zinne ihres Hauses stehend, die Türme und Schanzen der Stadt zählend. Herniederschauend erteilte sie mir die strenge Antwort: ›Ich bin eine brave Bürgerin, meinem Volke und meinem Vaterlande leidenschaftlich ergeben. Hinweg, Ruchloser, der du die Sitten und Gebräuche deines Vaterlandes verspottest; eh daß ich an deine Bekehrung glaube, tue Buße und lerne Eintracht mit deinem Volke.‹«[378]

Ob diesem Bescheid überschäumte sein Zorn in wilder Woge. »Weib«, schrie er, »zwar heilig bist du, aber arm an Geiste. Zur Göttin taugst du, nicht zum Gott. Spanns nicht zu scharf! Mein Herz ist dein; nimm meine Andacht, läutre meine Seele; doch meine Überzeugung, Weibsbild, pfusch nicht an! – Geh hin, o meine Seele, und sag ihr das.«

Ihm kam der Bescheid: »So wahr ich Theuda bin, die da heißt Imago: ehe du nicht Fried und Freundschaft mit deinem Volke schließest, gebe ich nichts auf deine Bekehrung.«

Da begann Viktor zu toben und zu rasen und lästerte seine Göttin und verwünschte sie und beschimpfte sie mit gefiederten und gehörnten Namen, wie der Bandit die Madonna, wenn ihm der Postraub mißlang.

»Wenn du dann des Unfugs müde bist«, bemerkte die Vernunft, »so will ich auch etwas reden. Nämlich, unter uns gesagt, ihr Verlangen ist durchaus gerecht; denn du bist ein politisches Ungeheuer.«

»Meinst du?«

»Ich meine es nicht bloß, sondern das steht zweifellos fest. Von Kindesbeinen ein Waldmensch und nachträglich durch deinen Auslandssitz vollends verwildert. Pendelst durch die Straßen deiner Vaterstadt wie ein Indianer auf der Oktoberwiese, der einen freien Nachmittag bekommen hat. Ist das natürlich? ist das erträglich? Her mit dir! Setz dich auf den Schulschemel; etwas Patriotismus kann dir, weiß Gott, nicht schaden. – Nur keine Angst; bloß das Allernotdürftigste; es verlangt ja kein Mensch von dir, ein Schützenfestredner zu werden.« Sprachs, nötigte den Viktor auf die Schulbank und erzählte ihm vom ›Volke‹, wie es fühlt, wie es arbeitet, wie es sich sorgt und kümmert, beschrieb ihm das Räderwerk der freien Verfassung, bewies ihm deren ursächlichen Zusammenhang mit der Entwicklung der persönlichen Eigenart und des mannhaften Charakters und lehrte ihn schließlich die Politik als eine Unterart Idealismus[379] begreifen; »ein rebsteckendürrer Idealismus, zugegeben, immerhin ein Idealismus«.

Fromm lauschte Viktor der Unterweisung, erst ächzend, hernach bereitwilliger. Plötzlich sprang er auf, mit leuchtenden Augen. »Ich will das Obligationenrecht studieren.«

»Da haben wirs: Jetzt springst du natürlich gleich wieder in den gegenüberliegenden Stadtgraben? Es kann ja einer auch ohne das Obligationsrecht ein braver Bürger sein.« Viktor aber versteifte sich halsstarr: »So wahr ich ein braver Bürger bin, ich will das Obligationenrecht studieren.« Ließ die Vernunft im Stich, ging hin und schaffte sich das Obligationenrecht an, entlieh von links und rechts Verfassungsurkunden und Stadtgeschichten, je trockener, desto lieber; bestellte das Amtsblatt, verfolgte in der Zeitung die Reden der Stadträte (»etwas schwülstig, meine Herren! um so besser, ich nehms für Kasteiung«); schob seine Füße durch Altertumssammlungen, pflanzte sich vor baufällige Mauern und Dachstühle auf, um den Geist der Väter auf sich wirken zu lassen, und jedes Bäuerlein, das mit einem Kalbelein zu Markte zog, nachdenklich bekümmert, wen es übervorteile, betrachtete er mit Rührung als seinen Mitbruder im Staate.

Wie er aber dann selbstzufrieden zu ihr sandte, um ihr von dem demokratischen Adam Bericht zu erstatten, erhielt er ungnädigen Abschied. »Aktiv betätigen«, habe sie barsch befohlen. »Aktiv betätigen!« wiederholte seine Entrüstung, »wie grob, wie ruppig sie das gesagt hatte, beinahe wie ein Ellbogenstoß. Überhaupt, sie vergißt, daß meine Bekehrung ganz auf meinem freien Willen beruht; ein Schulterlupf, und sie fliegt auf den Boden. Es scheint, sie möchte mich mit der Peitsche dressieren!«

Doch die Hyäne, die durch drei Reifen gesprungen ist, springt auch durch den vierten, wenn schon zähnefletschend. Also behändigte er bei der nächsten Wahlgelegenheit einen Zettel.

