Vierzehntes Kapitel.

[116] Fouqués Anerbieten hatte Julian aller Zufriedenheit beraubt, aber er kam zu keinem Entschluß.

»Ach, am Ende fehlt es mir an innerer Kraft!« klagte er sich an. »Ich hätte nicht das Zeug zu einem napoleonischen Soldaten gehabt ... Meinetwegen!« fügte er hinzu. »So soll mich meine Liebelei mit der Quartierwirtin ein wenig entschädigen!«

Zu seinem Glücke stand seine Seele keineswegs im Einklang mit dieser Landsknechtssprache, selbst in dieser nebensächlichen Episode nicht. Er empfand Scheu vor Frau von Rênal: vor ihrem hübschen[116] Kleide. Das war ihm der Vorgeschmack des Pariser Lebens.

Hochmütig, wie er war, wollte er dem blinden Zufall und der Eingebung des Augenblicks nichts überlassen. Auf Grund der Geständnisse Fouqués und etwelcher Aphorismen aus seinem Lieblingsbuche, die ihm einfielen, entwarf er sich einen bis ins einzelne gehenden Feldzugsplan. Und da er, ohne es sich einzugestehen, nicht klar und sicher war, so schrieb er diesen Plan nieder.

Am nächsten Morgen fand er sich einen Augenblick im großen Zimmer allein mit Frau von Rênal.

»Haben Sie eigentlich noch einen andern Namen als Julian?« scherzte sie.

Er wußte auf diese schmeichelhafte Neckerei keine Antwort. Dergleichen war in seinem Kriegsplan nicht vorgesehen. Ohne diesen dummen Plan hätte er bei der Beweglichkeit seines Geistes gewiß sofort eine Erwiderung gefunden, und das Überraschende der Frage hätte sein Impromptu um so reizvoller gemacht. So aber war er unbeholfen, und im Spiegel der Selbstbetrachtung vergrößerte sich diese Unbeholfenheit noch. Frau von Rênal freilich verzieh sie ihm im Moment. Sie hielt sie für ein Kennzeichen seiner Aufrichtigkeit und war entzückt darüber. Offenherzigkeit, das war es, was diesem jungen Menschen, den man allgemein als sehr klug rühmte, ihrer Meinung nach fehlte. Auch Frau Derville hatte mehrmals gesagt: »Deinem kleinen Hauslehrer traue ich nicht über den Weg. Ich finde, er hat immer etwas zu überlegen und handelt nur aus Berechnung. Er ist heimtückisch.«[117]

Julian war unglücklich und tief gedemütigt, daß er Frau von Rênal nicht zu antworten vermocht hatte. »Ein Mann meines Schlages«, sagte er sich, »muß diese Scharte wieder auswetzen!« Und er befahl sich, Frau von Rênal einen Kuß zu geben.

Als sie zusammen das Zimmer verließen, benutzte er diesen Augenblick. Es war der unpassendste Moment. Keins von beiden hatte eine angenehme Empfindung. Obendrein handelte er im höchsten Grade unvorsichtig. Es fehlte nicht viel, so hätte man den Vorfall gesehen. Frau von Rênal hielt Julian für toll. Sie war erschrocken und vor allem gekränkt. Valenod und seine alberne Verliebtheit kam ihr in den Sinn.

»Was stünde mir bevor, wenn ich einmal allein mit ihm wäre?« fragte sie sich. Sie gewann ihre ganze Tugendsamkeit wieder. Ihre Liebe war verflogen. Fortan richtete sie es ein, daß immer eins der Kinder bei ihr blieb.

Der Tag kam Julian langweilig vor. Er verbrachte ihn damit, seinen Verführungsplan in ungeschickter Weise zu verfolgen. Jedesmal, wenn er Frau von Rênal anblickte, hatte er eine Absicht dabei. Aber er war doch nicht Narr genug, um nicht einzusehen, daß es ihm nicht glückte, ein Herzenseroberer zu sein, geschweige denn ein Verführer.

Frau von Rênal staunte ein über das andre Mal, ihn so linkisch und dreist zugleich zu sehen. »Die täppische Verliebtheit des Gelehrten!« dachte sie zu guter Letzt und freute sich nun namenlos darüber. »Ich möchte beinahe glauben, daß meine Rivalin ihn nicht geliebt hat.«[118]

Nach dem Frühstück ging Frau von Rênal in den Salon, um den Besuch des Herrn Charcot von Maugiron, des Landrats von Bray, zu empfangen. Sie arbeitete an einer Stickerei im Rahmen. Frau Derville saß neben ihr. Bei dieser Gruppierung, am hellichten Tage, fand es Julian für angebracht, seinen Fuß vorzurücken und Frau von Rênals hübschen Halbschuh zu berühren. Augenscheinlich hatten der niedliche Fuß und die durchbrochenen Strümpfe der Hausherrin auch den Blick des galanten Landrats auf sich gezogen.

