II

Der Salzburger Zweig

(Aus Stendhals Nachlaß)[330] 85

In den Halleiner Salzbergwerken bei Salzburg werfen die Bergleute in die verlassenen Gruben des Werkes einen vom Winter entblätterten Baumzweig. Zwei oder drei Monate später finden sie ihn durch die Einwirkung des salzhaltigen Wassers, das auf ihn herabtropft und Niederschläge hinterläßt, über und über bedeckt mit glitzernden Kristallen. Die kleinsten Ästchen, nicht größer als die Krallen einer Meise, sind von einer Unzahl von winzigen, hellfunkelnden, bröckligen Kristallen überzogen. Den eigentlichen Zweig kann man nicht mehr erkennen. Wenn schöner Sonnenschein und völlig trockenes Wetter ist, so verfehlen die Halleiner Bergleute nicht, den Fremden, die sich zur Einfahrt in das Bergwerk rüsten, solche Diamantenzweige anzubieten. So eine Einfahrt ist eine eigenartige Unternehmung. Man setzt sich rittlings auf mächtige Fichtenbalken, die in schräger Linie aneinander gereiht sind. Diese Balken sind sehr stark, und der Umstand, daß sie seit einem oder zwei Jahrhunderten zum Reiten gedient haben, hat sie vollständig poliert. Vor dem Sitz, den man eingenommen hat und auf dem man die[331] lang aneinander gereihten Fichtenbalken hinuntergleitet, sitzt ein Bergmann auf seinem Rutschleder und rutscht vor einem in die Tiefe hinab. Das hat den Zweck zu verhindern, daß man allzuschnell hinuntersaust. Ehe diese Eilfahrt angetreten wird, veranlassen die Bergleute die Damen, über ihr Kleid riesige graue Tuchhosen anzuziehen, die ihnen das lächerste Aussehen geben.

Ich habe die so malerischen Salzwerke von Hallein im Sommer 18** in Gesellschaft von Frau Gherardi besucht. Eigentlich hatten wir der unerträglichen Glut, unter der wir in Bologna litten, entrinnen und auf dem Sankt-Gotthard frische Luft schnappen wollen. In drei Nächten waren wir durch das verpestete Sumpfland von Mantua und über den köstlichen Gardasee gekommen und über Riva, Bozen nach Innsbruck gelangt.

Frau Gherardi fand jene Berge so reizend, daß wir, die wir zu einem Ausflug aufgebrochen waren, schließlich eine richtige Reise unternahmen. Entlang den Ufern des Inns und dann der Salzach kamen wir bis nach Salzburg. Die entzückende Frische jenseits der Alpen, an ihrer Nordseite, der Kontrast zu der Stickluft und dem Staub, den wir in der lombardischen Ebene hinter uns gelassen hatten, gewährte uns mit jeden Morgen neuen Genuß und verführte uns zu immer weiterem Vordringen. In Golling kauften wir uns Alpenjoppen. Oft fanden wir nur unter Schwierigkeiten Nachtquartier und kaum Verpflegung, denn unsere Reisegesellschaft war groß. Aber diese Mißlichkeiten, diese Abenteuer machten uns Spaß.

Von Golling kamen wir nach Hallein, ohne von dem Vorhandensein der bereits erwähnten Salzwerke auch nur eine Ahnung zu haben.[332]

Wir fanden eine zahlreiche Gesellschaft von Fremden vor, denen wir uns beigesellten, wir in unseren bäuerischen Joppen, unsere Damen in ihren riesigen Bäuerinnentüchern, mit denen sie sich versehen hatten. Wir gingen nach den Salzwerken ohne die geringste Absicht, einfahren zu wollen. Der Gedanke, sich rittlings auf einen Holzbalken zu setzen, um eine Dreiviertelmiglie zurückzulegen, dünkte uns eigentümlich; wir fürchteten, im Grunde jener häßlichen schwarzen Grube zu ersticken. Frau Gherardi überlegte sich die Sache eine Weile und erklärte, sie für ihre Person wolle einfahren, ohne uns andern irgendwie zuzureden.