»Du, Förster, gib mir einen guten Rat. Ich möchte meiner Bürgerpflicht genügen – oder sagt man nicht so? – kenne jedoch[380] leider auf der ganzen Welt keine politische Seele. Wen rätst du mir, daß ich wählen soll?«

»Ja, da mußt du mir vor allem erst sagen, ob du konservativ oder liberal bist.«

»Was ist der Unterschied?«

»Das läßt sich nicht so in der Geschwindigkeit erklären.«

»Wer von den beiden hält es denn mit der Kirchenlehre?«

»Eher die Konservativen.«

»Dann bin ich also liberal.« Und wählte demgemäß. Doch noch immer wollte sich Theudas Seele nicht zufriedengeben. Es komme nicht von innen, habe sie geantwortet.

»Nicht von innen!« tobte er. »Ich will dir zeigen, was von innen kommt.« Und stiftete einen fürchterlichen Aufruhr gegen seine Göttin, daß es in seinem Innern zuging wie in einem Bestienkäfig vor der Fütterung. – »Du willst die Numa Hawa spielen? Wohlan, so ertrage, daß ich ergebenst den Rachen aufsperre.«

Bis ihm eines Tages widerfuhr – er hatte es gar nicht beabsichtigt, es kam ihm von selber, wie der Strahl aus dem kochenden Berge –, daß er zwei fremden Gigerln, die über einen vorüberziehenden Trupp Soldaten spöttelten, mit schnaubender Wut das Maul verbot. Während er noch ganz verblüfft dastand, unschlüssig, ob er sich nun über diesen vorweltlichen Schnarch schämen solle, oder was eigentlich, grüßte ihn ihre Seele hold lächelnd über die Schulter: »Jetzt das, jetzt das hingegen, Viktor, das freut mich.« Und ein See von azurblauem Himmel umschwebte ihn, mit unzähligen Theudaköpfchen darin, die ihm sämtlich huldvoll zunickten.

Hiermit fand seine mühsame Buße endlich Gehör und Genüge.

Also geläutert und entschuldigt, frisch und morgenfreudig im Gefühl der kräftigen Reinigung, tat Viktor seinem Herzen die Tür weit auf: »Heißa, mein Herz! Ich, der da meinte, ich sei[381] weise und du wärst ein albern Kaninchen! Irrtum, verkehrte Welt! Ich war torenwitzig, und du bist der Gescheiteste von uns allen. Denn nicht bloß, daß du einzig von Anfang begriffen hast, sie ist Imago, dir verdanke ich auch meine Buße und Bekehrung. Deswegen sollst du fortan nicht mehr mein verachtetes Hündlein sein, verstoßen und mißhandelt, sondern unser aller Führer und Oberst sollst du sein. Heißa, König Herz, befiehl, so geschieht es; begehre, so wird dirs werden.«

Jauchzend frohlockte das Herz: »O Freiheit! Siehe, man hat mir das Maul verbunden wie einem gestohlenen Stieglitz; darum will ich jetzt zur Entschädigung lieben, lieben, bis ich den letzten Hauch meines Atems erschöpft habe.«

Viktor billigte: »Das sei dir unbenommen; doch wisse, Theuda ist Imago, nämlich hoch und hehr. Ist deine Liebe von einem Wunsch befleckt, so wage nicht, die Reine mit unreiner Liebe anzutasten.«

Ihm erwiderte das Herz: »Hier stehe ich offen vor dir; nimm einen Leuchter und zünde in die verborgensten Gänge, damit du mich prüfest.«

Und Viktor tat demnach und zündete in die verborgensten Gänge seines Herzens; und als er die Prüfung vollendet hatte, rief er: »Deine Liebe ist demütig und wunschlos. Also liebe sie denn, liebe sie, bis du den letzten Hauch deines Atems erschöpft hast.«

Da atmete sein Herz und lechzte: »Ich möchte heimlich zu ihr, ungesehen bei ihr wohnend und beständig mit ihr lebend, was sie irgend selber lebt, jede Stunde, jede Sekunde, vom ›Grüß Gott‹ des Morgens, wenn sie die Fensterläden öffnet, bis zum ›Gut Nacht‹ am späten Abend.«

»Ja, tue das«, erlaubte Viktor. Und das Herz tat, wie es gesagt hatte, und lebte ungesehen mit ihr vom Morgen bis zum Abend, vom ›Grüß Gott‹ des Morgens, wenn sie die Fensterläden öffnete, bis zum ›Gut Nacht‹ am müden Abend. Und[382] wenn sie sich zum Mittagessen setzte, nickte es: »Iß und sei fröhlich«, und wenn sie sich zum Ausgehen rüstete, flüsterte es: »Nimm nicht das Alltagskleid, sondern das neue, das helle, das köstliche; denn du bist schön und lieb; das bedeutet: wo du bist, waltet alle Tage Festtag.«

