138.

[301] Je heftiger jemand verliebt ist, um so größere Gewalt muß er sich antun, um eine vertrauliche Berührung der[301] Geliebten zu wagen und den Zorn eines Wesens herauszufordern, das ihm wie eine Gottheit zugleich die größte Liebe und den höchsten Respekt einflößt.

Diese Furcht, die Folgen einer zu zärtlichen Leidenschaft, oder in der Liebe aus Galanterie die falsche Scham, die aus einem maßlosen Wunsche zu gefallen und aus dem Mangel an Zuversicht entspringt, erweckt ein äußerst peinliches Gefühl, das einem unüberwindlich vorkommt und dessen man sich schämt. Wenn aber die Seele damit beschäftigt ist, Scham zu empfinden und diese zu überwinden, so kann sie sich nicht dem Genusse überlassen; denn ehe man an den Genuß, einen Luxus, zu denken vermag, muß das Gefühl der Sicherheit unbedingt sein.

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 301-302.
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