Während der Vorbereitungen, die lange währten, – denn ehe wir in die tiefe Grube einfuhren, mußte man sich etwas zu essen verschaffen, – begnügte ich mich damit, zu beobachten, was im Kopfe eines hübschen hellblonden bayrischen Chevaux-legers-Offiziers vorging. Wir hatten die Bekanntschaft dieses liebenswürdigen jungen Herrn, der französisch sprach und uns im Verkehr mit den deutschen Landleuten von Hallein sehr nützlich war, erst jüngst gemacht. Der junge Offizier war ein bildschöner Mann, aber durchaus kein fader Geck, im Gegenteil, offenbar ein gescheiter Mensch. Das war eine Entdeckung, die Frau Gherardi machte. Ich bemerkte, daß sich der Offizier sichtlich in die reizende Italienerin verliebte, der der Gedanke, in ein Bergwerk einfahren und binnen kurzem fünfhundert Fuß unter der Erde sein zu sollen, ein tolles Vergnügen bereitete. Frau Gherardi, bald völlig im Banne der Schönheit der unterirdischen Gänge und langen Stollen und der überwundenen Schwierigkeit, war himmelweit entfernt von dem Gedanken, jemandem gefallen zu wollen, geschweige denn,[333] von irgendwem auf der Welt entzückt zu sein. Um so mehr überraschten mich die wunderlichen Geständnisse, die mir der bayrische Offizier machte, ohne es zu ahnen. Er berauschte sich an dem himmlischen Wesen mit einem Engelsgesichte, das mit ihm an ein und demselben Tisch saß, in einer kleinen Alpenherberge, im Dämmerlichte winziger Fenster mit grünen Scheiben, und ich beobachtete, daß er bisweilen sprach, ohne zu wissen, mit wem und was er redete. Ich machte Frau Gherardi darauf aufmerksam, denn dieses Schauspiel, für das wohl keine junge Frau unempfänglich ist, wäre ihr ohne mein Zutun entgangen. Was mich besonders verwunderte, das war die Nuance von Narrheit, die sich im Hirne des Offiziers rastlos mehrte. Unaufhörlich entdeckte er an jenem Weibe meinen Augen unmerkbare Vorzüge. Seine Worte schilderten die Frau, die er zu lieben begann, in immer mehr idealisierender Weise. Ich sagte mir: »Die Ghita ist offenbar nur der Angelpunkt aller der entzückten Schwärmereien des armen Deutschen.« Einmal unterfing er sich, die Hand der Frau Gherardi zu streicheln, die durch eine kleine Narbe – sie hatte als kleines Mädchen die Blattern gehabt – in sehr störender Weise entstellt und dazu recht braun verbrannt war.

»Wie erklären sich meine Beobachtungen?« fragte ich mich. »Wo finde ich ein Gleichnis, das mir meine Gedanken klarer macht?«

In diesem Augenblick spielte Frau Gherardi mit dem hübschen kristallbedeckten Zweig, den ihr eben ein Bergmann gegeben hatte. Es war prächtiger Sonnenschein, – wir hatten den 3. August, – und die kleinen Salzkristalle funkelten so schön wie die herrlichsten Brillanten im Lichtmeer eines Ballsaales. Der bayrische Offizier,[334] dem ein noch wunderbarer glitzernder Zweig zuteil geworden war, bat Frau Gherardi, die Zweige zu tauschen. Sie willigte ein. Als er ihren Zweig bekommen hatte, drückte er ihn mit einer so spaßigen Geste an sein Herz, daß alle Italiener nicht umhin konnten, zu lachen. In seiner Verwirrung richtete der Offizier an Frau Gherardi die überschwenglichsten und einfältigsten Komplimente. Da ich ihn unter meinen Schutz genommen hatte, bemühte ich mich, das Törichte dieser Schmeicheleien zu beschönigen. Ich sagte zu der Ghita: »Der Eindruck, den auf diesen jungen Mann da der Adel Ihres italienischen Gesichts macht und Ihre Augen, wie er ähnliche nie gesehen hat, diese Wirkung gleicht ganz und gar derjenigen, die Kristallbildung auf den kleinen Buchenzweig da in Ihrer Hand ausgeübt hat, der so hübsch aussieht. Die Salzkristalle haben die schwarzen Ästchen des Zweiges mit so vielen und so hellfunkelnden Diamanten überzogen, daß man nur an ganz wenigen Stellen den Zweig so sehen kann, wie er wirklich ist.«