Und weiter atmete das Herz und lechzte: »Ich möchte in ihr eigen Herz tauchen, tief bis in den Quell ihres Gefühles, und aus ihrem Herzen alles liebhaben, was sie selber lieb hat, angefangen von ihrem Mann und ihrem Kinde bis zu dem Blumenstöcklein vor ihrem Fenster.«

»Ja«, erlaubte Viktor, »tue das.« Und das Herz tat, wie es gesagt hatte, und tauchte in Theudas Herz bis in den Quell ihres Gefühles, und liebte aus ihrem Herzen alles, was sie selber liebte, und sprach zu ihrem Manne: »Bruder, du hast einen Freund, von dem du nicht weißt, und einen Helfer, den du nicht vermutest; getrost, was auch die Zukunft dir schicke, ich bin da, ich werde dir beistehen.« Und sprach zu ihrem Kinde: »Deine Füßlein taumeln ins Ungewisse, und deine Äuglein lächeln in Nebel und Ferne; ich aber weiß Rat; ich will dich vor Fehlgang und Schaden behüten.« Und zu dem Blumenstöcklein vor dem Fenster sprach es: »Du mußt fleißig sein, damit du mit deinen Farben ihr lustig leuchtest und mit deinem Hauch ihren Mut erquickest, denn bedenke, deine Ranken ragen in ein besonderes Stüblein.«

Und wieder atmete das Herz und lechzte: »Ich möchte mich in einen Segen verwandeln und wie ein guter Geist Gottes ihre Schritte umschweben, sie aufrichtend, wenn sie mutlos ist, und von ihr jedes Unheil abwehrend, das nächtens ihre Schwelle umschleicht.«

»Das ist recht und statthaft«, erlaubte Viktor, »tue das.« Und das Herz tat, wie es gesagt hatte, und verwandelte sich in einen Segen. Und beim Morgenblaßlicht küßte es Theudas Augen: »Der Hahn ist wach; steh auf und fürchte dich nicht, denn[383] dieser Tag ist ein fröhlicher Tag.« Und wenn sie betrübt war, so sprach es: »Irrtum! du darfst nicht traurig sein, denn du bist der Menschen Lust und Wonne.« Und zu dem Unheil, das nächtens ihre Schwelle umschlich, wehrte es: »Halt! Wer da? Täuschung! Dieses Haus ist gefeit, denn hier wohnt Theuda-Imago.«

»Nun wohl, mein Herz«, rief Viktor, »wonach deine Liebe lechzte, das hab ich dir alles gewährt. Hast du nun Genüge? Oder begehrst du noch mehr?«

Ihm antwortete das Herz: »Ich habe nimmer Genüge; denn meine Liebe gebärt Liebe; je mehr ich die Einzige liebe, desto mehr begehrt mich, sie zu lieben. Siehe, ich habe ihre dermalige Gestalt mit meiner Andacht umwoben, nun will ich es auch mit der vormaligen tun; mit meiner Ahnung ihre verbliebene Erscheinung grüßend, so wie sie einst gewesen, ehe sie geworden, rückwärts über ihre Mädchenjahre bis in die Tage der Kindheit, und von ihrer Kindheit hinauf nach ihrem Ursprung über der Welt, wo ihre Seele keimte, ehe sie den Wandel nach Erden antrat. Allein das vermag ich nicht aus mir; gebiete deiner Phantasie, daß sie mich in jene Höhen enttrage.«

»Ja«, erklärte Viktor, »das soll dir werden.« Und befahl seiner Phantasie: »Du loses, unnütz Vögelein, das mir immerfort Unfug und Unmuß stiftet, mit Truggesichtern mich täuschend, daß ich der Torheiten unzählige begehe, auf! erweise dich einmal nützlich. Hast du gehört, was mein Herz von dir heischt? Also rüste deine verwegensten Flügel und enttrage meine Ahnung über die Welt in die Pflanzstatt der Seelen.«

Ihm erwiderte die Phantasie, im Glanzlachen erstrahlend: »Das ist es ja eben, was ich immer ersehnte. Denn dort oben bin ich zu Hause.« Sprachs und enttrug mit verwegenem Fluge seine Ahnung hinaus über alle Welt in die traumumdämmerte Brutstatt der Seelen. Daselbst, mit den Fühlern der Liebe den Pfad erratend, den einst ihre Seele nach Erden angetreten, versuchte[384] Viktor auf ihren Spuren ihr verwichenes Leben nachzuleben, mit dichtendem Geiste ihre irdischen Erstlingsjahre zurückrufend, den Abglanz ihrer Mädchengestalt an den Wäldern ihrer Heimat ablesend, die Felsen grüßend, die ihr staunend Kinderauge zum ersten Male mochte geschaut haben. Ob dieser Arbeit offenbarten sich ihm Neuschöpfungslandschaften mit Durchblicken auf jenseitige Welten, mit Lichtschimmern und Wolkenzügen anderer Gattung, davor seine Seele schauerte. Die Wirklichkeit schwand, die Zeit versenkte sich vor seinen Füßen.

