Dreiundsiebzigstes Kapitel.

[674] Eine Stunde später, als er von neuem fest eingeschlafen war, wurde er durch Tränen geweckt, die ihm über die Hand rannen. »Schon wieder Mathilde!« dachte er, noch halb im Schlafe. »Sie will mich durch Sentimentalitäten kirre machen ...«

Verdrießlich über die Aussicht auf eine neue Szene im pathetischen Stile, hielt er seine Augen geschlossen. Ein paar Verse aus einer der Contes von Lafontaine kamen ihm in den Sinn: Belphegor auf der Flucht vor seiner Frau. Da hörte er ein eigentümliches Seufzen. Er schlug die Augen auf und erblickte Frau von Rênal.

Im Augenblick lag er ihr zu Füßen.

»Oh! Sehe ich dich noch einmal, ehe ich sterbe!« rief er. »Oder ist es ein Traumbild?«

Ganz wach werdend, fügte er hinzu: »Verzeihung, gnädige Frau. Für Sie bin ich nur ein Mörder!«[674]

»Herr Julian,« sagte sie in schlichtem Tone, »ich komme, Sie zu beschwören: legen Sie Berufung ein! Ich weiß, Sie wollen es nicht ...«

Vor Schluchzen konnte sie nicht weitersprechen.

»Ich flehe Sie an, vergeben Sie mir!«

Sie warf sich in seine Arme.

»Wenn du willst, daß ich dir verzeihe, dann mußt du sofort Berufung gegen das Todesurteil einlegen!«

Julian hörte nicht auf sie zu küssen.

»Willst du mich bis zur Entscheidung alle Tage besuchen?« fragte er. »Es wird acht Wochen dauern.«

»Ich schwöre es dir. Ich will alle Tage kommen, wenn es mir mein Mann nicht verwehrt.«

»Gut! Ich unterschreibe,« erklärte Julian. »Verzeihst du mir wirklich? Ist dies möglich?«

Er drückte sie fest an sich, ganz von Sinnen. Sie stieß einen leisen Schrei aus.

»Was hast du?«

»Nichts. Du hast mir ein wenig weh getan.«

Julian brach in Tränen aus, gab sie frei und bedeckte ihre Hand mit heißen Küssen.

»Wer hätte das gedacht, als ich dich zum letzten Male in deinem Zimmer in Verrières küßte!«

»Und wer hätte mir damals gesagt, daß ich einen so infamen Brief an Herrn von La Mole schreiben würde ...«

»Glaube mir: immer nur habe ich dich geliebt, immer nur dich und keine andre!«

»Ist dies möglich?« rief Frau von Rênal glückselig.

Sie legte ihren Kopf an Julians Schulter, während er vor ihr kniete. Lange weinten sie beide wortlos.[675] Nie in seinem ganzen Leben hatte er einen ähnlichen Augenblick gehabt.

Nach einer langen Weile, als sie wieder zu sprechen vermochte, fragte Frau von Rênal: »In welchen Beziehungen stehst du zu der jungen Frau ... dem Fräulein von La Mole? Ich bin nahe daran, an den seltsamen Roman zu glauben.«

»Der Schein trügt,« entgegnete Julian. »Sie ist meine Frau, aber nicht meine Geliebte ...«

Indem sie sich hundertmal unterbrachen, gelang es ihnen schließlich, sich gegenseitig über das zu unterrichten, was sie voneinander nicht gewußt hatten. Den Brief an den Marquis hatte der junge Priester aufgesetzt, der seit einiger Zeit Frau von Rênals Beichtvater war. Sie hatte ihn nur abgeschrieben.

»Zu welch schauderhafter Tat hat mich der Glaube gezwungen!« klagte sie. »Dabei habe ich die gräßlichsten Stellen noch gemildert!«

Julians Glücksrausch bewies ihr zur Genüge, daß er ihr verzieh. Nie war er so liebestoll gewesen.

»Ich halte mich trotzdem für fromm,« sagte Frau von Rênal im Laufe des Gesprächs. »Ich glaube aufrichtig an Gott. Ebenso glaube ich ... und darüber gibt es wohl keinen Zweifel ... daß ich eine abscheuliche Sünde begehe ... und doch, jetzt, wo ich bei dir bin ... trotzdem du zweimal auf mich geschossen hast ...«

Ohne daß sie es wollte, verstummte sie unter Julians Küssen.