»Gut! Was wollen Sie daraus schließen?« fragte Frau Gherardi.

»Daß der Zweig da ein treues Ebenbild der Ghita ist, so wie sie in der Phantasie des jungen Offiziers da erscheint.«

»Damit wollen Sie sagen, mein Herr, daß Sie einen ebenso großen Unterschied bemerkt haben zwischen der Ghita, die ich in Wirklichkeit bin, und jener, die der liebenswürdige junge Offizier da in mir sieht, wie zwischen einem kleinen verdorrten Buchenast und diesem hübschen Brillantenzweig, den mir einer der Bergleute gegeben hat.«

»Gnädige Frau, der junge Offizier entdeckt an Ihnen[335] Eigenschaften, die wir, Ihre alten Freunde, niemals wahrgenommen haben. Beispielsweise sind wir nicht imstande, ein Antlitz voll zärtlicher Güte und voll Mitleid zu bemerken. Da jener junge Mann ein Deutscher ist, so ist in seinen Augen die Haupteigenschaft einer Frau die Güte, – und flugs nimmt er in Ihren Zügen den Ausdruck der Güte wahr. Wäre er Engländer, so sähe er an Ihnen die Hoheit und das lady like einer Herzogin. Und wär' er ich, so sähe er Sie so wie ich, dem – zu meinem Unglück – seit langem keine größere Verführerin vorgekommen ist.«

»Famos, ich verstehe,« meinte Ghita, »im Augenblick, wo man anfängt sich mit einer Frau zu beschäftigen, sieht man sie nicht mehr so, wie sie wirklich ist, sondern so, wie man sie haben möchte. Sie vergleichen die lieblichen Illusionen, die das beginnende Interesse schafft, mit diesen hübschen Kristallen, die den winterdürren Buchenzweig überdecken. Und sehr trefflich bemerken Sie, daß jene Illusionen nur in den Augen des verliebten jungen Mannes vorhanden sind.«

»So ist es,« fuhr ich fort, »darum erscheinen die Reden Verliebter vernünftigen Leuten so lächerlich, die das Wunder der Kristallbildung nicht begreifen.«

»Aha. Das nennen Sie also Kristallbildung!« sagte Ghita. »Wohlan, bilden Sie um mich Kristalle!«

Dieses vielleicht wunderliche Gleichnis machte auf die Phantasie der Frau Gherardi einen tiefen Eindruck, und als wir in der Hauptgrotte des Werkes anlangten, die von hundert kleinen Lampen erleuchtet wird, die wie zehntausend Lichter aussehen, weil sie von den Salzkristallen auf allen Seiten widergespiegelt werden, da sagte sie zu dem jungen Deutschen: »Ach, ist das wunderschön![336] Ich bilde um diese Grotte Kristalle und ich fühle, wie mich ihre Schönheit begeistert. Und Sie, bilden Sie auch Kristalle?«

»Ja, gnädige Frau,« erwiderte der junge Offizier schlicht, entzückt, mit der schönen Italienerin eine Empfindung gemeinsam zu haben; im übrigen verstand er gar nicht, was sie meinte. Wir mußten über seine naive Antwort lachen, daß uns die Tränen in die Augen kamen, zumal da Ghitas Liebhaber, ein Troddel, darob ernstlich eifersüchtig auf den bayrischen Offizier wurde. Er hielt das Wort »Kristallbildung« für etwas Gräßliches.