Allein von der Überfülle der Fernwunder erschöpft, versagte sein schwaches Menschenhirn, und sein reisemüder Geist ermattete. »Genug! Gnade! Zuviel!« Doch zornig schüttelte die Phantasie die Schwingen. »Umsonst habe ich nicht diese Höhe erschwungen; hier ist meine Lebensluft, hier will ich kreisen. Ihrer Seele Keim wolltest du erspüren, ertrage auch ihrer Seele Krönung.« Und ungeachtet seines Flehens und Sträubens offenbarte sie, höher kreisend, dem Bebenden ein Zukunftsgesicht, unerwünscht und aufgedrungen, doch unauslöschlich:

Einen Jüngling schaute er neben einer Jungfrau, deren Doppelseele sämtliche Seelen der Welt aufgesogen hatte, also daß außer diesem Paare nichts Lebendiges im unendlichen Raum sich regte. Und dieser Jüngling und diese Jungfrau wandelten zusammen über die Himmelswiese und flüsterten sich zu und blickten einander ins Auge mit einer süßen Innigkeit, gegen welche die zerstückelte Einzelliebe auf Erden bloß ein nichtswürdiges Affenspiel vorstellt.

»Was habe ich mit diesem Jüngling und dieser Jungfrau zu schaffen?« unterbrach Viktors Herz ärgerlich. Siehe, da hatte die Allerseelenjungfrau das Antlitz Imagos.

So vergnügte sich Viktor mit seiner neugeborenen Liebe. Sein Herz umspielte Theudas leiblichen Wandel, seine Phantasie brachte ihm Imagos Lichtgestalt aus der Höhe über den Wolken. Lieben nannte er sein Geschäft, Segnen seine Erholung. Da er[385] aber seine Liebe so rein und schön verspürte, wunschlos in andächtigem Gottesdienst, und ihm die Phantasie unablässig neue Offenbarungen zutrug, armvoll in gehäuften Garben, überquoll endlich seine Wonne, so daß ihm der Atem nicht mehr genügte, sondern daß er mit der Stimme singen mußte, bald in stammelnden Jauchzern, bald leise vor sich hin trällernd, zuweilen in langgezogenen schmelzenden Tönen. Auch mochte er etwa ein Stück Papier mit Linien durchqueren, schräg und krumm mit ungeübter Hand, und seine Jauchzer als Notenkettchen zwischendurch schlingen. Der Worte dagegen bedurfte seine Sangesseligkeit nicht.


»Störe ich etwa?« scholl des Statthalters väterliche Stimme; und nach einigen nichtssagenden Einleitungssätzen knüpfte er bald hier, bald dort ein wissenschaftliches Gespräch an, doch unstet, mit verlegener Miene, wie wer etwas hinter der Rede hält. Endlich rückte er zaghaft hervor: »Am vierten Dezember, wie Sie jedenfalls längst wissen, feiert die Idealia ihr Stiftungsfest. Für diesen Anlaß habe auch ich ebenfalls – wie soll ich sagen? man kann es einen Prolog nennen – einige bescheidene, anspruchslose Verse (fünffüßige Jamben mit je einem Anapäst) in Form eines Dialoges, die alte und die neue Kultur gegenüberstellend – Ob Sie nicht da vielleicht – ich habe an Sie gedacht, weil ich als Gegensprecher einen hochschulgebildeten Mann brauche (es kommen ja selbstverständlich auch griechische und lateinische Zitate vor) – ich würde in diesem Fall, das heißt natürlich nur, wenn Sie einverstanden sind, die alte und Sie die neue Kultur, – doch, wie gesagt, ganz nach Ihrer eignen Wahl, vorausgesetzt, daß Sie überhaupt Lust und Zeit dazu vorrätig haben –«

Und da sich Viktor gerne zu jeder beliebigen Kultur erbötig erklärte, atmete der Statthalter erleichtert auf. »Ja, und daß[386] ich das nicht vergesse: Meine Frau ist hocherfreut über Ihre Aussöhnung mit meinem Schwager, und warum man Sie denn nie mehr sehe?«

Richtig, jetzt erst fiel es ihm ein: er hatte über dem Eifer seines Gottesdienstes die Gottheit selber völlig vergessen. Das Bedürfnis nach ihrem Anblick hatte sich eben nicht gemeldet; jetzt freilich, von ihr gemahnt, mußte er sich wohl bequemen; und da er es mußte, mochte er es auch.

