Achtundzwanzigstes Kapitel.

[263] Umsonst suchte Julian dumm und klein zu erscheinen. Er gewann niemanden. Er war allzusehr anders. »Merkwürdig!« sagte er sich. »Meine Lehrer sind doch sehr gescheite Menschen, unter Tausenden erkoren! Warum würdigen sie meine Demut nicht?«

Ein Einziger, so schien es Julian, machte sich seinen guten Willen zunutze, indem er seiner Komödie glaubte oder so tat. Das war der Abbé Chas-Bernard, der Zeremonienmeister an der Kathedrale, der seit fünfzehn Jahren auf eine Domherrnstelle wartete. Bis dahin war er Lehrer der geistlichen Beredsamkeit am Seminar.

Zur Zeit seiner Blindheit war Julian auch in diesem Unterrichtsfache einer der ersten gewesen. Das hatte ihm die Freundschaft des Abbé eingetragen. Nach der Stunde nahm er ihn manchmal am Arm und wandelte mit ihm durch den Garten.

»Ob er dabei eine Absicht hat?« fragte sich Julian. Er wunderte sich, wenn ihm der Abbé stundenlang von den Prunkgewändern erzählte, die im Besitze der Kathedrale waren. Er verlor sich dabei in allerlei Einzelheiten. »Was bezweckt der Mann mit der langweiligen Aufzählung all dieses Trödels?« dachte Julian. »Das kommt mir wie eine schlaue Vorrede vor. Aber immer wieder dasselbe? Es folgt nichts. Er muß mir stark mißtrauen. Allerdings, er ist klüger als alle die andern, die man nach vierzehn Tagen bis in ihre geheimsten Gedanken durchschaut. Auch weiß ich, daß sein Ehrgeiz seit anderhalb Jahrzehnt leidet.«[264]

Eines Abends, mitten in der Fechtstunde, wurde Julian zum Direktor gerufen.

»Morgen ist Fronleichnamsfest,« sagte Pirard. »Herr Abbé Chas-Bernard wünscht, daß Sie ihm beim Ausschmücken der Kathedrale helfen. Gehen Sie und gehorchen Sie!«

Dann rief er ihn noch einmal zurück und sagte ihm in mitleidigem Tone: »Wenn Sie sich bei dieser Gelegenheit ein wenig in der Stadt umsehen wollen, habe ich nichts dagegen.«

Julian erwiderte: »Incedo per ignes!« Zu deutsch: »Ich habe verborgene Feinde!«

Am nächsten Morgen, in aller Frühe, ging er mit gesenktem Blick nach der Kathedrale. Der Anblick der Straße und des beginnenden Lebens in der Stadt tat ihm wohl. Überall sah er, daß man die Häuserfassaden für die Prozession behing.

Es war ihm zumute, als sei er erst gestern in das Seminar gekommen. Das Schloß Vergy erstand vor seiner Phantasie. Dann fiel ihm die hübsche Amanda ein. Ob er ihr begegnen würde? Das Kaffeehaus war in der Nähe. Da erblickte er von weitem, am Portal seiner geliebten Kathedrale, die wohlbeleibte Gestalt des Abbé Chas-Bernard, dessen freundliches offenes Gesicht heute leuchtete.

»Ich warte schon auf Sie, mein lieber Sohn!« rief der Abbé dem Seminaristen aus großer Entfernung entgegen, sobald er ihn erkannt hatte. »Willkommen! Wir haben heute viel und schwere Arbeit. Stärken wir uns durch einen Imbiß. Das richtige Frühstück folgt um zehn Uhr, während des Hochamts.«[265]

»Euer Hochehrwürden bitte ich,« sagte Julian ernst, »mich keinen Augenblick allein zu lassen. Wollen Sie gütigst feststellen, daß ich eine Minute vor fünf Uhr zur Stelle bin?« Dabei zeigte er nach der Turmuhr über ihren Häuptern.