Beim Verlassen des Halleiner Werkes erfuhr mein neuer Freund, der junge Offizier, dessen unfreiwillige Bekenntnisse mich mehr interessiert hatten als alle Einzelheiten der Salzgewinnung, von mir, daß sich Frau Gherardi Ghita nannte und daß man nach italienischer Sitte in ihrer Gegenwart »die Ghita« sagte. Der arme Junge riskierte es unter Zittern und Zagen, »die Ghita« zu sagen, und Frau Gherardi, die sich über das schüchternleidenschaftliche Gebaren des jungen Mannes ebenso belustigte wie über die höchlichst ergrimmten Mienen eines gewissen anderen, lud den Offizier für den nächsten Tag ein zum Frühstück, kurz vor unserer Rückreise nach Italien. Als er sich entfernt hatte, hub der ergrimmte andere an: »Nun erklären Sie mir mal, meine teure Freundin, wozu bürden Sie uns die Gesellschaft dieses blonden Gecken mit seinen Glotzaugen auf?«

»Mein Herr, weil Sie nach zehntägiger Reise, bei der Sie von früh bis abend mit mir zusammen sind, mich so sehen, wie ich wirklich bin, während mich jene innig-zärtlichen Augen, die Sie Glotzaugen benamsen, idealisiert sehen. Ist es nicht so, Filippo,« fügte sie mit einem[337] Blick auf mich hinzu. »Jene Augen umkleiden mich mit einer glänzenden Kristallhülle. Ich bin für sie die Vollkommenheit, und das Wunderbarste dabei ist: was ich auch tue und wenn ich mal die größte Dummheit sage, den Augen dieses schönen Deutschen gehe ich meiner Vollkommenheit nie verlustig. Sie zum Beispiel, Sie, Annibaline«, – der Liebhaber, den wir ein wenig für troddelhaft hielten, hieß Oberst Annibale, – »ich wette, Sie finden mich in diesem Augenblicke ganz und gar nicht vollkommen? Sie denken, es sei schlecht von mir, daß ich diesen jungen Mann in unseren Kreis ziehe. Wissen Sie, was mit Ihnen ist, mein Lieber? Sie bilden keine Kristalle mehr um mich!«

Das Wort »Kristallbildung« ward unter uns Mode, und es nahm die Phantasie der schönen Ghita so in Anspruch, daß sie es auf alles anwandte. Wieder in Bologna, richtete sie bei jedem Liebesabenteuer, das in ihrer Loge bekrittelt wurde, das Wort an mich. »Dieser Zug spricht für oder gegen unsre Theorien,« pflegte sie zu mir zu sagen. Das Wort Kristallbildung, das wir so oft gebrauchten, erinnerte uns immer an unsre nette Reise. Nie in meinem Leben habe ich die rührende, einsame Schönheit der Gestade des Gardasees so tief empfunden. Wir verbrachten in der Barke köstliche Abende, trotz der schwülen Hitze. Wir verlebten Stunden, die man nimmer vergißt: leuchtende Jugendtage.

Eines Abends überbrachte uns irgendwer die Neuigkeit, daß sich die Principessa Lanfranchi und die schöne Florenza das Herz des jungen Malers Oldofredi einander streitig machten. Die arme Fürstin war offenbar bis über die Ohren verliebt, aber der junge Mailänder Künstler schien nur für Florenzas Reize Augen zu[338] haben. Man fragte sich: »Ist Oldofredi verliebt?« Ich weiß nicht, warum sich unsre Eigenliebe an jenem Abend darauf versteifte, zu erraten, ob der Mailändische Maler in die schöne Florenza verliebt sei.