Wie er dann nach einigen Tagen nach der Münstergasse pilgerte, tat er es in der Stimmung eines getauften Heiden, der zur ersten Kommunion schreitet; ein Schritt furchtsam, ein Schritt gefaßt. Gewiß, er konnte sichs nicht verhehlen, es nisteten noch manche Motten im Hermelin seiner Gerechtigkeit, allein seine Bekehrung war doch echt, seine Buße gründlich, seine Liebe rein; und die Götter sind ja gnädig. Zudem hatte er ja nun den Kurt auf seiner Seite.

Huldvoll empfing sie ihn (Wirkung des Kurt? oder las sie ihm die Andacht aus dem Gesichte?), ohne den mindesten Nachhall der alten Feindseligkeit; großartig, mit einem einzigen Pinselstrich die Erinnerung an die frühere Mißhelligkeit ausgelöscht. Sie berichtete ihm den Todesfall einer entfernten Verwandten, welche verwichene Nacht unvermutet verschieden wäre, nur so zwischenhinein, wie ein Nebensatz, mitten in die Vorbereitungen zum Stiftungsfest. Während des Berichtes rollten ihr einige Tränen über die Wangen. Die fing er mit unmerklich vorgeschobener Hand auf, als wäre es Weihwasser. Hernach wurde noch dies und das gesprochen; endlich, zum Abschied, reichte sie ihm freundlich die Hand; zum ersten Male seit der Parusie.

Die Sorge um den Prolog (alte und neue Kultur) nötigte ihn in der Folge noch öfter zum Statthalter; und wenn das Geschäftliche bereinigt war, mochte er jeweilen noch ein Viertelstündchen im Hause säumen, wo er dann meistens schweigend dasaß,[387] mit den feinen Augen eines Onkels, der die Familie hinterrücks in sein Testament gesetzt hat. Dabei gestattete er seiner Liebe den Schmaus, Theudas Bewegungen und Gebärden zu verfolgen, die dem Bekehrten jetzt wie Neuigkeiten vorkamen. Und da er sie nunmehr in ihrem natürlichen Wesen beobachten durfte, so wie sie gewöhnlich war, während er sie ja vordem nie anders als in Verteidigungsstellung gesehen hatte, entdeckte er beglückten Herzens neben den früher bemerkten Vorzügen eine Menge von neuen. Beglückten Herzens, weil ja jede ihrer Tugenden eine Rechtfertigung seiner abgöttischen Liebe, eine Widerlegung der lauernden Einwürfe bedeutete. Nun brauchte er nicht mehr die Zweifel wegzuschrecken; im Gegenteil: er lud sie ein, um sich an ihrer Beschämung zu weiden.

»So kommt doch, ihr Nörgler, spähet, so scharf ihr wollt, setzt meinetwegen Brillen auf: Seht ihr, wie sie freundlich mit ihren Dienstboten umgeht? Habt ihr nicht selber immer behauptet, an der Behandlung der Untergebenen könne man am zuverlässigsten erkennen, ob eines Menschen Kern gut oder böse sei? Darum bekennet: sie ist gut.«

»Gut, allerdings, das ist sie.«

»Und jetzt wieder dem Bettler, wie sie ihm das Almosen nicht etwa gnädig herablassend hinreicht, sondern von gleich zu gleich. Darum gestehet: sie ist barmherzig.«

»Barmherzig ist sie, zugestanden.«

»Geduld, ihr werdet noch mehr zugestehen müssen. Habt ihr bemerkt, wie niemals ein neidischer Zug ihr Antlitz entstellt, wenn die Schönheit einer andern Frau gerühmt wird? wie auch keine Spur von Gefallsucht in ihrer Seele Raum findet, so daß sie die Huldigungen fremder Männer, die meinige eingeschlossen, gar nicht einmal wahrnimmt, oder, wenn sie sie wahrnimmt, nicht beachtet, vielmehr eher als eine Belästigung verspürt? Ist euch nicht aufgefallen, daß von sämtlichen Menschen, die sie der Ehre ihres Umgangs würdigt, auch nicht einer ist, der nicht[388] lauteren Charakters wäre? Und ihre Bescheidenheit, ihre Pflichttreue, ihre Häuslichkeit, ihre stille Hingebung an ihr Kind? Bitte, bestreitet mir das alles, wenn ihrs könnt.«

»Niemand bestreitet ja im mindesten die Menge ihrer außerordentlichen Vorzüge, nur daß du sie als eine Art Gottheit –«

