130.

[299] Natürlichkeit. Heute abend habe ich an einem jungen Mädchen, das allerdings einen großen Charakter zu haben scheint, den Triumph der Natürlichkeit gesehen oder glaube ihn wenigstens gesehen zu haben. Melanie[299] verehrt augenscheinlich einen ihrer Vettern und ist sich auch ihres Herzenszustandes bewußt. Der Vetter liebt sie; aber, weil sie ihm gegenüber sehr ernst ist, denkt er, er gefalle ihr nicht, und läßt sich von den auffälligen Gunstbezeugungen Claras, einer jungen Witwe, der Freundin Melanies, fesseln. Ich glaube, er wird sie heiraten. Melanie sieht es und leidet alle Qualen, die ein stolzes und gegen seinen Willen von heftiger Leidenschaft erfülltes Herz erdulden kann. Sie brauchte ihr Benehmen nur ein wenig zu ändern, aber sie hält es für eine niedrige und für ihr ganzes Leben folgenschwere Handlung, nur einen Schritt vom Natürlichen abzuweichen.

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 299-300.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Über die Liebe
Über die Liebe: Essay
Über die Liebe, Jubiläumsausgabe
Über die Liebe (insel taschenbuch)
Über die Liebe
Über die Liebe