Man erschöpfte sich in der Erörterung einer Unzahl kleiner Vorkommnisse. Als wir müde wurden, unsere Aufmerksamkeit auf fast unmerkliche Nuancen zu richten, die im Grunde gar nicht mal unbestreitbar waren, begann Frau Gherardi uns den kleinen Roman zu erzählen, der sich ihrer Meinung nach im Herzen Oldofredis zugetragen hatte. Gleich zu Beginn ihres Vortrags bediente sie sich unglücklicherweise des Wortes »Kristallbildung«. Der Oberst Annibale, dem das hübsche Gesicht des bayrischen Offiziers immer noch Herzdrücken verursachte, meinte laut, er begriffe das nicht, und fragte zum hundertsten Male, was wir unter dem Ausdrucke »Kristallbildung« verstünden. »Etwas, was ich für Sie nicht habe,« erwiderte ihm Frau Gherardi lebhaft. Und ohne sich weiter um ihn zu kümmern, wandte sie sich an uns übrige. »Ich glaube,« sagte sie, »ein Mann beginnt zu lieben, wenn ich ihn trübsinnig sehe.« Wir erhoben sofort Einspruch dagegen. »Was? Die Liebe, diese köstliche Empfindung, die so schön beginnt ...« »Jawohl,« unterbrach uns Frau Gherardi lachend und mit einem Blicke auf Annibale, »und die bisweilen so garstig endet, mit schlechter Laune und Zank. Ich verstehe Ihre Einsprüche. Den meisten Männern, groben Naturen, ist Liebe Liebe: man liebt oder man liebt nicht. Ebenso bildet sich der große Haufe ein, der Gesang aller Nachtigallen gliche sich untereinander, aber wir, die wir ihnen mit Lust lauschen, wir wissen, daß es zwischen Nachtigall und Nachtigall doch zehn verschiedene Spielarten gibt.«[339] – »Gnädige Frau,« warf jemand ein, »es scheint mir doch, entweder liebt man oder man liebt nicht.« – »Keineswegs, mein Herr, dann könnten Sie ebensogut sagen: ein Mann, der Bologna verläßt, um nach Rom zu laufen, sei schon an den Toren Roms, wenn er oben vom Apennin noch unsere Torre Garisenda sieht. Es ist weit von einer dieser beiden Städte zur anderen, und man kann ein Viertel, die Hälfte, drei Viertel zurückgelegt haben und ist darum immer noch nicht in Rom, wenn auch nicht mehr in Bologna.« – »Bei diesem trefflichen Vergleich,« sagte ich, »bedeutet Bologna offenbar die Gleichgültigkeit und Rom die höchste Liebe.« – »Wenn wir in Bologna sind,« fuhr Frau Gherardi fort, »sind wir ganz und gar indifferent, wir denken nicht daran, die Frau, in die wir eines Tages vielleicht toll verliebt sein werden, in besonderer Weise zu verehren. Und noch weniger denkt unsre Phantasie daran, ihren Wert zu überschätzen. Kurz und gut, wie wir in Hallein zu sagen pflegten, die Kristallbildung hat noch nicht begonnen.«

Bei diesen Worten erhob sich Annibale voller Wut und verließ die Loge, indem er sagte: »Ich werde wiederkommen, wenn Sie italienisch sprechen.« Alsbald wurde die Unterhaltung in französischer Sprache geführt, und alle Welt lachte, selbst Frau Gherardi. »Meinetwegen. Die Liebe ist also weggegangen,« meinte sie, »und man lacht noch. Man verläßt Bologna, erklimmt den Apennin und wandert die Straße nach Rom ...« – »Aber, gnädige Frau,« wandte wieder einer ein, »wir sind recht weit abgekommen vom Maler Oldofredi.« – Das machte sie ein wenig ungeduldig, und offenbar vergaß sie nun gänzlich den Annibale und seinen brüsken Weggang.[340] »Wollen Sie wissen,« entgegnete sie, »was sich ereignet, wenn man Bologna verläßt? Zunächst, glaube ich, ist diese Abreise völlig unfreiwillig; es ist eine instinktive Bewegung. Ich kann nicht sagen, ob sie von großem Genuß begleitet wird. Man bewundert, dann sagt man sich: ›Welche Lust, von dieser reizenden Frau geliebt zu werden!‹ Endlich taucht die Hoffnung auf. Nach der Hoffnung, die man häufig recht leicht faßt, denn man zweifelt an nichts bei nur ein wenig Feuer im Blute, – nach der Hoffnung, sage ich, überschätzt man mit Gefühlen der Wonne die Schönheit und die Vorzüge der Frau, von der man geliebt zu werden hofft ...«

Während Frau Gherardi sprach, nahm ich eine Spielkarte, schrieb auf ihre Rückseite auf den einen Rand »Rom«, auf den anderen »Bologna« und zeichnete zwischen Bologna und Rom vier Etappen, wie Frau Gherardi eben solche aufgezählt hatte:

1. die Bewunderung,

2. man erreicht den Punkt der Straße, wo man sich sagt: Welche Lust, von dieser reizenden Frau geliebt zu werden,

3. die Entstehung der Hoffnung bezeichnet die dritte Etappe,

4. man erreicht die vierte, sobald man mit Gefühlen der Wonne die Schönheit und die Vorzüge der geliebten Frau überschätzt. Das ist eben das, was wir Adepten »Kristallbildung« nennen und wovor der Karthager Reißaus machte. In der Tat, schwierig zu begreifen ist's.

Frau Gherardi fuhr fort: »Während dieser vier Seelenvorgänge oder Zustände, die Filippo eben krokiert hat, ersehe ich nicht den geringsten Grund dafür, daß unser Wandersmann trübselig sein sollte. Tatsächlich ist der[341] Genuß so rege, daß er alle Aufmerksamkeit, deren die Seele fähig ist, in Anspruch nimmt. Man ist ernst, aber durchaus nicht traurig. Das ist ein großer Unterschied.« – »Wir verstehen, gnädige Frau,« sagte einer der Zuhörer, »Sie erwähnen gar nicht jene Unglücklichen, für die alle Nachtigallen ein und dieselbe Stimme haben.« – »Der Unterschied zwischen ernst und traurig sein (l'esser serio e l'esser mesto),« fuhr Frau Gherardi fort, »ist entscheidend, wenn es sich darum handelt, ein Problem zu lösen wie das: Liebt Oldofredi die schöne Florenza? Ich glaube, Oldofredi liebt, weil er, nachdem er lange in Florenzas Gesellschaft gewesen war, traurig und nicht bloß ernst aus sah. Er ist trübsinnig, weil er auf folgendem Punkte angelangt ist. Nachdem er das Glück überschätzt hatte, das ihm durch das raffaelitische Gesicht, die wunderschönen Schultern, die herrlichen Arme, mit einem Worte, die eines Canova würdigen Formen der schönen Marchesina Florenza verheißen ward, hat er augenscheinlich von ihr die Erfüllung seiner kühnsten Hoffnungen zu erlangen gesucht. Sehr wahrscheinlich hat nun die Florenza, erschreckt, einen Fremdling zu lieben, der jeden Augenblick Bologna wieder verlassen kann, und vor allem darüber sehr empört, daß er imstande war, so schnell Hoffnungen zu hegen, ihn dieser Hoffnungen auf barbarische Weise beraubt.«