»Genug! kein Wort mehr! Wer jetzt noch zweifelt, verrät bösen Willen.«

Trotzdem – er mochte sich ihre Vollkommenheit noch so begeistert einreden –, ihre körperliche Gegenwart störte ihn eher, als daß sie ihn befriedigte. Nicht ihre menschlichen Schwächen – er wußte ja, daß sie ein Mensch war und liebte, daß sie es sei – dagegen eine gewisse Lässigkeit in ihrer äußeren Haltung, die nicht immer zu seinen Wünschen und Bedürfnissen stimmte. Sie ließ sich nämlich zuweilen eine ausdruckslose Miene, eine unansehnliche, nicht bildgemäße Stellung, einen matten Blick zuschulden kommen, kurz, sie war nicht jede Minute völlig sie selber, nicht von Morgen bis Abend ununterbrochen Imago, so daß ihm mitunter beinahe der Verdacht kommen wollte, sie sei sich ihrer Aufgabe, der Phantasie Symbol zu stehen, gar nicht einmal bewußt. Dazu ein Augengreuel: ihrem Hauskleid waren schwarze Samtbändlein aufgenäht, unten nahe dem Saume eine doppelte Reihe, und wieder oben am Halse eine, rund um den Ausschnitt. Nein, Imago in der Tracht einer Choristin im Freischütz, als wollte sie den Jungfernkranz singen, davor entsetzte sich sein Auge, darüber stolperte seine Andacht. Dies und dergleichen erzeugte dann in seinen Gefühlen ein unruhiges Hin und Her, dem er das Alleinsein mit ihr in seiner Phantasie vorzog.

Dagegen suchte er angelegentlich ihre Freunde und Bekannten heim, also die Leute der Idealia, um von ihren traulichen Gesichtern den Widerschein Theudas abzulesen; und jedesmal, wenn beiläufig ihr lieber Name verlautete, glänzte es durch die graue Unterhaltung, als ob ein Zauberzündhölzchen aufsprühte, mit einem farbigen Sternlein im Feuer. Aber mit seinem eigenen[389] Mund ihren Namen auszusprechen, wagte er nicht, weil er schon errötete, wenn er nur das Wort ›Münstergasse‹ sagen sollte.

Hierbei traf er auch einmal mit dem Kurt zusammen. Der eilte ihm freudebleckend entgegen: »Allerkünstedirnen, welche ihre Seele mit jedem hergelaufenen Lumpen von Meisterwerk prostituieren! Greulich, abscheulich, aber famos!« Und ein halbes Stündchen später, als Viktor gegen die vereinigte Moralpriesterei des Pfarrers und des Statthalters den Satz behauptete: »Eine Religion, die sich um die Moral kümmert, ist nicht wert, daß ein ehrlicher Mensch einen Gedanken daran verschwende«, kam der Kurt auf ihn zu und fragte herzlich und bescheiden: »Wann können wir einmal miteinander allein sprechen?« Von da an, so oft der Viktor und der Kurt sich in einer Gesellschaft begegneten, setzten sie sich zueinander.

Es konnte nicht ausbleiben, daß Viktors erbaulicher Gesinnungswechsel in der Idealia bemerkt wurde; die Wendung war zu auffallend. Er, der einst so anmaßlich auftrat, der sich gegen jedermann der Unleidlichkeit befliß, der die Flucht ergriff, sobald ein Klavierflügel nur von ferne Miene machte aufzuklappen, der mit seinem höhnischen Überlegenheitslächeln jede Unterhaltung zu Boden schwieg, er hörte jetzt mit weit aufgesperrten Augen den längsten Familiaden nicht bloß zu, sondern rief von Zeit zu Zeit dazwischen: »Nicht möglich!« »was Sie sagen!« »wirklich?«, erkundigte sich nach den Fortschritten der Buben in der Schule, fragte, ob die Gertrud bereits die Masern, der Mimi schon die Sucht gehabt habe, ja, er bettelte aus freiem Antrieb, ihm doch ums Himmels willen ›etwas‹ zu singen. Kurz, er war auf einmal, wie durch ein Wunder, gemütlich geworden. Vor allem aber seine nunmehrigen vernünftigen Ansichten über das heilige weibliche Geschlecht erregten freudiges Aufsehen. War das wirklich der nämliche Viktor, der jetzt Aussprüche hören ließ, wie dieser: »Keineswegs die leichtfertigen Weiber sind die poetischen, sondern die züchtigen sind[390] es; denn die Poesie des Weibes heißt Hingebung, der Name des liederlichen Weibes aber lautet Selbstsucht.« Oder: »Die engherzigste Sittenteufelin wird an Lieblosigkeit noch von der Vielmännerfrau übertroffen.« Ah! Das lass ich mir gefallen! Das tönte jetzt anders! Leider verdarb mitunter ein bedauerlicher Nachsatz wieder die Erbauung, die sein frommer Vers gestiftet. Nachdem er zum Beispiel das Lob des tugendhaften Weibes mit einem Schwung gepriesen, daß mans hätte für fünfstimmigen Chor mit Orchester setzen mögen, konnte er hinzufügen: »Was in aller Welt aber, bitte, sagt mir, fange ich mit einem tugendhaften Weibe an?« Es war noch nicht ganz das; es haperte noch hier und da ein wenig mit seiner Bekehrung. Immerhin, der bußfertige Wille war unverkennbar, und alle Vollkommenheit auf einmal, nicht wahr, darf man doch billigerweise nicht erwarten. So daß bereits die Hoffnung munkelte, er werde sich vielleicht doch noch mit der Zeit als Tenor im Chor brauchen lassen.

Indessen, was wollte in dieser wichtigen Zeit Viktor, was überhaupt ein einzelner besagen! Das Stiftungsfest der Idealia rückte heran, und Adventsstimmung bemächtigte sich der Gemüter. Endlich wurde sie Gegenwart, die große Woche, unglaubliche, doch unleugbare Gegenwart.

Am Vortage des Festes ergab sich, gewissermaßen von selber, durch die Unfähigkeit, sich mit etwas anderem zu beschäftigen, im Verein mit der ungewöhnlich milden Witterung (elf Grad Celsius im Schatten!) eine Art Vorfeier, indem ein Teil der Mitglieder, darunter Viktor als Gast (sonst fast lauter Damen), verabredeten, nachmittags draußen vor der Stadt in der Waldegg zusammenzukommen; leider ohne Frau Direktor, welche durch Zurüstungen zum Fest ferngehalten war. Nach genossenem Kuchen belustigte sich das muntere Trüpplein mit körperlichen Freispielen, im besondern mit ›Platzvertauschen‹, eins zwei drei, husch von einem Baum zum andern; und der gezähmte[391] Viktor sprang zwischen den Idealianerinnen wacker mit wie der Wolf zwischen den Lämmern im Paradiese. Unter dem zahlreichen Volk, das der sonnige Tag in die Waldegg gelockt hatte, saß auch Frau Steinbach; die schaute dem minniglichen Ereignisse mit sonderbaren Augen zu, als gewahrte sie ein Fastnachtwunder. Nicht wenig schämte sich Viktor vor ihr, bestrebt, möglichst korpulente Baumstämme zwischen sich und ihren beobachtenden Blick vorzuschützen. Allein auf das Schämen kommt es ja schließlich nicht an, wofern einem nur bei der Sache, worüber man sich schämt, wohl zumute ist. Und so wagte er sich denn allmählich dreister vor, unbekümmert um die gescheiten Augen der Freundin durch die vordersten Baumreihen springend.

Am Haupttage dann, abends um acht Uhr im Museumssaal, wickelte sich das umsichtig geordnete und fleißig einstudierte Programm zufriedenstellend ab. Zunächst der Prolog zwischen dem Statthalter und dem Viktor (alte und neue Kultur), wobei sich, wie der Pfarrer witzig bemerkte, die alte Kultur der neuen entschieden überlegen zeigte; nämlich Viktor vermochte zeitlebens keine zehn Verse textrichtig auswendig zu lernen. Hierauf, nach etlichen Gesangsvorträgen, kam das gewaltige Festspiel des Kurt an die Reihe. Aber o weh! Bestürzung! Ein Bär sollte zwischen die Nymphen und Meergreise fahren; und jetzt schickte wahrhaftig der Apotheker Röthelin im letzten Augenblick den kostbaren Bärenpelz zurück; so leid es ihm täte, allein eine plötzliche Erkrankung seines Vaters – er müsse unbedingt mit dem nächsten Zug verreisen. Allgemeine Aufregung; nur der Kurt selber, den es doch in erster Linie anging, blieb bewunderungswürdig ruhig; es gehe auch ohne den Bären, tröstete er seine Gemeinde; wiewohl etwas gezwungen, denn ärgerlich war ihm der Ausfall doch. Da kam ihm der Viktor lachend entgegen: »Es wird wohl keine so schwierige Kunst sein, Herr Neukomm«, meinte er, »ein bißchen zu brummen. Falls ich also aushelfen kann –« und duckte sich, von Beifall begleitet, in den Bärenpelz;[392] brummte auch in der Tat gar nicht schlecht, soweit es seine kraftlose Stimme erlaubte.