»Laß mich!« bat sie. »Ich will vernünftig mit dir sprechen ... Jetzt, wo ich bei dir bin, entschwinden[676] mir alle meine Pflichten. Ich bin nichts als Liebe zu dir ... Ach, das Wort Liebe ist viel zu schwach ... Ich fühle für dich, was ich einzig und allein für Gott fühlen dürfte: ein Gemisch von Anbetung, Inbrunst und Selbstvergessenheit ... Ach, was weiß ich, zu was sonst noch du mich begeisterst? Wenn du mir sagtest, ich solle den Gefängniswärter erdolchen: ehe es mir voll bewußt würde, wäre die schreckliche Tat geschehn. Kannst du mir nicht erklären, was das ist? Ehe ich von dir gehe, möchte ich mein eignes Herz kennen. In acht Wochen müssen wir voneinander scheiden ... Sag, werden wir wirklich voneinandergehn?«

Sie lächelte bei den letzten Worten.

»Ich nehme mein Wort zurück!« rief Julian aufspringend. »Ich lege keine Berufung gegen das Todesurteil ein, wenn du etwa vorhast, durch Gift, durch eine Kugel, durch ein Messer, durch Kohlengas oder sonstwie deinem Leben ein Ende zu setzen!«

Frau von Rênals Gesichtsausdruck änderte sich mit einem Male. An Stelle inniger Zärtlichkeit trat tiefe Versonnenheit.

»Wollen wir nicht zusammen in dieser Stunde sterben?« fragte sie leise.

»Wer weiß, was wir im Jenseits finden!« erwiderte Julian. »Wahrscheinlich nichts. Wollen wir da nicht lieber noch zwei köstliche Monate miteinander verleben? Acht Wochen, das ist eine lange Frist! Es soll die glücklichste Zeit meines Lebens werden!«

»Die glücklichste Zeit deines Lebens?«

»Gewiß! Ich spreche zu dir wie zu mir selbst, offen und ehrlich, ohne Übertreibung.«[677]

»Das heißt, du verlangst von mir, daß ich ebenso spreche,« sagte sie, scheu und trübsinnig lächelnd.

»Ja! Schwöre bei deiner Liebe zu mir, daß du dir weder mittelbar noch unmittelbar ein Leid antun wirst! Du mußt leben! Schon um meines Sohnes willen! Mathilde wird ihn den Dienstboten überlassen, sobald sie Frau von Croisenois ist ...«

»Ich schwöre es,« sagte sie tonlos. »Aber ich will deine Berufung von dir unterzeichnet mitnehmen. Ich werde sie dem Oberstaatsanwalt persönlich überreichen ...«

»Nimm dich in acht! Du kompromittierst dich!«

»Nachdem ich so weit gegangen bin, dich in deiner Gefängniszelle zu besuchen, bin ich für die ganze Freigrafschaft mein lebelang eine Romanheldin ...« Und schmerzlich bewegt fuhr sie fort: »Ich habe meinen guten Ruf verloren ... ich bin ein ehrvergessenes Weib ... gewiß, aber dir zuliebe!«

Der Klang ihrer Worte war so traurig, daß ihr Julian im Gefühl eines völlig neuen Glückes um den Hals fiel. Es war nicht mehr Liebesrausch, sondern innige Dankbarkeit. Zum ersten Male ward ihm das Opfer, das sie ihm gebracht, in seiner vollen Größe klar.

Höchstwahrscheinlich fand sich eine barmherzige Seele, die Herrn von Rênal von den langen Besuchen seiner Frau im Gefängnis unterrichtete; denn drei Tage später schickte er ihr seinen Wagen mit dem ausdrücklichen Befehl, sofort nach Verrières zurückzukommen.

Quelle:
Stendhal: Rot und Schwarz. Leipzig 1947, S. 674-678.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Rot und Schwarz
Rot und Schwarz
Rot und Schwarz: Chronik aus dem 19. Jahrhundert Roman
Rot und Schwarz: Chronik aus dem 19. Jahrhundert
Rot und Schwarz (5824 796).
Rot und Schwarz: Zeitbild von 1830 (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der einsame Weg. Schauspiel in fünf Akten

Der einsame Weg. Schauspiel in fünf Akten

Anders als in seinen früheren, naturalistischen Stücken, widmet sich Schnitzler in seinem einsamen Weg dem sozialpsychologischen Problem menschlicher Kommunikation. Die Schicksale der Familie des Kunstprofessors Wegrat, des alten Malers Julian Fichtner und des sterbenskranken Dichters Stephan von Sala sind in Wien um 1900 tragisch miteinander verwoben und enden schließlich alle in der Einsamkeit.

70 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon