53. Die Minnegerichte

[181] Es hat Minnegerichte in Frankreich nachweisbar in der Zeit von 1150 bis 1200 gegeben; wahrscheinlich aber reicht ihr Dasein in eine viel frühere Zeit zurück.

Die Damen, die zu Minnegerichten zusammentraten, entschieden entweder über Rechtsfragen, zum Beispiel, ob die Liebe zwischen verheirateten Leuten statthaft sei, oder über besondere Fälle, die Liebende ihrem Spruch unterwarfen.59

Soweit ich mir über die moralische Seite dieser Rechtspflege klar werden konnte, muß man sie mit den Ehrengerichten der Marschälle von Frankreich vergleichen, die Ludwig der Vierzehnte eingesetzt hat.

Andreas, Kaplan des Königs von Frankreich,60 um 1170 schriftstellerisch tätig, erwähnt die Minnegerichte der Damen der Gascogne, der Gräfin Irmgard von Narbonne, der Königin Eleonore, der Gräfin von Flandern und der Gräfin von Champagne (1174); von letzterer erwähnt er allein neun Urteile.[181]

Johann von Nostradamus sagt in seiner Vie des poëtes provençaux: »Die Tenzonen waren Wortkämpfe zwischen sangeskundigen Rittern und Damen über irgend eine schöne und spitzfindige Streitfrage auf dem Gebiete der Liebe. Fälle, über die man nicht einig werden konnte, unterbreitete man zur endgültigen Entscheidung den vorgesetzten erlauchten Damen, die öffentlich und frei in Signe, Pierrefeu, Romanin oder andernorts Minnegerichte abhielten und ihre Urteile abgaben, die sogenannten arrests d'amours. Wahrscheinlich tagte ein und dasselbe Gericht bald im Schlosse zu Pierrefeu, bald in dem zu Signe, einander ziemlich nahen Orten.«

In seiner Vie de Bertrand d'Alamanon erzählt Nostradamus: »Dieser Troubadour war in Phanette von Romanin verliebt, eine Dame aus dem Hause Gantelmes, die damals in ihrem Schlosse zu Romanin, nahe der Stadt Saint-Remy, ein öffentliches und freies Minnegericht hielt. Sie war eine Tante der Laura de Sade in Avignon, die der Dichter Petrarca so verherrlicht hat.« Bei dieser Gelegenheit liest man, daß Laura in Avignon um 1341 gelebt hat, daß sie von Phanette unterrichtet wurde, und daß beide treffliche Lieder nach allen Regeln der provenzalischen Dichtkunst dichteten. Sie war von vielen vornehmen und edlen Damen der Provence umgeben, die um jene Zeit in Avignon berühmt waren, als der päpstliche Hof dort residierte. Sie widmeten sich dem Studium der Literatur, hielten öffentliche Minnegerichte ab und entschieden Liebesstreitigkeiten, die ihnen vorgebracht und zugesandt wurden.

Andreas berichtet, daß ein Gericht, das von einer großen Zahl von Damen und Rittern gebildet wurde, einen Liebeskodex veröffentlicht hat.[182]

Er hat uns auch ein Bittgesuch überliefert, das an die Gräfin von Champagne gerichtet wurde, als sie die Frage: »Kann wahre Liebe zwischen Eheleuten bestehen?« in verneinendem Sinne entschieden hatte.

Welche Strafe ereilte nun jemanden, der sich dem Urteil eines Minnegerichts nicht fügte? Wir lesen eine Verfügung des Gerichts von Gascogne, daß solche Urteile wie gesetzliche Bestimmungen anzusehen seien und daß unbotmäßige Damen sich die Feindseligkeit jeder ehrbaren Dame zuziehen würden. Wie weit erkannte aber die öffentliche Meinung die Urteilssprüche dieser Minnegerichte an? Galt sich ihnen zu entziehen genau so als Schande wie heutzutage in Ehrensachen? Ich finde bei Andreas und Nostradamus keine Auskunft über diese Fragen.

Zwei Troubadoure, Simon Doria und Lanfranc Cigalla, regten einmal die Frage an: »Wer ist der Liebe würdiger, jemand, der sie willig, oder jemand, der sie unwillig gewährt, um für freigebig zu gelten?« Diese Frage wurde den Damen des Minnegerichts von Pierrefeu und Signe vorgelegt, aber die beiden Troubadoure waren mit der gefällten Entscheidung nicht zufrieden und wandten sich an das oberste Minnegericht der Damen von Romanin.

In ihrer Fassung entsprachen diese Urteilssprüche ganz den Richterurteilen jenes Zeitalters. Wie auch die Meinung des Lesers über die gewaltige Macht sein mag, die damals die Minnegerichte im zeitgenössischen Leben bildeten, ich bitte dabei in Betracht zu ziehen, um was sich heute die Unterhaltung der vornehmsten und reichsten Damen von Toulon und Marseille bewegt. Waren die Frauen von 1174 nicht um vieles fröhlicher, geistreicher und glücklicher als die von heute?[183]

Fast alle Urteilssprüche der Minnegerichte fußen auf den Satzungen des Liebeskodex. Er findet sich vollständig in dem Werke von Andreas und enthält folgende einunddreißig Regeln.


Minneregeln aus dem zwölften Jahrhundert61


(Regulae amoris)


1.


Causa coniugii ab amore non est excusatio recta.

Die Ehe ist für die Liebe kein Hinderungsgrund.


2.


Qui non zelat, amare non potest.

Wer nicht eifersüchtig sein kann, der kann auch nicht lieben.


3.


Nemo duplici potest amore ligari.