»Aha!« meinte der Abbé. »Sie haben Angst vor Ihren Kollegen! Sie tun den kleinen Bösewichtern zu viel Ehre an. Ein schöner Weg bleibt schön, auch wenn ihn Hecken mit Dornen umstehn. Der brave Wandersmann geht seinen Pfad und läßt die bösen Dornen Dornen sein ... Jetzt aber ans Werk, mein lieber Freund! Ans Werk!«

Der Abbé hatte mit seiner Voraussage, die Arbeit sei schwer, nicht unrecht. Am Tage vorher war in der Kirche eine große Trauerfeier abgehalten worden. Man hatte nichts vorbereiten können, und so galt es, an einem Vormittag die gotischen Pfeiler, die die drei Kirchenschiffe bildeten, bis zu einer Höhe von beinahe zehn Metern mit rotem Damast zu bekleiden. Wohl hatte der Bischof vier Tapezierer mit der Eilpost aus Paris kommen lassen. Doch vermochten diese Leute nicht allein mit allem fertig zu werden. Dazu kam, daß sie die schwerfälligen Besançoner Handwerker, die ihnen helfen sollten, durch ihre spöttischen Anweisungen verwirrten statt sie verständig anzustellen.

Julian sah, daß er selber auf die Leiter steigen mußte. Seine Behendigkeit kam ihm hierbei zugute. Er übernahm die Leitung der einheimischen Arbeiter. Der Abbé schaute ihm voll Freude zu, wie er von einer Leiter auf die andere kletterte. Als alle Pfeiler mit Damast umkleidet waren, galt es, den Baldachin über[266] dem Hauptaltar mit fünf riesigen Federbüschen zu schmücken. Das reichvergoldete Dach ruhte auf acht hohen gewundenen Säulen aus italienischem Marmor. Wenn man nun nach der Spitze des Baldachins, über dem Tabernakel, wollte, mußte man in einer Höhe von mehr denn zwölf Metern über einen alten, vielleicht morschen Holzsims hingehen. Angesichts dieses gefährlichen Steges verloren die Pariser Tapezierer ihre strahlende Heiterkeit. Sie schauten empor, diskutierten lang und breit, aber keiner von ihnen stieg hinauf.

Julian ergriff die Federbüsche, kletterte flugs die Leiter hinan und befestigte die Büsche säuberlichst in Form einer Krone auf der Dachspitze des Baldachins. Als er wieder unten anlangte, schloß ihn der Abbé gerührt in die Arme.

»Optime!« rief der biedere Priester. »Optime! Das werde ich Seiner Hochwürden vermelden.«

Das Zehn-Uhr-Frühstück verlief in frohester Stimmung. Abbé Chas-Bernard hatte seine Kirche noch nie so schön gesehen.

Er begann zu erzählen: »Mein lieber Schüler, hier in dieser ehrwürdigen Basilika war meine selige Mutter Stuhlvermieterin. Ich bin also in diesen hohen Hallen aufgewachsen. Dann kam die Schreckensherrschaft Robespierres und richtete uns zugrunde. Bereits als kleiner Bursche von acht Jahren ministrierte ich bei den Messen. An solchen Tagen gab man mir das Mittagessen. Niemand verstand ein Meßgewand so gut zusammenzulegen wie ich. Nie wurden die Goldborten geknickt. Seit der Wiedereinführung des Gottesdienstes durch Napoleon habe ich das Glück, die Zeremonien[267] in dieser ehrwürdigen Kathedrale zu leiten. Fünfmal im Jahre sehen meine Augen die Kirche in diesem herrlichen Schmuck. Aber niemals hat sie so prächtig ausgesehen. Niemals lag der Damast so glatt an den Säulen ...«

»Endlich«, dachte Julian, »wird er sich mir anvertrauen. Er fängt an, von sich zu reden. Er wird mir sein Herz ausschütten.«

Aber es kam nichts Unbedachtes über die Lippen des so sichtlich begeisterten Mannes. »Er ist glücklich,« sagte sich Julian. »Das ist ein Mann! Ein Vorbild für mich. Ehre, wem Ehre gebührt!«

Dieses Sprichwort war eine Erinnerung an den alten Stabsarzt, den Freund seiner Kindheit.