Frau von Rênal bekam einen Todesschreck. Im Moment ließ sie Schere, Wollknäuel und Sticknadel fallen, so daß Julians Bewegung allenfalls für einen ungeschickten Versuch gelten konnte, die Schere, die er hatte fallen sehen, mit dem Fuß aufzufangen. Glücklicherweise brach die dünne kleine Schere aus englischem Stahl entzwei, und Frau von Rênal beklagte immer wieder, daß Julian ihr nicht rascher zur Hand gewesen sei.

»Sie haben doch vor mir gesehen, daß sie fiel!« warf sie ihm vor. »Statt mir im blinden Eifer den Fuß zu zertreten, hätten Sie die Schere aufhalten sollen!«

Der Landrat ließ sich täuschen. Nicht so Frau Derville. »Der hübsche Bursche hat recht törichte Manieren«, dachte sie bei sich. Der gute Ton der Provinz duldet dergleichen Vertraulichkeiten nicht.

Sobald sich die Gelegenheit bot, flüsterte Frau von Rênal Julian zu: »Seien Sie vernünftig! Ich befehle es Ihnen!«

Julian sah seine Ungeschicklichkeit ein und bekam schlechte Laune. Lange grübelte er darüber nach, ob[119] er sich über die Worte: Ich befehle es Ihnen! ärgern müsse oder nicht. In seiner Torheit geriet er auf den Gedanken: »Wo es sich um eine pädagogische Frage hinsichtlich der Kinder handelt, dann kann sie mir ›Ich befehle‹ sagen. In Dingen der Liebe jedoch muß sie uns beide für gleichgestellt erachten. Liebe ohne Gleichheit ist ein Unding!« Nun verlor er sich darin, Aussprüche hierüber auszudenken. Voll Bitternis wiederholte er sich einen Vers Corneilles, den ihm Frau von Rênal vor ein paar Tagen einmal hergesagt hatte:


»Die Liebe

erzeugt die Gleichheit, doch sie sucht sie nicht.«


Julian war darauf versessen, den Don Juan zu spielen: er, der noch nie eine Geliebte gehabt hatte. Er war den ganzen Tag über halb wahnsinnig. Ein einziger Gedanke beherrschte ihn. Zerfallen mit sich selbst wie mit Frau von Rênal, graute es ihm vor dem Abend, wo er im Garten sitzen würde, ihr zur Seite, im nächtlichen Dunkel.

Er meldete Herrn von Rênal, er wolle nach Verrières gehen, zum Pfarrer. Gegen Abend, nach Tisch, brach er auf und kehrte erst spät in der Nacht zurück.

In Verrières fand er den Pfarrer Chélan im Umzuge begriffen. Man hatte ihn endlich in der Tat abgesetzt. Vikar Maslon trat an seine Stelle. Julian war dem guten alten Mann behilflich. Dabei fiel ihm ein, seinem Freunde Fouqué einen Brief zu schreiben. Der unbezwingliche Drang, Geistlicher werden zu wollen, hätte ihn im ersten Augenblick daran gehindert, seinen freundschaftlichen Vorschlag anzunehmen. Jetzt aber, wo er eben ein so überzeugendes Beispiel von Ungerechtigkeit[120] vor Augen habe, jetzt sähe er ein, daß er im Leben weiterkommen werde, wenn er auf den geistlichen Stand verzichte.

Julian bildete sich ein, sehr schlau zu handeln, wenn er die Maßregelung des Pfarrers benutzte und sich die Hintertür, doch noch Kaufmann zu werden, offen hielt für den Fall, daß seine hochfliegenden Pläne am nebeligen Gestade des nüchternen Menschenverstandes scheitern sollten.

Quelle:
Stendhal: Rot und Schwarz. Leipzig 1947, S. 116-121.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Rot und Schwarz
Rot und Schwarz
Rot und Schwarz: Chronik aus dem 19. Jahrhundert Roman
Rot und Schwarz: Chronik aus dem 19. Jahrhundert
Rot und Schwarz (5824 796).
Rot und Schwarz: Zeitbild von 1830 (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Zwei Schwestern

Zwei Schwestern

Camilla und Maria, zwei Schwestern, die unteschiedlicher kaum sein könnten; eine begnadete Violinistin und eine hemdsärmelige Gärtnerin. Als Alfred sich in Maria verliebt, weist diese ihn ab weil sie weiß, dass Camilla ihn liebt. Die Kunst und das bürgerliche Leben. Ein Gegensatz, der Stifter zeit seines Schaffens begleitet, künstlerisch wie lebensweltlich, und in dieser Allegorie erneuten Ausdruck findet.

114 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon