72.

[280] Der Abbé Rousseau war (1784) ein armer junger Mensch, der von früh bis abends alle Stadtviertel ablaufen mußte, um Geschichts- und Geographiestunden zu geben. In eine seiner Schülerinnen verliebt wie Abälard in Heloise, wie Saint-Preux in Julie, weniger glücklich, aber anscheinend nahe daran, es zu werden, mit ebenso großer Leidenschaft wie jener, aber ehrlicher, zartfühlender und vor allem mutiger, hat er sich wahrscheinlich dem Gegenstande seiner Leidenschaft geopfert.

Nachdem er in einem Restaurant des Palais Royal zu Mittag gegessen hatte, ohne sich dabei irgendwelche Unruhe oder Zerstreutheit anmerken zu lassen, schoß er sich eine Kugel durch den Kopf. In dem polizeilichen Protokoll, das an Ort und Stelle aufgenommen wurde, ist die Abschrift des folgenden Billets erhalten, das er kurz vorher geschrieben hat und das wegen seiner Merkwürdigkeit aufbewahrt zu werden verdient:

»Der unbegreifliche Gegensatz zwischen dem Adel meiner Empfindungen und der Niedrigkeit meiner Geburt, eine ebenso heftige wie aussichtslose Liebe zu einem anbetungswürdigen Mädchen, die Furcht, ihr Unehre zu bereiten, die notwendige Wahl zwischen Verbrechen und Tod, – alles das hat mich bestimmt, das Leben zu verlassen. Für die Tugend geboren und nahe daran, ein Verbrecher zu werden, ziehe ich den Tod vor.« (Grimm, III, 2, 495.)[280]

Ein bewundernswürdiger Selbstmord, und doch wird er den Sitten von 1880 abgeschmackt erscheinen.

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 280-281.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Über die Liebe
Über die Liebe: Essay
Über die Liebe, Jubiläumsausgabe
Über die Liebe (insel taschenbuch)
Über die Liebe
Über die Liebe