Wir hatten das Glück, Frau Gherardi Tag für Tag zu sehen; in jenem Gesellschaftskreise herrschte eine vollendete Vertrautheit, man verstand sich auf das Wort. Oft habe ich da über Scherze lachen sehen, die der Einkleidung in Worte gar nicht erst bedurften: ein Blick der Augen sagte alles. Die hübsche Italienerin ließ voll Übermut allen den bizarren Einfällen freien Lauf, die[342] ihr in den Kopf kamen. In Rom, Bologna, Venedig sind hübsche Frauen absolute Königinnen, und es gibt keinen größeren Despotismus als den, den sie auf die Gesellschaft ausüben. In Paris hat eine hübsche Frau beständig Angst vor der öffentlichen Meinung und ihrem Henkersknecht: dem Lächerlichen. Unaufhörlich hegt sie im Grunde ihres Herzens die Furcht vor Witzeleien, just wie ein absoluter Herrscher vor der Verfassung. Das ist der heimliche Gedanke, der ihr die Freude an allen Vergnügungen trübt und sie plötzlich ernst aussehen läßt. Eine Italienerin fände jene begrenzte Herrschaft, die eine Pariserin in ihrem Salon ausübt, lächerlich. Sie ist buchstäblich allmächtig über die Männer, die sich ihr nähern und deren Glück, wenigstens an den geselligen Abenden, von einer ihrer Launen abhängt. Wenn man der Dame mißfällt, die in einer Loge Herrscherin ist, wenn man ihr die Ungnade an den Augen absieht, dann kann man nichts Besseres tun, als für diesen Abend zu verschwinden.

Eines Tages ritt ich mit Frau Gherardi den Weg vom Fall des Reno spazieren, da begegneten wir Oldofredi. Er war allein, sehr in Wallung, er sah versonnen aus, aber durchaus nicht sorgenvoll. Frau Gherardi redete ihn an und plauderte mit ihm, um ihn genauer ansehen zu können. »Wenn mich nicht alles täuscht,« sagte ich hinterher zu Frau Gherardi, »so ist dieser arme Oldofredi seiner Leidenschaft gänzlich verfallen, die er für die Florenza gefaßt hat. Sagen Sie mir gütigst, mir, der ich Ihr Vasall bin, an welchem Punkte der Liebeskrankheit glauben Sie, daß er jetzt angelangt ist?« – »Ich sehe,« gab sie mir zur Antwort, »er geht einsam spazieren. Alle Augenblicke sagt er sich: Gewiß, sie liebt mich. Dann beschäftigt[343] er sich damit, neue Reize an der Geliebten zu entdecken, neue Gründe zur tollsten Verliebtheit zu ergrübeln.« – »Ich halte ihn nicht für so glücklich, wie Sie vermuten. Oldofredi muß oft grausame Qualen erleiden. Er kann nicht so sicher sein, daß ihn die Florenza liebe. Er weiß nicht wie wir, in welchem Maße bei derlei Dingen Reichtum, Stand, weltmännische Manieren in die Wagschale fallen.86 Oldofredi ist ein netter Mensch, zugestanden, aber er ist nur ein armer Fremdling.« – »Was tut das,« meinte Frau Gherardi, »ich möchte wetten, er ist auf einem Punkte, wo die Gründe zur Hoffnung triumphieren.« – »Dazu sah er allzu verstört aus,« erwiderte ich, »er muß Momente gräßlichen Unglücks haben. Er sagt sich: Aber, liebt sie mich denn?« – »Ich gebe zu,« sagte Frau Gherardi, indem sie wohl vergaß, daß sie mit mir redete, gleichsam als ob die sich selbst gegebene Antwort genüge, »es gibt Augenblicke himmlischen Glückes, Augenblicke, denen nichts in der ganzen Welt gleichkommt. Sie sind das Schönste am Leben. Endlich, wenn die Seele, ermüdet und gleichsam übermannt von so heftigen Empfindungen, aus Mattigkeit wieder zur Vernunft kommt, dann gewinnt nach so wechselvollen Wallungen folgende Gewißheit die Oberhand: Ich finde in ihrer Nähe ein Glück, wie es mir nur sie allein auf Erden gewähren kann.«

Ich hielt mein Pferd nach und nach mehr ab von dem der Frau Gherardi. Die drei Miglien, die uns von Bologna trennten, ritten wir, ohne ein einziges Wort zu reden, indem wir die Tugend, Diskretion genannt, übten.

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 330-344.
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