Man kann sein Herz nicht zweimal vergeben.


4.


Semper amorem crescere vel minui constat.

Die Liebe kann jederzeit wachsen oder abnehmen.


5.


Non est sapidum, quod amans ab invito sumit coamante.

Was man in der Liebe gewaltsam erringt, bietet keinen Genuß.


6.


Masculus non solet nisi in plena pubertate amare.

Der Mann liebt gewöhnlich erst in voller Reife.


7.


Biennalis viduitas pro amante defuncto superstiti praescribitur amanti.[184]

Stirbt einer der Liebenden, so muß der Überlebende ihm zwei Jahre hindurch die Treue halten.


8.


Nemo sine rationis excessu suo debet amore privari.

Niemand soll ohne triftigen Grund seines Rechts in der Liebe beraubt werden.


9.


Amare nemo potest, nisi qui amoris suasione compellitur.

Niemand vermag zu lieben ohne Hoffnung auf Gegenliebe.


10.


Amor semper consuevit ab avaritiae domiciliis exsulare.

Durch Geiz wird die Liebe meist aus dem Hause getrieben.


11.


Non decet amare, quarum pudor est nuptias affectare.

Es ziemt sich nicht, die zu lieben, die man zu heiraten sich schämen würde.


12.


Verus amans alterius nisi sui coamantis ex affectu non cupit amplexus.

Wahre Liebe begehrt nach keinen anderen Liebkosungen als nach denen der Geliebten.


13.


Amor raro consuevit durare vulgatus.

Liebe, von der alle wissen, hat selten Dauer.


14.


Facilis perceptio contemptibilem reddit amorem, difficilis eum carum facit haberi.[185]

Zu leichter Erfolg raubt der Liebe bald den Reiz, Hindernisse verleihen ihr Wert.


15.


Omnis consuevit amans in coamantis aspectu pallescere.

Jeder Liebende erblaßt beim Anblick der Geliebten.


16.


In repentina coamantis visione cor contremescit amantis.

Beim unerwarteten Erscheinen des Geliebten erbebt das Herz.


17.


Novus amor veterem compellit abire.

Neue Liebe verjagt die alte.


18.


Probitas sola quemque dignum facit amore.

Verdienst allein macht der Liebe würdig.


19.


Si amor minuatur, cito deficit et raro convalescit.

Eine erlöschende Liebe verflackert rasch und lodert selten wieder auf.


20.


Amorosus semper est timorosus.

Der Liebende ist immer zaghaft.


21.


Ex vera zelotypia affectus semper crescit amandi.

Durch echte Eifersucht wächst die Liebe immer.


22.


De coamante suspicione percepta zelus et affectus crescit amandi.

Argwohn und seine Folge, die Eifersucht, nährt die Neigung.
[186]

23.


Minus dormit et edit, quem amoris cogitatio vexat.

Wen Liebesgedanken umgarnen, der ißt und schläft weniger.


24.


Quilibet amantis actus in coamantis cogitatione finitur.

Alles Tun eines Liebenden endet mit dem Gedanken an die Geliebte.


25.


Verus amans nil bonum credit nisi, quod cogitat coamanti placere.

Der wahren Liebe erscheint nur das gut, was der Geliebten gefällt.


26.


Amor nil posset amori denegare.

Liebe kann der Liebe nichts versagen.


27.


Amans coamantis solatiis satiari non potest.

Der Liebende wird des Genusses der Geliebten nie satt.


28.


Modica praesumptio cogit amantem de coamante suspicari sinistra.

Der leiseste Verdacht weckt den schrecklichsten Argwohn des Geliebten.


29.


Non solet amare, quem nimia voluptatis abundantia vexat.

Wer zu sehr an Vergnügungen gewöhnt ist, den meidet die Liebe.
[187]

30.


Verus amans assidua sine intermissione coamantis imaginatione detinetur.

Wer liebt, dem schwebt das Bild des geliebten Wesens immerdar vor Augen.


31.


Unam feminam nil prohibet a duobus amari et a duabus mulieribus unum.

Nichts steht dem entgegen, daß eine Frau von zwei Männern oder daß ein Mann von zwei Frauen geliebt wird.


Zuletzt die Entscheidung eines Minnegerichts:

Frage: »Utrum inter coniugatos amor possit habere locum ...?«

Urteil der Gräfin von Champagne:


»Dicimus enim et stabilito tenore firmamus, amorem non posse suas inter duos iugales extendere vires. Nam amantes sibi invicem gratis omnia largiuntur nullius necessitatis ratione cogente. Iugales vero mutuis tenentur ex debito voluntatibus obedire et in nullo se ipsos sibi invicem denegare ...

Hoc igitur nostrum iudicum cum nimia moderatione prolatum et aliarum quam plurimarum dominarum consilio roboratum pro indubitabili vobis sit ac veritate constanti.

Ab anno MCLXXIV calend. maii. Indictione VII.«


»Wir sagen und verfügen hiermit, daß die Liebe auf zwei verheiratete Personen ihre Rechte nicht ausdehnt, dieweil sich Liebende alles gegenseitig und freiwillig gewähren, ohne durch eine Notwendigkeit gezwungen zu werden, dagegen Ehegatten verpflichtet sind, sich gegenseitig[188] zu Willen zu sein und eins dem anderen nichts zu verweigern. Solches Urteil, das wir nach reiflicher Erwägung und nach Einholung des Gutachtens einer großen Zahl anderer Damen gefällt haben, sei euch allezeit eine unerschütterliche und unverbrüchliche Wahrheit! So gegeben im Jahre 1174 am 16. Mai.«

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 181-189.
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