Neunundvierzigstes Kapitel.

[496] Verloren in Grübeleien über die Zukunft und über die Rolle, die sie zu spielen hoffte, kam der Augenblick, wo sich Mathilde nach den nüchternen erdenfernen Gesprächen zurücksehnte, die sie oft mit Julian gepflogen hatte. Bisweilen auch, vom Fluge in die Höhen ermattet, wünschte sie sich die Augenblicke des Glücks zurück, die sie bei ihm gefunden hatte. Aber zu solchen Erinnerungen gesellte sich ihr stets die Reue. Mitunter litt sie arg darunter.

»Auch in ihrer schwachen Stunde«, sagte sie sich, »darf sich eine junge Dame meiner Art höchstens einem[496] hervorragenden Manne zuliebe vergessen. Man soll nicht sagen dürfen, sein hübsches Gesicht oder seine Schneidigkeit zu Pferd hätte mich verführt. Seine klugen Gespräche über Frankreichs Entwicklung und seine Gedanken über die Ähnlichkeit der Ereignisse, die am Horizonte lauern, mit der englischen Revolution von 1688, die sind daran schuld gewesen!« Und wenn sie Gewissensbisse verspürte, so sagte sie sich: »Ich bin verführt worden als ein schwaches Weib, aber nicht wie jedes beliebige Schäfchen durch äußere Vorzüge. Wenn wieder eine Revolution ausbricht, warum sollte Julian Sorel dann nicht die Rolle des Herrn Roland spielen und ich die der Frau Roland? Ihre Rolle wäre mir lieber als die der Frau von Staël. Amoralität im Wandel bringt einen im neunzehnten Jahrhundert in Verruf. Man soll mir gewiß keinen zweiten Fehltritt vorzuwerfen haben. Ich stürbe vor Scham ...«

Trotz solch ernster Grübeleien schaute sie Julian oft an und fand in seinen geringsten Betätigungen köstliche Grazie.

Sie rühmte sich: »Zweifellos ist es mir gelungen, in ihm jedweden Gedanken an vermeintliche Rechte auf mich zu tilgen. Dies beweist mir übrigens der Schmerz, und die tiefe Leidenschaftlichkeit, mit der mir der arme Junge vor acht Tagen seine Liebe gestanden hat. Ich muß freilich zugeben, daß es recht wunderlich von mir war, mich über einen Ausdruck von ihm zu ärgern, in dem ebensoviel Verehrung wie Leidenschaft lag. Bin ich nicht seine Frau? Es war ganz natürlich, daß er so gesagt hat, und im Grunde auch liebenswürdig. Obgleich ich ihm hundertmal und wirklich[497] herzlos von dem oder jenem Flirt erzählt habe, der kein andres Motiv hatte als die pure Langeweile, so liebt er mich doch noch. Er ist auf diese Herren eifersüchtig. Ach, wenn er wüßte, wie ungefährlich sie mir sind! Und wie kümmerlich sie sich neben ihm ausnehmen, alle einander gleich, einer wie der andre!«

Unter solcherlei Gedanken kritzelte sie aufs Gerate wohl Linien auf ein Blatt ihres Notizbuches. Eins der entstandenen Profile überraschte und entzückte sie: es hatte eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Julians Gesichtsschnitt.

»Ein Wunder der Liebe!« frohlockte Mathilde. »Unbewußt habe ich sein Bildnis gezeichnet.«

Sie eilte in ihr Zimmer, schloß sich ein und versuchte nunmehr ernstlich und mit großem Eifer, Julians Silhouette zu zeichnen, aber es gelang ihr nicht. Das durch Zufall geschaffene Profil war und blieb am meisten ähnlich. Sie war glückselig darüber. Es war ihr der klare Beweis einer großen Leidenschaft.

Sie vermochte die kleine Zeichnung erst aus der Hand zu legen, als die Marquise sie rufen ließ, um mit ihr in die Italienische Oper zu fahren. Lediglich weil sie dachte, Julian zu sehen, ging sie gern mit. Sie nahm sich vor, ihre Mutter zu veranlassen, Julian mit in ihre Loge zu nehmen.