Als es dann beim Hochamt zum Sanktus klingelte, wollte Julian ein Chorhemd anziehen und sich dem Bischof und der herrlichen Prozession anschließen.

»Die Diebe, mein lieber Freund! Die Diebe!« rief der Abbé. »Daran denken Sie nicht! Die Prozession wird gleich dasein. Wir müssen achtgeben, Sie und ich. Wir können froh sein, wenn uns hinterher bloß ein paar Ellen von der schönen Borte fehlen, die unten um die Säulen läuft. Echte Goldborte, Verehrtester! Sie werden das nördliche Seitenschiff beaufsichtigen. Bleiben Sie ja dort! Ich nehme das Hauptschiff und das südliche Seitenschiff. Passen Sie auf die Beichtstühle auf! Daselbst lauern die Helferinnen der Diebe auf den Moment, wo wir den Rücken kehren.«

In diesem Augenblick schlug es drei Viertel zwölf. Die große Glocke begann zu läuten, laut und wuchtig. Diese vollen feierlichen Klänge erschütterten Julian.[268] Seine Gedanken vergaßen die Erde. Der Duft des Weihrauchs und der Rosenblätter, von kleinen Kindern vor den Altar hingestreut, brachte ihn vollends in Verzückung. Um bei Verstand zu bleiben, hätte er nur daran zu denken brauchen, daß die Glocken von einem Dutzend armer Schlucker um einen Hundelohn in Bewegung gesetzt wurden. Statt dessen schweifte Julians Seele, begeistert durch das mächtige Geläute, in phantastische Ferne. Auch daran dachte er nicht, daß aus einem Träumer, wie er einer war, niemals ein tüchtiger Priester, niemals ein großer Organisator werden kann. Eine so leicht erregbare Seele taugt höchstens zum Künstler. Julian, dem Phantasten, fehlte der Blick für die reale Seite des Lebens.

Während die Prozession bei wunderschönem Wetter gemächlich durch die Straßen von Besançon zog, an allen den prächtigen Ruhealtären verweilend, die weltlicher Wetteifer errichtet hatte, herrschte in der Kirche tiefes Schweigen. Es war halbdunkel darin und köstlich kühl, voll Rosen- und Weihrauchduft. Die Stille, die unendliche Einsamkeit und die frische Luft des langen Raumes umspannen Julian mit holder Träumerei. Der Abbé hielt sich im andern Seitenschiff auf. Nichts störte Julian. Seine Seele hatte den Erdenleib verlassen, der langsam im ihm anvertrauten Nordschiffe hin und her wandelte. Er war um so ruhiger, weil er sich überzeugt hatte, daß in den Beichtstühlen nur ein paar fromme Frauen knieten. Seine Augen schauten, ohne zu sehen.

Gleichwohl wurde er ein wenig aufmerksam, als sein Blick auf zwei elegant gekleidete Damen fiel. Eine von[269] ihnen kniete vor einem Beichtstuhl, die an dere daneben an der Kirchenbank. Er sah sie zunächst nur von ungefähr. Da nahm er plötzlich wahr, daß in dem Beichtstuhl kein Geistlicher saß. Vages Pflichtgefühl ließ ihn schärfer zusehen. Oder gefiel ihm die einfache vornehme Kleidung der beiden Frauen?

