59. Weitere Einwände

[220] Die ganze Kenntnis des Frauenherzens stammt in Frankreich aus dem Katechismus. Das Lächerlichste dabei ist, daß viele Leute diesem Buche keinen entscheidenden Wert beilegen, sobald es sich um fünfzig Franken handelt; aber sie hängen am Buchstaben und sind stumpfsinnig in Dingen, die bei der Eitelkeit unserer zeitgenössischen Sitten vielleicht von der größten Bedeutung für ihr Glück sind.

»Man braucht keine Ehescheidung, denn die Ehe ist ein Mysterium« – und was für eins? »Ein Sinnbild[220] der Vereinigung Christi mit seiner Kirche.« Wie stände es aber um jenes Mysterium, wenn das Wort »Kirche« zufällig männlichen Geschlechts wäre?

Wir wollen nicht weiter auf haltlose Vorurteile64 eingehen und nur auf eine merkwürdige Erscheinung hinweisen: die Wurzel des Baumes ist mit der Axt der Lächerlichkeit abgeschlagen worden, aber die Zweige grünen weiter.

Kehren wir zur Beobachtung der Tatsachen und ihrer Folgen zurück. Bei beiden Geschlechtern hängt das Schicksal des Alters davon ab, wie man seine Jugend verbracht hat. Bei den Frauen trifft das am richtigsten zu. Wie wird eine Frau von fünfundvierzig Jahren in der Gesellschaft behandelt? Auf harte und ihrem Verdienst nicht entsprechende Art und Weise. Mit zwanzig Jahren umschmeichelt, wird sie mit vierzig Jahren verlassen. Eine fünfundvierzigjährige Frau hat nur mittelbaren Einfluß durch ihre Kinder oder durch ihren Geliebten.

Eine Mutter, die eine bedeutende Künstlerin ist, kann ihren Sohn durch ihre Begabung nur in den seltensten Fällen fördern, wenn er selbst von der Natur eine Künstlerseele empfangen hat. Eine Mutter aber, die geistig gebildet ist, wird nicht nur die schöngeistigen Talente ihres Sohnes ausbilden, sondern auch die Anlagen, die der menschlichen Gesellschaft nützlich sind, und ihm dann die Wahl lassen.

Die Barbarei der Türken hängt größtenteils mit dem Zustande der geistigen Verwilderung der schönen Georgierinnen zusammen. Die jungen in Paris geborenen Leute verdanken ihren Müttern die unbestrittene geistige Überlegenheit, die sie mit sechzehn Jahren über ihre Altersgenossen in der Provinz haben. Zwischen dem[221] sechzehnten und fünfundzwanzigsten Jahre wird es gerade umgekehrt.

Die Männer, die die Buchdruckerei, die Webkunst und anderes erfunden haben, tragen täglich zu unserem Glücke bei, ebenso Montesquieu, Racine, Lafontaine. Nun aber steht die Anzahl der Genies, die ein Volk hervorbringt, in einem gewissen Verhältnis zur Gesamtzahl seiner Männer mit leidlicher Bildung. Wer weiß, ob mein Schuhmacher nicht so viel Seele hat, um wie Corneille zu schreiben; es fehlt ihm aber gewiß die nötige Bildung, um seine Gefühle auszugestalten und mitteilbar zu machen.

Nach der heutigen Erziehungsweise der weiblichen Jugend sind alle als Frauen geborenen Genies für das allgemeine Glück verloren. Nur wenn ihnen der Zufall Mittel, sich zu äußern, in die Hand gibt, entwickeln sie die höchsten Fähigkeiten. Ich erinnere in unseren Tagen an Katharina die Zweite, die ihre einzige Erziehung in der Gefahr gehabt hat, an Madame Roland, an Alessandra Mari, die in Arezzo ein Regiment ausgehoben und gegen die Franzosen geführt hat, an die Königin Karoline von Neapel, die besser als Castlereagh den Einfluß des Liberalismus einzuschränken verstand. Das, was der Überlegenheit der Frauen in geistiger Arbeit Einhalt gebietet, habe ich im Kapitel über das weibliche Schamgefühl, Punkt 9, erwähnt.

Welcher Mann hat – in der Liebe oder in der Ehe – das Glück, seiner Lebensgefährtin alle seine Gedanken unverändert mitteilen zu können? Er findet wohl ein gutes Herz, das an seinen Sorgen Anteil nimmt, aber er muß seine Gedanken stets in kleine Münze wechseln, wenn er verstanden sein will. Es wäre auch lächerlich,[222] brauchbare Ratschläge von einem Geist zu erwarten, der zum Verständnis der Dinge der angedeuteten Maßregel bedarf. Die nach heutigen Erziehungsbegriffen vollendetste Frau läßt ihren Gefährten im Drange des Lebens einsam und bald gelangweilt dastehen.

Welchen herrlichen Berater aber könnte der Mann in seiner Frau finden, wenn sie zu denken verstünde, einen Berater, dessen Interessen nicht nur den Lenz des Lebens hindurch in einem einzigen Punkt, sondern in allen Dingen des ganzen gemeinsamen Lebens genau die seinigen wären?

Es ist eins der schönsten Vorrechte des Geistes, im Alter Achtung zu genießen. Die Ankunft Voltaires in Paris ließ selbst die Majestät erbleichen. Die armen Frauen aber haben, wenn der Glanz ihrer Jugend vorüber ist, nur ein einziges, trauriges Glück: sich Selbsttäuschungen über ihre Rolle in der Welt hinzugeben. Die Trümmer ihrer Jugendmacht sind nur lächerlich, und für unsere heutigen Frauen wäre es ein Glück, wenn sie mit fünfzig Jahren stürben.

Bei richtiger Lebensanschauung erkennt man um so klarer, je mehr Geist man hat, daß die Gerechtigkeit der einzige Weg zum Glück ist. Genie ist eine Macht, aber noch mehr eine Leuchte um die große Kunst des Glücklichseins zu finden.

Die meisten Menschen haben in ihrem Leben einen Augenblick, wo sie Großes leisten könnten und wo ihnen nichts unmöglich erscheint. Durch die Unwissenheit der Frauen geht dieser glänzende Augenblick dem Männergeschlecht unausgenutzt verloren. Allenfalls bewirkt es die Liebe, daß wir anständig zu Pferd sitzen oder in der Wahl unseres Schneiders geschickt sind.[223]

Ich habe nicht die Zeit, meinen Standpunkt der Kritik gegenüber zu verteidigen. Wenn ich die Macht hätte, Vorschriften zu erteilen, so würde ich den jungen Mädchen möglichst genau dieselbe Erziehung angedeihen lassen wie den Knaben. Wenn auch die heutige Erziehung der Knaben nicht ganz richtig ist, – man unterrichtet sie nicht in den wichtigsten Wissenschaften, in der Logik und Ethik, – so ist es doch immer noch besser, die jungen Mädchen ebenso zu erziehen, als sie nur Musik, Malen und Sticken zu lehren.

Ein großer Vorteil der Schule (im Gegensatz zum Unterricht zu Hause) ist der, daß die Kinder von ihren Schulgefährten unwillkürlich die Kunst lernen, wie man in der Welt lebt und für seinen Vorteil sorgt. Ein kluger Lehrer sollte den Kindern ihre kleinen Streitereien und Freundschaften vor Augen führen und damit den Unterricht über die Moral beginnen statt mit der Geschichte vom goldenen Kalbe. Ich möchte, daß die jungen Mädchen wie die Knaben das Lateinische erlernten. Das Lateinische ist vortrefflich, weil es lehrt, was Langeweile ist. Daneben Geschichte, Mathematik, Pflanzenkunde, die sich namentlich auf die Nähr-und Arzneipflanzen zu erstrecken hätte, Logik und Ethik. Der Unterricht im Tanzen, in der Musik und im Zeichnen müßte mit fünf Jahren beginnen.

Mit sechzehn Jahren muß ein junges Mädchen daran denken, sich einen Mann zu suchen, und von seiner Mutter eine richtige Vorstellung über die Liebe, die Ehe und die Untreue der Männer erhalten.

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 220-224.
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