Sie sah nur langweilige Menschen. Julian ließ sich nicht blicken. Während des ersten Aktes träumte Mathilde von dem Geliebten in bacchantischer Trunkenheit. Im zweiten Akte taten es ihr ein paar Worte der Liebe an, zu denen die Musik eben nur Cimarosa geschaffen haben konnte. Die Heldin der Oper sang:
[498]

Devo punirmi,

Se troppo amai ...


Von dem Augenblick an, da sie diese sublime Arie hörte, entschwand ihr die ganze irdische Welt. Wenn man sie ansprach, gab sie keine Antwort. Ihre Mutter tadelte sie. Mit Mühe zwang sich Mathilde, sich ihr zuzuwenden. Sie war auf einem Gipfel der Verzückung angekommen, der nicht minder hoch war wie der, auf den sich Julian im Moment seiner heftigsten Leidenschaft verstiegen hatte. Die köstliche göttliche Melodie zu jenen Worten, die so wunderbar zu ihrer eigenen Lage paßten, wich ihr nicht aus der Seele, auch nicht, wenn sie Julians nicht unmittelbar gedachte. So war es die Musik, der es Mathilde verdankte, daß sie an diesem Abend in die Stimmung kam, in der Frau von Rênal immer war, wenn sie Julians gedachte. Die Hirnliebe ist zweifellos geistvoller als die wahre Liebe, aber begeisterte Augenblicke hat sie selten. Sie kennt sich zu gut; unaufhörlich beobachtet sie sich selber. Statt das Denken aus dem Geleise zu bringen, baut sie nur mit Gedanken.

Wieder zu Haus, behauptete Mathilde, sie habe Fieber und könne nicht schlafen. Die halbe Nacht verbrachte sie am Flügel. Immer wieder sang sie die Worte der Arie, die sie so entzückt hatte:


Devo punirmi,

Se troppo amai ...


Das Ergebnis dieser närrischen Nacht war, daß sich Mathilde einbildete, ihre Liebe überwunden zu haben. Den ganzen folgenden Tag über erfaßte sie jede Gelegenheit, sich den Sieg über ihre tolle Leidenschaft[499] zu beweisen. Ihr Hauptbestreben war, Julian in jeder Hinsicht zu mißfallen. Dabei entging ihr keine seiner Bewegungen.

Julian war zu unglücklich1 und vor allem zu erregt, als daß er die äußere Betätigung eines so komplizierten inneren Zustandes begriffen hätte. Noch weniger erkannte er, wie günstig das Spiel für ihn stand. Er warf seinen Einsatz auf die falsche Seite. Noch nie hatte er dermaßen gelitten. Was er tat, stand in nur geringer Beziehung zu seinem Verstande. Wenn ihm irgendein nüchterner Menschenkenner gesagt hätte: »Beeilen Sie sich, aus dieser Ihnen günstigen Stimmung Vorteil zu ziehen! Bei solcher Hirnliebe, wie man sie in Paris findet, dauert ein bestimmter Zustand nie länger denn zwei Tage«, so hätte er ihn verständnislos angestarrt.

Aber so exaltiert Julian auch war: sein Ehrgefühl ließ sich nicht beirren. Seine erste Pflicht war Verschwiegenheit. Davon ging er nicht ab. Sich Rat zu holen und seine Herzensnot dem ersten besten zu beichten, wäre ihm ein ebensolches Glück gewesen wie dem Pilger in der glühenden Wüste ein Tropfen frischen Wassers vom Himmel gespendet. Julian erkannte die Gefahr. Er fürchtete, mit einem Tränenstrom zu antworten, wenn ihn jemand indiskret ausgefragt hätte. Deshalb schloß er sich in sein Zimmer ein.

Er sah Mathilden lange im Garten spazierengehen. Als sie endlich wieder in das Haus gegangen war, begab er sich hinunter und ging zu dem Rosenstrauch, an dem sie sich eine Malmaison abgebrochen hatte.

Es war Nacht geworden und stockdunkel. So konnte er sich ganz seinem Kummer überlassen, ohne zu fürchten,[500] daß man ihn sah. Er war sich klar, daß Mathilde eine Liebelei mit einem der jungen Offiziere, mit denen sie so vergnügt geplaudert, haben müsse.

»Mich hat sie geliebt, aber sie hat erkannt, daß ich nicht viel wert bin!« sagte er sich. »Wahrlich, ich tauge nicht viel!« Das war im Moment seine vollste Überzeugung. »Alles in allem bin ich ein fader gewöhnlicher Mensch, langweilig für jedermann, mir selber unerträglich.«

Alle seine guten Eigenschaften, alle Dinge, die er sonst enthusiastisch liebte, alles das war ihm in den Tod zuwider. Und mit dieser verkehrten Phantasie unterfing er sich, das Leben zu beurteilen! In solch einen Irrtum kann nur ein höherer Mensch verfallen.

Mehrmals kam ihm der Gedanke an den Selbstmord. Der Tod dünkte ihn verlockend, wie köstliche Ruhe, ein Labsal dem Verschmachtenden in der Wüste.

»Aber wenn ich tot bin, wird sie mich erst recht verachten!« rief er aus. »Welch häßliches Andenken würde ich ihr hinterlassen!«

Ein Mensch, der in den tiefsten Abgrund des Unglücks gestürzt ist, hat als allerletzte Zuflucht nur den Mut. Julian war nicht genial genug, um sich zu sagen: »Ich muß etwas wagen!« Wie er so dastand und nach Mathildens Fenster hinaufstarrte, sah er durch die Spalten der Läden, daß sie das Licht auslöschte. Im Geiste erstand ihr entzückendes Zimmer vor ihm. Ach, einmal nur war er dort!

Weiter flog seine Phantasie nicht ...

Es schlug ein Uhr. Als er den Glockenton hörte, durchzuckte es ihn: »Ich muß hinauf zu ihr!«[501]

Seine Seele ward erleuchtet. Im Nu begründete er diesen Gedanken tausendfach. »Kann ich noch unglücklicher werden?«2 sagte er sich. Er lief nach der Leiter. Der Gärtner hatte sie angekettet. Julian zersprengte ein Glied der Kette mit Hilfe des Hahnes einer seiner kleinen Pistolen. Sodann richtete er die Leiter rasch auf und lehnte sie gegen Mathildens Fenster.

»Sie wird erzürnt sein und mich mit Verachtung überschütten«, sagte er sich. »Was tut das? Ich gebe ihr einen Kuß, einen letzten Kuß, und dann gehe ich in mein Zimmer und schieße mich tot. Meine Lippen müssen ihre Wangen berühren, ehe ich sterbe!«

Er flog die Leiter hinauf und klopfte an den Fensterladen. Nach ein paar Augenblicken vernahm es Mathilde.

Sie wollte den Laden öffnen, aber die Leiter war daran gelehnt. Julian klammerte sich an den eisernen Haken, der dazu diente, den offenen Laden festzuhalten, und versetzte der Leiter einen derben Ruck, damit sie sich so weit verschob, daß Mathilde den Laden öffnen konnte.

Mehr tot als lebendig schwingt sich Julian ins Zimmer.

»Du! Du bists!« ruft sie und wirft sich in seine Arme.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Julian war überglücklich und Mathilde fast ebensosehr. Sie klagte sich laut an und beschuldigte sich vor ihm.

»Strafe mich für meinen abscheulichen Stolz!« sagte sie und preßte ihn mit ihren Armen an sich, als wollte[502] sie ihn ersticken. »Du bist mein Herr! Ich bin deine Sklavin! Auf den Knien muß ich dich bitten, mir zu verzeihen, daß ich mich gegen dich habe auflehnen wollen.«

Sie entwand sich seiner Umarmung und fiel vor ihm nieder. »Ja, du bist mein Herr!« flüsterte sie, trunken vor Glück und Liebe. »Herrsche immerdar über mich! Strafe deine Sklavin auf das härteste, wenn sie sich wider dich empören will

In einem andern Moment entriß sie sich seinen Armen, zündete eine Kerze an und, ging daran, sich ihr Haar abzuschneiden. Nur mit vieler Mühe vermochte Julian dies zu verhindern.

»Ich will ein Symbol vor Augen haben, daß ich deine Magd bin!« sagte sie. »Wenn mich je wieder mein fluchwürdiger Hochmut verwirrt, dann weise auf mein Haar und sprich: ›Es handelt sich nicht mehr um Liebe oder um die Seelenregung des Augenblicks! Du hast geschworen, mir zu gehorchen. Gehorche bei deiner Ehre!&#8249

Julians Mannestum kam seinem Glücke gleich.

