82.

[283] Loreto, den 11. September 1811


Ich habe soeben ein aus hiesigen Landleuten ausgehobenes, sehr schönes Regiment besichtigt. Es ist der Rest der viertausend Mann, die 1809 nach Wien marschiert sind. Ich schritt mit dem Obersten die Front ab und ließ mir von mehreren Soldaten ihre Geschichte erzählen. Es war die Tugend der mittelalterlichen Republiken, die mir da vor Augen trat, freilich verdorben durch das spanische Joch, die Pfaffen81 und den zwei- bis dreihundertjährigen feigen und grausamen Kleinstaatsdespotismus, der auf dem Lande gelastet hat.

Die glanzvolle ritterliche Ehre, die ebenso erhaben wie sinnlos ist, ist eine exotische Pflanze, die erst kurze Zeit bei uns gezüchtet wird.

Um 1740 findet man noch keine Spur von ihr; (vgl. die »Briefe aus Italien« von de Brosses). Die Offiziere von Montenotte und Rivoli hatten zu viele Gelegenheiten, der Mitwelt die wahre Tugend zu beweisen, als daß sie eine Ehre zu heucheln brauchten, die unter den Zelten der Armee von 1796 unbekannt und nur absonderlich gewesen wäre.

Es gab 1796 keine Ehrenlegion und keine Schwärmerei[283] für einen einzigen Mann, aber viel Schlichtheit und Tugend, wie sie Desaix hatte. Der Ehrbegriff ist also in Italien eingeführt worden durch Leute, die zu vernünftig und zu tugendhaft waren, um zu glänzen. Man fühlt den gewaltigen Unterschied zwischen den Soldaten von 1796, die in einem Jahre zwanzig Schlachten gewannen und dabei oft weder ordentliche Stiefel noch Röcke hatten, und den glänzenden Regimentern von Fontenoy, die den Engländern höflich und mit abgenommenen Hüten zuriefen: »Meine Herren, schießen Sie zuerst!«

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 283-284.
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