Fünfunddreißigstes Kapitel.

[368] Nach mehrmonatiger Probezeit hatte Julian vom Intendanten des Hauses soeben die dritte Vierteljahrsrate seines Gehalts empfangen. Es stand jetzt folgendermaßen um ihn. Herr von La Mole hatte ihn zur Verwaltung seiner Güter in der Bretagne und Normandie[368] herangezogen, so daß er häufige Reisen dorthin machen mußte. Auch war ihm die Führung des Briefwechsels in dem berühmten Prozeß mit dem Abbé von Frilair anvertraut. Pirard hatte ihn hierüber genau unterrichtet.

Aus den kurzen Bemerkungen, die der Marquis auf den Rand aller möglichen ihm zugesandten Schriftstücke kritzelte, setzte Julian Briefe auf, die vom Marquis fast immer ohne weiteres unterzeichnet wurden.

In der Priesterschule klagten Julians Lehrer oft über seinen geringen Fleiß, sahen ihn aber trotzdem als einen ihrer begabtesten Schüler an. Die mannigfachen Arbeiten, die Julian mit dem Eifer passionierten Ehrgeizes erledigte, beraubten ihn sehr bald seiner frischen Farben, die er aus der Provinz mitgebracht hatte. Seine Blässe war in den Augen seiner Mitschüler ein Vorzug. Übrigens fand Julian, daß sie viel weniger boshaft waren und viel weniger vor dem Gelde knieten als die in Besançon.

Der Marquis hatte ihm ein Pferd zur Verfügung gestellt. Da Julian aber befürchtete, auf seinen Spazierritten Seminaristen zu begegnen, hatte er ihnen gesagt, dieser Sport sei ihm vom Arzte verordnet. Der Abbé Pirard hatte ihn in verschiedene Gesellschaften von Jansenisten eingeführt. Julian war erstaunt. Der Begriff Religion war in seinem Geiste unzertrennlich mit Heuchelei und Hoffnung auf Geldgewinn verbunden. Um so mehr bewunderte er diese frommen und sittenstrengen Männer, die nie an ihren Beutel dachten. Mehrere Jansenisten hatten ihn ins Herz geschlossen und gaben ihm Ratschläge. Eine neue Welt erschloß sich ihm. Er lernte[369] in diesem Kreise auch einen Grafen Altamira1 kennen, einen sechs Fuß langen Mann, den man in seiner Heimat als Karbonaro zum Tode verurteilt hatte. Er war eine tiefreligiöse Natur. Die merkwürdige Mischung von Frömmigkeit und Freiheitsliebe, die Julian noch nie kennengelernt, dünkte ihn ein Wunder.

Mit Norbert von La Mole stand Julian auf kühlem Fuße. Der junge Graf hatte gefunden, daß Julian auf die Scherze einiger seiner Freunde allzu lebhaft Bescheid gab. Ein- oder zweimal hatte Julian eine Taktlosigkeit begangen. Seitdem war er darauf bedacht, Fräulein von La Mole nie anzureden. Man war im Hause La Mole stets von ausgesuchter Höflichkeit gegen ihn, aber er fühlte, daß sein Ansehen ein wenig gesunken war. Sein gesunder Provinzialwitz erklärte sich diese Tatsache mit dem bekannten Sprichwort: »Solange neu, solange treu!« Wohl sah er auch bereits schärfer als in den ersten Tagen. Und vor allem war sein anfängliches Entzücken über die Pariser Urbanität verflogen.

Sobald er seine Tagesarbeit erledigt hatte, verfiel er dem tödlichsten Stumpfsinn. Das ist die ausdörrende Wirkung der so bewundernswerten, aber gemessenen Höflichkeit der höchsten Gesellschaft, in der die Stellung eines jeden nach seinem Range haarscharf abgezirkelt wird. Ein empfindsames Herz fühlt bald die Unnatur heraus. Man kann der Provinz ohne Zweifel einen gewöhnlichen oder wenig höflichen Ton vorwerfen, aber dort ereifert man sich noch bei Rede und Antwort. Julians Eigenliebe wurde im Hause La Mole niemals verletzt, aber am Ende des Tages war ihm oft[370] um Weinen zumute. In der Provinz ist der Kellner voller Teilnahme, wenn einem beim Betreten des Kaffeehauses irgendein Mißgeschick zustößt. Aber wenn einem dies Ereignis an die Eigenliebe geht, so wird er das Wort, das einen verletzt, zehnmal in seine Beileidsbezeigung einflechten. In Paris ist jeder so rücksichtsvoll, beiseite zu gehen, um zu lachen, aber man bleibt ewig ein Fremdling.

Es gab eine Menge kleiner Begebenheiten, die Juli an lächerlich gemacht hätten, wenn man ihn auf das Lächerliche hin betrachtet hätte. In seiner tollen Empfindsamkeit beging er tausend Ungeschicklichkeiten. Alle seine Zerstreuungen waren Vorsichtsmaßregeln. Er schoß täglich mit der Pistole und gehörte zu den besten Schülern des berühmtesten Fechtmeisters. Statt wie früher zu lesen, wenn er einen freien Augenblick hatte, ging er in die Reitbahn und ließ sich die verdorbensten Pferde geben. Auf den Spazierritten mit dem Stallmeister wurde er fast regelmäßig abgeworfen.

Der Marquis fand ihn wegen seiner Arbeitskraft, seiner Schweigsamkeit und seines Verstandes sehr brauchbar. Nach und nach vertraute er ihm die verwickeltsten Geschäfte an. Wenn Herr von La Mole bei seinem weitgehenden politischen Ehrgeiz Muße dazu fand, machte er mit viel Geschick kaufmännische Geschäfte. Da er in der Lage war, das Neueste zu wissen, gelang ihm manche Spekulation. Er kaufte Häuser und Wälder, aber er war leicht ärgerlich. Er warf tausend Taler zum Fenster hinaus, aber prozessierte mitunter um hundert Franken. Großherzige reiche Leute lieben an Geschäften die Unterhaltung, nicht die Ergebnisse.[371] Der Marquis brauchte einen Adjutanten, der seine Geldangelegenheiten gut und übersichtlich in Ordnung hielt.

Frau von La Mole mokierte sich trotz ihres gemessenen Wesens zuweilen über Julian. Alles Unerwartete, das seine Quelle in der Sensibilität hat, ist der Schrecken jeder vornehmen Dame, denn Plötzlichkeiten sind das Gegenteil der Konvenienz. Zwei- oder dreimal nahm der Marquis für ihn Partei. »Wenn er in deinem Salon lächerlich erscheint, so triumphiert er dafür in meinem Arbeitszimmer!«

Julian glaubte das Geheimnis der Marquise zu durchschauen. Sie geruhte ihre Teilnahmlosigkeit aufzugeben, sobald der Baron von La Joumate gemeldet wurde. Das war eine kalte Natur mit undurchdringlichen Zügen, groß, hager, häßlich und tadellos gekleidet. Er brachte sein ganzes Leben im königlichen Schloß zu. Wenn er sprach, sagte er Belanglosigkeiten. Genau so farblos war auch seine Gesinnung. Frau von La Mole wäre überglücklich gewesen, und dies zum erstenmal in ihrem Dasein, wenn sie den Baron zu ihrem Schwiegersohne hätte machen können.

Fußnoten

1 sein Modell ist Beyles Intimus Domenico di Fiore, vgl. Sonderling, S. 60, 583 und 710 ff.


Quelle:
Stendhal: Rot und Schwarz. Leipzig 1947, S. 368-372.
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