Als das Frührot des Tages die Ostflächen der Schornsteine jenseits des Parkes färbte, sagte Julian zu seiner Geliebten: »Ich muß auf der Leiter zurück! Ich lege mir damit ein Opfer auf, deiner würdig. Ich beraube mich einiger Stunden des höchsten Glückes, das es auf Erden gibt. Dein guter Ruf erheischt es. Wenn du mein Herz kennst, weißt du, welche Gewalt ich mir antue. Bleibe mir immer, was du in dieser Stunde bist! Die Ehre ruft. Das genügt ... Ich möchte dir noch sagen, daß man seit meinem ersten Hiersein Verdacht hat,[503] nicht auf Einbrecher, sondern auf Herrn von Croisenois. Dein Vater hat einen Wächter im Garten aufgestellt. Croisenois ist von Spionen umgeben. Er ist keine Nacht unbeobachtet ...«

Mathilde lachte laut auf. Ihre Mutter und eine der Kammerjungfern nebenan erwachten. Man redete durch die Türe. Julian schaute Mathilden ins Gesicht. Sie war blaß geworden. Die Jungfer bekam ein paar Scheltworte zu hören. Die Mutter ward keiner Antwort gewürdigt.

»Wenn nur niemand auf den Gedanken kommt, ein Fenster zu öffnen, und die Leiter erblickt!« raunte Julian.

Ein letztes Mal schloß er Mathilde in die Arme. Dann schwang er sich auf die Leiter. Er kletterte oder vielmehr er glitt hinab und war im Nu unten im Garten. Drei Sekunden später lag die Leiter in der Lindenallee, und Mathildens Ehre war außer Gefahr.

Als Julian wieder zur vollen Besinnung kam, bemerkte er, daß er blutig und halbnackt war. Er hatte sich bei seinem tollkühnen Abrutsch verletzt.

Sein hohes Glück hatte ihm die volle Tatkraft seines Charakters wiedergegeben. Wenn in diesem Augenblick ein Dutzend Männer auf ihn eingedrungen wären, so hätte er sich ihnen ganz allein entgegengestellt. Es hätte seine Seligkeit nur vermehrt. Glücklicherweise wurde seine soldatische Tüchtigkeit nicht auf die Probe gestellt.

Nachdem er die Leiter an ihren Platz gebracht und die Kette wieder angelegt hatte, unterließ er es nicht, die Spuren der Leiter unterhalb Mathildens Fenster im[504] Beete der fremdländischen Blumen zu verwischen. Als er im Halbdunkel mit den Händen die lockere Erde breitstrich, fühlte er etwas auf seine Hand fallen. Es war eine lange Locke von Mathildens Haar. Die hatte sie sich abgeschnitten und Julian zugeworfen.

Sie stand am Fenster.

»Das schickt dir deine Magd«, rief sie ziemlich laut, »zum Zeichen ewigen Dankes! Ich verzichte auf den Gebrauch meiner Vernunft! Sei du mein Herr

Julian war überwältigt und nahe daran, die Leiter wieder zu holen und abermals hinaufzustürmen. Schließlich aber trug der gesunde Menschenverstand den Sieg davon.

Fußnoten

1 In der Erstausgabe ist vor diesem Absatze folgende aus dem Rahmen der Erzählung fallende, aber (als Rechtfertigung des Naturalismus in der Literatur) berühmt gewordene Randbemerkung eingefügt:

Ja, lieber Leser, ein Roman ist sozusagen ein Spiegel, der auf einer Landstraße spazieren geht. Bald läßt er deine Augen das Blau der Himmelshöhen erschauen, bald den Schlamm der Straßenpfützen. Und du willst dem Manne, der den Spiegel trägt, den Vorwurf machen, er habe keine Moral im Leibe? Es ist der Spiegel, der den Schmutz zeigt, – und du klagst den Spiegel an? Klage doch die Landstraße an mit ihren Pfützen, oder besser noch den Straßenwärter, der es zuläßt, daß sich Tümpel voll verdorbnem Wasser bilden!


2 In der Erstausgabe (Bd. II, 225) steht richtig: Puis-je être plus malheureux? In den späteren Ausgaben fälschlich: ... heureux?


Quelle:
Stendhal: Rot und Schwarz. Leipzig 1947, S. 496-505.
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