Zum Schluß folgte eine rätselhafte Nummer: Als der Vorhang auseinanderwich, sah man auf der Bühne einen Pflanzenwald mit einer mannshohen glänzenden Schmetterlingspuppe aus Flitterpapier zwischen den Blättern. Frau Direktor Wyß, als Ehrenpräsidentin der Idealia, sang drei Strophen, deren Text auf Verwandlung deutete; dann tupfte sie mit einem Zauberstabe auf die Puppe; die Hülle fiel, und aus der Hülle schlüpfte, statt eines Schmetterlings, zwei wacklige Fühlhörnchen in den Haaren, das mit Blumen und Kränzen lieblich geschmückte ›Idealkind‹. Das sogenannte Idealkind war ein begabtes, hübsches Waisenmädchen, das Frau Direktor Wyß und Frau Regierungsrat Keller in ihren Schutz genommen hatten und auf ihre Kosten erziehen ließen. Mit scherzhafter Anspielung auf die Idealia wurde es ›das Idealkind‹ getauft, machte übrigens auch seinem idealen Namen durch vortreffliche Schulzeugnisse alle Ehre. Das Idealkind nun lispelte, die Fühlhörnchen schüttelnd, einige Verse des Dankes, tat ein paar zierliche Knickse, hierauf wurde es von der Bühne geholt, von den Damen um die Wette abgeküßt und heimlich in den Winkeln mit Geschenken überhäuft. Hiermit war der feierliche Teil des Festes zu Ende; und ein unendliches Erlösungs-Tanzen hub an, mit dem Idealkind als Lieblingsgeschöpf, welches Idealgeschöpf übrigens, ungeachtet ihrer lenzknospigen Jugend, nicht übel nach dem Kurt äugelte. Aber auch Viktor erfreute sich der Bevorzugung, zum Lohn für seine Mitwirkung und gefällige Aushilfe. Kaum ein Paar glitt an ihm vorüber (denn selber zu tanzen fühlte er sich nicht aufgelegt), ohne ihm eine Artigkeit oder eine neckische Anspielung auf seinen Bären oder seine Kultur zuzuwerfen, in verschiedenen Geistesgraden, aber immer im liebenswürdigsten Tone. Ja, den Witzigsten gelang sogar, mit einem als Lasso kühn geschleuderten Gedankenfaden den Bären und die Kultur geschickt[393] zu verknüpfen: »Ich hätte gemeint, der Bär passe besser in die alte Kultur als in die neue« oder: »Haben Sie uns am Ende mit Ihrer neuen Kultur einen Bären aufbinden wollen?«

Ein Strom von harmlosem Wohlwollen flutete ihm entgegen, so daß er sich der schlecht verdienten Gewogenheit ordentlich schämte. Und jählings quollen aus seiner Beschämung Rührung und Dank, die nun wieder aus seinem Herzen dem gutartigen Volke zurückfluteten und endlich im dritten Rückprall ihn selber mit einem gänzlich neuartigen, nie vorher verspürten Glück erfüllten, dem Glück des Gemeingefühls. Er, der eingefleischte Sonderling, lernte heute durch die allgemeine Gunst den Segen der Genossenschaft werten. O spöttle nur, Frau Steinbach, mit deinen gescheiten Augen! Leuchter der Weltgeschichte sind sie ja nicht, zugegeben; allein gute, liebe Menschen sinds, und das ist die Hauptsache.

Friede innen, Friede außen, versöhnt mit sich selber und aller Welt, er wußte gar nicht, wie ihm geschah und wie er die tausendstimmige Harmonie aushalte. Und als er nun gar am nächsten Morgen ein Brieflein – ists möglich? von ihr!! – erhielt, das erste seines Lebens, tat ihm der Überschwang der Seligkeit ordentlich weh. Zwar eigentlich enthielt das Brieflein soviel wie nichts, wenigstens nichts fürs Gemüt; sie ersuchte ihn einfach um die Gefälligkeit, im Museum nachzufragen, ob man nicht ihren Fächer aufgefunden habe. Allein es waren doch Zeilen von ihrer Hand; und darüber hatte sie gesetzt: ›Hochgeehrter Herr‹ und darunter ›Ihre Theuda Wyß‹. Ob er sich schon vorsagte, das sind leere Formeln, so erhob und berauschte es ihn trotzdem, daß sie ihn einen hochgeehrten Herrn zu betiteln nicht für unwert erachtete. Mit der Unterschrift aber unternahm er ein listiges Kunststücklein: er schnitt mit der Nagelschere von den drei Worten ›Ihre Theuda Wyß‹ kreisum die zwei ersten säuberlich aus, das dritte unterschlagend. Siehst du jetzt: sie unterschreibt sich ›Ihre Theuda‹. Das heißt meine Theuda; sie[394] bekennt sich demnach als mir gehörig. Und versorgte das gefälschte Bekenntnis in die Kapsel seiner Uhrenkette. »Nun hab ich sie sozusagen in meinem Besitz«, jubelte sein Herz.

Jetzt überlief ihm die Seligkeit in die Nerven, daß er vor Ausgelassenheit irgend etwas recht Närrisches hätte beginnen mögen, er wußte nur nicht, was. Einstweilen stellte er sich vor den Spiegel und schnitt Grimassen, oder er ahmte Tierstimmen und menschliche Dialekte nach, was bei ihm den Gipfel der Fröhlichkeit bedeutete. Nein wirklich, im Ernst, er wußte nicht mehr, ob es ihm eigentlich wohl oder weh tue, so unausstehlich glücklich war er.

Quelle:
Carl Spitteler: Gesammelte Werke. 9 Bände und 2 Geleitbände, Band 4, Zürich1945–1958, S. 372-395.
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