»Merkwürdig!« dachte er bei sich. »Wenn es vornehme Damen sind, warum sehen sie sich die Prozession nicht bequem vom Sitzplätze eines Balkons an? Oder wenn sie so fromm sind, warum beten sie nicht an einer der vielen Betstellen, an denen die Prozession vorbeikommt? Das Kleid der Knienden da ist gut gemacht. Eine graziöse Gestalt!«

Er ging ganz langsam an den beiden Damen vorüber, um sie genau betrachten zu können. Die im Beichtstuhle Kniende wandte ein wenig den Kopf, als sie den Schall von Julians Tritten in der gewaltigen Stille ringsum vernahm. Mit einem Male stieß sie einen leisen Schrei aus, ward ohnmächtig und sank rückwärts um. Die Freundin, die unweit kniete, sprang ihr bei.

Jetzt wurde Julian stutzig und bemerkte eine Halskette aus gewundenen Perlenschnuren, die ihm wohlbekannt vorkam. Im Augenblick darauf erkannte er die Haartracht, wie Frau von Rênal sie zu tragen pflegte. Sie war es.

Die andre, die ihr den Kopf stützte und sie vor dem gänzlichen Umsinken zu bewahren suchte, war Frau Derville. Außer sich vor Schreck eilte Julian hinzu. Frau von Rênal hätte im Fall vielleicht die Freundin mitgerissen, wenn Julian nicht beide aufgefangen hätte. Er sah, wie Frau von Rênals Kopf blaß und leblos zur[270] Schulter herabhing. Er kniete zu Boden und half Frau Derville das geliebte Haupt an die Lehne eines Rohrstuhles betten.

Frau Derville drehte sich um und erkannte Julian.

»Gehen Sie schnell weg, Herr Sorel! Gehen Sie!« gebot sie mit zorniger Stimme. »Auf keinen Fall dürfen Sie von ihr gesehen werden. Sie sind das Schreckgespenst meiner Freundin. Vor Ihrer Zeit war sie so glücklich. Sie haben sich abscheulich aufgeführt. Machen Sie, daß Sie fortkommen! Wenn Sie eine Spur von Schamgefühl im Leibe haben, so entfernen Sie sich!«

Das alles sagte sie in gebieterischem Tone. Julian war in diesem Moment so schwach, daß er wegging. »Die Derville hat mich immer gehaßt!« sagte er sich, todtraurig.

In demselben Augenblicke ertönte der näselnde Gesang der Priester, die an der Spitze der Prozession schritten. Sie kamen in die Kirche. Der Abbé Chas-Bernard rief mehrere Male nach Julian. Er hörte es nicht. Da kam der Abbé selbst und zog ihn am Arm hinter dem Pfeiler hervor, an dem Julian halb von Sinnen lehnte.

»Ich will Sie dem Bischof vorstellen. Kommen Sie!« sagte der Abbé. »Ist Ihnen nicht wohl, mein Sohn?« setzte er hinzu, als er bemerkte, daß der junge Mann blaß aussah und sichtlich unfähig war zu gehen. »Sie haben sich überanstrengt.« Er reichte ihm den Arm. »Kommen Sie! Setzen Sie sich hinter mich auf das Bänkchen am Weihwasserbecken! Ich werde mich davorstellen.«

Sie nahmen dicht am Hauptportal Platz.[271]

»Ruhen Sie sich aus! Wir haben noch gut zwanzig Minuten Zeit, ehe Hochwürden kommt. Vielleicht erholen Sie sich. Wenn der Bischof vorüberkommt, werde ich Sie stützen. Ich bin stark und kräftig, trotz meiner Jahre.«

Als der Prälat vorüberschritt, zitterte Julian dermaßen, daß es der Abbé aufgeben mußte, ihn vorzustellen.

»Grämen Sie sich nicht weiter darüber!« meinte er gutmütig. »Ich werde eine andre Gelegenheit finden.«

Gegen Abend schickte er zehn Pfund Kerzen für die Seminarkapelle, wozu er sagen ließ, sie seien erspart worden, weil die Kerzen in der Kathedrale durch Julians Umsicht und Eifer sofort nach der Prozession ausgelöscht worden wären. Nichts war weniger wahr.

Quelle:
Stendhal: Rot und Schwarz. Leipzig 1947, S. 263-272.
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